Die Franzosen sagen "Les Marches", wenn sie den Roten Teppich meinen. Also "die Stufen". Klingt gleich feiner, feierlicher, militärischer vielleicht auch, und macht klar, dass wir es mit Hierarchien zu tun haben. Diese Stufen des Roten Teppich sind gewissermaßen der Weg aufwärts bis in den Kinoolymp.
Denn nichts anderes als genau das ist ja die Vorführung auf einer Festivalpremiere "Les Marches" werden auch im Cannes-Trailer gefeiert: Da geht es zur Musik von Saint-Saens' "Karneval der Tiere" die roten Stufen hoch, irgendwann durchbricht der Kamerablick einen Wasserspiegel, und ist dann bald in einem Sternenhimmel. Sehr symbolisch. Auch ein Bild der Evolution, könnte man meinen: von Wasser zum Land. Der Film als Amphibie.
Filmfestivals fallen derzeit aus wie München oder werden ins Virtuelle versetzt.
Die Filmfestspiele von Cannes wurden zunächst verschoben, Venedig wird sich erst im Juni entscheiden.
Beide Filmfestivals - die besten der Welt - haben schon ausgeschlossen, dass sie Online stattfinden.
Im Netz kann man keinen Roten Teppich ausrollen
Es scheint also zentral zu sein, dass gewisse Dinge auch weiterhin analog geschehen. Dieses einzigartige Objekt, den Roten Teppich kann man nicht im Internet ausrollen.
Kino hat etwas mit der Interaktion mit dem Publikum zu tun. Das Defilee auf dem Roten Teppich verkörpert die Aura des Mediums - und sein Fehlen ist ein Verlust der Aura.
Auch wenn der Rote Teppich ganz praktisch auch eine Stolperfalle für stöckelnde Stars ist.
Aber warum ist der Rote Teppich eigentlich rot?
Die materialistische Erklärung hierfür lautet: Rot ist genaugenommen Purpur. Purpur war selten, also teuer; der Farbstoff der Macht und des Geldes. Könige und Kardinäle trugen es, und auch bei Staatsempfängen und Paraden werden Rote Teppiche ausgerollt. Symbolisch wird hier also Kunst als Macht gezeigt und die Macht der Kunst anerkannt.
Die poetische Erklärung hingegen ist folgende: Rot steht für Leidenschaft, Intensität, Liebe und - für Blut. Denn der erste Rote Teppich der Kulturgeschichte findet sich in der "Orestie" des Aischylos. Da rollt die mörderische Gattin Klytemnestra dem Agamemnon bei seiner Rückkehr aus Troja einen Roten Teppich aus.
Der Rote Teppich als Schlachtbank?
Der zögert, geht dann doch, und wird am Gipfel des Roten Teppichs ermordet - eine Analogie zur Götter-Opfergabe, zur Schlachtbank.
Das Rot verdeckt das Blut.
"Nicht im Glücke stolz zu sein" heißt es im Drama, "war stets der Götter Gaben größte." - Opfer sein ist das Gefühl auf dem Roten Teppich.
Rucke di ru, Blut im Schuh...