Jahrtausende lang gehörte das Auswendiglernen heiliger oder profaner Texte, langer Gedichte oder Prosastücke zu jeder Erziehung, genauso wie Lesen und Schreiben. In der Antike zählte "memoria", die Einprägung eines Textes durch bestimmte Techniken, zu den fünf Verfertigungsschritten einer Rede. Aber auch in späteren Jahrhunderten war es Teil der religiösen Praxis und der Ausbildung, übte das Gedächtnis, bereicherte den Wortschatz und gab dem Lernenden die Möglichkeit, Teile des Kanons immer bei sich zu tragen - im Kopf. Generationen von Schülerinnen und Schülern mit der präzisen Wiedergabe von Schillers "Glocke" oder Goethes "Zauberlehrling" zu triezen, mag fragwürdig sein, aber es gibt zahlreiche Dichter, denen dies nichts anhaben kann. Auswendig rezitiert, üben Heinrich Heine, Giacomo Leopardi, Giuseppe Ungaretti, Paul Valéry, Federico García Lorca, Ossip Mandelstam oder Pablo Neruda bis heute eine ungebrochene Faszination aus. In Deutschland verlor die Praxis durch die Reformen des Bildungswesens schon im 19. Jahrhundert an Bedeutung, endgültig in Verruf geriet sie nach 1968.
Einen Text auswendig zu können, im Gedächtnis zu bewahren und ihn damit dem Zugriff von außen zu entziehen, kann lebensrettend sein. Eine der eindrücklichsten Schilderungen findet sich in Primo Levis autobiographischem Zeugnis über seine Auschwitz-Erfahrung "Ist das ein Mensch?" (1947/1958). Hier schildert der Ich-Erzähler, wie er dem jüngeren Mitinsassen Jean mithilfe von Dantes "Göttlicher Komödie" Italienisch beibringt. Auf dem Weg zur Suppenausgabe sagt der Protagonist ihm den berühmten "Gesang des Odysseus" auf und erläutert jede einzelne Terzine. Die Imagination bietet einen Schutzraum - inmitten der Barbarei scheint plötzlich eine Gegenwelt auf. Die beiden KZ-Häftlinge sind immer noch Menschen, weil sie im Besitz der Dichtung sind.