Die Tänzerinnen des achtzehnten Jahrhunderts trugen auf der Bühne noch Schuhe mit kleinen Absätzen. Marie Camargo, die ab 1726 an der Pariser Oper tanzte, soll Schuhe ohne Absätze angezogen haben, um wie die Männer höhere Sprünge ausführen und sicher landen zu können. Hundert Jahre später löste Marie Taglioni als geisterhafte Gestalt in der Titelrolle des Balletts "La Sylphide" Begeisterung aus, in dem sie sich immer wieder auf die Spitzen ihrer Tanzschuhe erhob und lautlos und wie schwebend über die Bühne bewegte.
Doch sich vorzustellen, dass die Romantik den Spitzentanz einsetzte, um ein ätherisches, ungreifbares, idealisiertes Frauenbild zu zeichnen, wäre zu einfach. Die Sylphide ist ein mysteriöses Wesen, das den jungen Protagonisten des Balletts, James, aus der Wirklichkeit entführt. Das hat furchtbare Folgen für ihn: Er verliert das Gefühl für die Realität, er glaubt, er könne dieses Luftwesen besitzen, und verliert und vernichtet sie dadurch. Dass sie eine geflügelte Kreatur ist, ein Fabelwesen, ist wunderschön. Nun konnte das Theater das darstellen, ohne auf Seilzüge und Flugapparaturen angewiesen zu sein. Der Effekt, den der Spitzentanz hatte, muss unglaublich gewesen sein – damals, 1832.
Verstärkte Schuhe
Aus diesen ersten Tänzen besonders virtuoser Ballerinen entwickelte sich über Jahrzehnte eine Technik, die in den klassischen Balletten wie "Der Nussknacker", "La Bayadère" oder "Schwanensee" auch für große Szenen des Corps de Ballet, also des Frauenensembles, eingesetzt wurde. Vieles ist durch den Tanz auf den an der Spitze verstärkten Schuhen möglich. Nur auf Spitze kann man so schnell, leicht und oft hintereinander drehen – in Pirouetten oder in den berühmten Fouettés. Nur auf Spitze – wo das Gewicht senkrecht über dem Fuß ruht – lassen sich diese scheinbar endlosen Balancen halten, kann wie schwerelos vom Partner gedreht, auf dem Fuß stehend gestützt und geführt werden. Beim Stehen auf halber Spitze liegt das Körpergewicht hinter dem Fußballen, über der in der Luft schwebenden Ferse, was naturgemäß viel schwerer zu halten ist.
Barfuß in die Moderne
Mit dem Aufbruch in die Moderne flog der Spitzenschuh dann bei den Ausdruckstänzerinnen in die Ecke. Isadora Duncan glitt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts barfuß durch ihre Walzer. Eine Idee von Natürlichkeit verbreitete sich, die mit den technischen, virtuosen und ästhetischen, den choreographischen Möglichkeiten des Spitzenschuhs unvereinbar scheint.
Die "Ballets Russes" von Sergei Diaghilew, die zwischen 1909 und 1929 den Tanz mit den Protagonisten der modernen Musik und der Malerei zusammenbrachten, setzten den Spitzentanz weiter ein. Denn auch die klassisch geschulten Choreographen der Avantgarde interessierten sich für die Leichtigkeit, die Linien, das Tempo, die Tanz auf Spitzenschuhen ermöglichen. Die dramatische Ausdruckskraft, die Freiheit und Selbstbestimmtheit, die athletische Souveränität heutiger Tänzerinnen auf Spitze beweisen, dass dieser Schuh zwar für zarte, unirdische, wenn auch nicht ungefährliche Wesen erfunden wurde; dass sein Einsatz sich aber mit der Welt, in der er benutzt wird, verändert hat.
Grenzen verschieben
William Forsythe hat ein Abenteuer daraus gemacht, den Tanz aus der harmonischen Zentriertheit ins wilde Off-Balance hineinzutreiben. Die Frauen auf Spitze wirken bei ihm wie Sportlerinnen, Amazonen oder Avatare. Hans van Manens Stücke zeigen die Eleganz der Frauen, ihre erotische Macht, ihre kluge Ironie, ihren beißenden Sarkasmus, ihre Emanzipation – auf Spitze.
Der Spitzenschuh ist wie ein Schlittschuh, ein Rennrad, ein Flugzeug, ein Pferd – ein Instrument, das Phantasien auslöst. Ein Medium, das uns von der Erdenschwere löst, unseren Geschwindigkeitsrausch, unsere Adrenalinsucht erfüllt. Das von dem Traum erzählt, unsere physischen Grenzen hinauszuschieben.