Als Kriterium für die Qualität von Kunst spielt der Nationalbegriff in Deutschland heute keine Rolle mehr. Aber es gibt durchaus ein offenkundiges Verlangen nach einem – im allgemeinsten Sinn – identitären Verhältnis zur Kunst. Und das hat oftmals damit zu tun, welche Bilder man in seiner Kindheit und Jugend gesehen hat – das heißt, nach einer Kunst, die sich mit Erfahrungen der eigenen Herkunft verbindet. Manche sagen auch, dass diese Kunst ein mehr oder weniger kollektives Gedächtnis repräsentiert.
Dresdner Bilderstreit
Vor zwei Jahren beim sogenannten Dresdner Bilderstreit ging es zum Beispiel um solche Bilder, die gerade viele ältere Ostdeutsche noch aus ihrer Jugendzeit kennen und liebgewonnen haben, wie Walter Womackas Gemälde "Am Strand", obwohl der Künstler heute eigentlich als Staatskünstler der DDR kaum noch so vorbehaltlos gezeigt wird. Diese Erinnerung muss auch gar keinen illiberalen Hintergrund haben. In Westdeutschland schätzen viele nach wie vor die Malerei von Emil Nolde, obwohl dieser ein bekennender Antisemit war. Und gleichauf schätzen sie van Gogh oder den frühen Picasso. Die gehören mittlerweile genauso zum "deutschen" Kulturbegriff wie Max Beckmann oder Caspar David Friedrich.
Etwas anderes ist es, wenn diese freie, persönliche Identifikation zur Ideologie umgedreht wird, zur Pflicht – wie zum Beispiel in Julius Langbehns seinerzeit in etlichen Auflagen erschienenem Buch "Rembrandt als Erzieher". In dem ging es 1890 um eine völkische Wiedergeburt aus dem Geist der Kunst, gegen Wissenschaft, Uniformismus und überhaupt alles Moderne. Und Rembrandt wurde als "niederdeutscher Maler" zum Vorbild für kulturelles Deutschtum erkoren. Kulturelles Reinheitsdogma unter Verwendung von Kunst durchzusetzen, war damals schon infam und ist es unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen umso mehr.
Unübersichtlichkeit regionaler Themen
Die viel beschworene globale Uniformität der Gegenwartskunst, gegen die sich viele der heutigen Forderungen nach einer neuen Nationalkunst richten, bedarf einer genaueren Betrachtung: Zwar stimmt es sicherlich, dass traditionelle Kunstformen weltweit auf dem Rückzug sind. Aber vielfach dient gerade die international anschlussfähige Ästhetik auch neuer Kunstformen dazu, ganz spezifische Themen des Landes oder der Kultur international zu vermitteln. Pop Art in Japan reflektierte ganz andere kulturelle Zusammenhänge als Pop Art in den USA oder in Großbritannien, auch wenn diese die japanische Pop Art sicherlich inspiriert haben. Genau besehen verschwinden die regionalen Eigenheiten also gar nicht unbedingt, sondern es gibt eher ein riesiges Überangebot an Themen; viel mehr, als man als Einzelner verarbeiten kann. Und oft ist es gerade diese neue Unübersichtlichkeit und nicht die vermeintliche globale Uniformität, die viele, die den Rückzug auf nationale Klischees fordern, stört. Etwas anderes ist es mit der tatsächlichen Vernichtung lokaler Traditionen und Kulturen etwa in Ostasien oder Afrika durch die globale Wirtschaft. Aber gerade dagegen treten ja viele Künstlerinnen und Künstler auch in Widerstand.
Nationale Eigenheiten von Kunst oder Kultur einfach zu leugnen, wäre ebenso oberflächlich. Aber das bedeutet in unserem Fall nicht, dass bestimmte Formen von Kunst "typisch deutsch" sind und nicht zum Beispiel auch in anderen Ländern hätten gemacht werden können. So etwas führt dann zu akademischen Absurditäten, wie der, dass der "italienische" Dürer, der nach eigenem Bekunden viel von Raffael gelernt hat, von der "deutschen" Kunstgeschichte weniger anerkannt wird als der Dürer vor seiner Italienreise.
Deutsche Kunst nach Auschwitz
Und für die Gegenwart kann man natürlich feststellen: Kulturelle Eigenheiten ergeben sich in Deutschland natürlich aus dem schwierigen kulturellen Selbstverständnis nach Auschwitz. Wer sich als Künstlerin oder Künstler aus Deutschland damit auseinandersetzt, tut dies vermutlich etwas anders als einer oder eine aus Polen, aus Russland oder aus Großbritannien. Lebensläufe und künstlerische Positionen etwa von Gerhard Richter, Hito Steyerl, Wolfgang Tilmans sind nolens volens deutlich anders verlaufen als in anderen Ländern. Ein Maler wie Neo Rauch ist im künstlerischen Umfeld der Leipziger Schule ausgebildet worden, die sich zu DDR-Zeiten als Bewahrerin deutscher Kunst verstand – und dies gerade mit Blick auf die sogenannte Westkunst, die als beliebig und internationalistisch galt. Und gar nicht einmal so Wenige im Westen teilten damals diese Ansicht. Kulturelle regionale Eigenheiten, wenn man sie genauer in den Blick nimmt, führen einem nur eins vor Augen: wie widersprüchlich sie sind.