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Ende des Pazifismus
Japans sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel

Die japanische Regierung unter Premierminister Shinzo Abé hat beschlossen, die pazifistische Nachkriegsverfassung neu zu interpretieren: Künftig soll Japan an der Seite von Verbündeten wie den USA Krieg führen können, selbst wenn das eigene Land nicht direkt angegriffen wird.

Von Jürgen Hanefeld |
    Proteste gegen Ministerpräsident Shinzo Abe.
    Proteste gegen Ministerpräsident Shinzo Abe, der sagt: "Japan beteiligt sich nicht an einem Krieg, um ein fremdes Land zu verteidigen" (dpa/EPA/Franck Robichon)
    Angeblich waren es 40.000, die am Vorabend der Entscheidung vor dem Amtssitz des Premierministers demonstriert haben, vielleicht auch nur die Hälfte. Doch für ein Land, dessen Bürger als besonders brav und zurückhaltend gelten, waren es viele, die der Regierung noch einmal klarmachen wollten, dass sie die Kehrtwende Japans in der Militärpolitik ablehnen.
    Es sind überwiegend ältere Leute, die gegen die Aushöhlung des Artikels 9 der japanischen Verfassung protestieren, "Verfassungsschützer" im Wortsinne, die sich noch an die Trümmer erinnern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, an die seelischen und materiellen Verwüstungen im einzigen Land der Welt, das mit Atombomben zur Raison gebracht wurde.
    Heute geht es den meisten gut, was sie aber auch auf den Frieden zurückführen, der seit Ende des Krieges in Japan Verfassungsrang hat. Artikel 9 ist einmalig unter den Grundgesetzen der Welt:
    "Das japanische Volk verzichtet für alle Zeiten auf den Krieg als souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, um internationale Konflikte zu lösen."
    Pazifismus gilt als überholt
    Wie jede demokratische Verfassung kann natürlich auch diese verändert werden. Zum Beispiel, weil man den Pazifismus, der hier zum Ausdruck kommt, für überholt hält. Schließlich haben sich sowohl Japan als auch die geopolitische Lage in den zurückliegenden rund 70 Jahren radikal gewandelt. Dies ist das wichtigste Argument derer, die das Vorgehen von Regierungschef Shinzo Abe verteidigen - wie Politikprofessor Ken Jimbo:
    "China wird immer stärker, und der Schutz Japans durch die USA nimmt im Vergleich dazu ab. Das bedeutet, Abe muss die strategischen Beziehungen neu knüpfen - nicht nur mit den USA, auch mit Australien, Indien und Südostasien, mit der NATO und der EU und sogar mit Russland."
    Tatsächlich ist der Druck aus China nicht nur auf Japan, sondern auf die gesamte Region, massiv. China beansprucht ein Seegebiet, das von den eigenen Küsten zwar ziemlich weit entfernt liegt, aber sozusagen bis an die Strände der Nachbarn reicht. Betroffen sind in erster Linie die Philippinen und Vietnam, aber auch Japan. Die unbewohnten Senkaku-Inseln, die Tokio zum japanischen Territorium erklärt hat, sind ein weithin bekannter Zankapfel.
    Schlagkräftige Armee mit 240.000 Soldaten
    Allerdings ist Japan nicht unbewaffnet. Die sogenannten "Selbstverteidigungskräfte" haben sich zu einer modernen, schlagkräftigen Armee mit 240.000 Soldaten entwickelt. Japan verfügt über Kampfflugzeuge, 3 Flugzeugträger, mehr als 40 Zerstörer und die angeblich besten konventionell angetrieben U-Boote der Welt. Doch bisher durfte diese Streitmacht - von ein paar internationalen Friedensmissionen abgesehen - nur zur Verteidigung des eigenen Landes eingesetzt werden. Künftig folgt Japan dem Konzept der "kollektiven Selbstverteidigung", es darf Verbündeten zu Hilfe kommen. Um Skeptiker zu beruhigen, gab sich der Premierminister bei der Vorstellung seiner historischen Kehrtwende betont defensiv:
    "Dies ist keine abstrakte Diskussion, sondern sie betrifft die Sicherheit und den Alltag aller Japaner. Das Recht auf kollektive Selbstverteidigung muss auf Fälle beschränkt bleiben, in denen es keine andere Möglichkeit gibt."
    Welche Fälle das sind, liegt allerdings im Ermessen der Regierung. Abe versprach zwar, im Ernstfall das Parlament in seine Entscheidungen einzubeziehen. Aber das ist ebenso wenig gesetzlich festgeschrieben wie seine Beteuerung, die Soldaten würden eigentlich nur als Friedenstruppe eingesetzt:
    "Sie werden niemals an Kampfhandlungen wie denen im Golfkrieg oder im Irak teilnehmen. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Japan könne in Kriege hineingezogen werden, um andere Staaten zu schützen. Der wahrscheinlichste Effekt ist, dass Japan selbst besser vorbereitet ist auf Angriffe von außen. Es geht um Abschreckung."
    Regierung kann den Krieg erklären
    Was seine Kritiker umtreibt, ist nicht so sehr die Befürchtung, Abe wolle morgen einen Krieg vom Zaun brechen. Aber die Möglichkeit dies zu tun ist plötzlich gegeben, und zwar ohne irgendeine Kontrolle. Nicht mal das Parlament muss zustimmen, wenn die Regierung den Krieg erklärt.
    Jiro Yamaguchi, Politikprofessor und Jurist, erinnert an das deutsche Ermächtigungsgesetz:
    "Abes Politik zielt darauf, dass alle Macht in einer Hand liegt. Das ist nichts Geringeres als die Zerstörung der Demokratie! Mit dem "Ermächtigungsgesetz" gab es in Deutschland wenigstens noch ein Gesetz. Shinzo Abe gründet seinen unbeschränkten Machtanspruch allein darauf, gewählt worden zu sein. Im Grunde aber handelt er, wie damals die Nazis."
    Natürlich unterstellt der Professor dem Regierungschef nicht, einen Weltkrieg zu planen. Aber allein "kollektive Selbstverteidigung" an der Seite der USA könne durchaus bedeuten, dass japanischen Soldaten irgendwo im Nahen Osten zum Einsatz kommen, und Japan sich damit selbst zum Ziel von Vergeltungsangriffen macht.
    Jiro Yamaguchi ist kein einsamer Rufer in der Wüste. Mit ihm lehnt die große Mehrheit der Japaner das ab, was die Regierung mit ihrer orwellschen Wendung als "pro-aktiven Pazifismus" bezeichnet. Die Regierung begehe keinen Verfassungsbruch, sagt Shinzo Abe. Der Leitartikler der renommierten Tageszeitung "Japan Times" schrieb dazu vier Worte: Das ist eine Lüge.