Unter Fortschritt versteht vermutlich jeder etwas anderes. Dass es im Kunstbereich heute eine viel stärkere Förderung von Künstlerinnen gibt als zur Zeit der Weimarer Republik, ist in jedem Fall ein Fortschritt, der auch hart erkämpft werden musste. Die künstlerischen Avantgarden der Weimarer Republik sahen sich aber wiederum selbst schon als fortschrittlich, obgleich damals von einer strukturellen Förderung von Frauen in der Kunst keine Rede sein konnte. Fortschritt hängt als stark vom zeitlichen Kontext ab, und was die einen als Fortschritt sehen, ist für die Anderen Verfall. Das sieht man in der Moderne und auch heute noch deutlich.
Befreiung der Kunst? Oder "Verlust der Mitte"?
Lange wurde Fortschritt in den Künsten ja gerade an stilistischen Merkmalen festgemacht. Doch das macht eigentlich schon seit dem 18. Jahrhundert keinen Sinn mehr. Ein historisches Beispiel: Die riesige Westfassade mit den vielen fast schematischen Steinfiguren gilt als eine der Hauptwerke gotischer Architektur. Am Südportal derselben Kathedrale finden sich aber wunderbar graziös gestaltete Einzelfiguren, die schon weit in die Renaissance vorausdeuten. Diese Grazie hat etwa Bernini in der Barockskulptur bis zur Virtuosität gesteigert. Also ein Fortschritt. Winckelmann im 18. Jahrhundert sagte: Nein, Bernini war für ihn der totale Kunstverderber. Die größte Kunst sei die einfache, archaische Skulptur der frühen Antike, nicht das affektierte Spiel mit Formen. Oder die abstrakte Kunst der Moderne. Für den amerikanischen Kritiker Clement Greenberg war sie die Spitze einer künstlerischen Entwicklung, ja eine Befreiung der Kunst von politischem und herrschaftlichem Dreinreden. Für den österreichischen Kunsthistoriker Hans Sedlmayr war sie fast zur gleichen Zeit Zeichen für einen "Verlust der Mitte", für eine aus den Fugen geratene Gesellschaft. Und irgendwie stimmt beides nicht. Solche weltanschaulichen Stellvertreterdebatten anhand von Kunststilen bringen eigentlich niemanden weiter.
Kunst ist das ganz Persönliche
Wenn Kunst heute nur noch Ware auf dem neoliberalisierten Kunstmarkt ist, sind das Neue und der Fortschritt nicht dann doch auch nur noch Produktverbesserungen, wie, sagen wir, das neue Smartphone von XY? Adornos altes Argument mit der Kulturindustrie, die letztlich dazu führt, dass die Kunst sich von sich selbst entfremdet, indem sie ein Produkt auf dem Kunstmarkt ist, klingt natürlich immer noch sehr entlarvend und eingängig. Allerdings sollte man auch hier genauer hinschauen. Dahinter steht letztlich doch die idealistische Vorstellung von einem Künstler*innentypus, der aus seiner Genialität heraus etwas Neues erschafft und der Welt den Weg weist. Aber glauben wir wirklich, dass Kunst uns höhere Einsichten auf dem Weg zu einer besseren Welt vermittelt? Vielleicht ist jedes Bild doch eher etwas ganz Persönliches, etwas, das nur uns betrifft und nicht die Welt.
Nichts ist selbstverständlich
Es ist ein Fortschritt, wenn Leute, die Bilder oder Texte machen, nicht deshalb von der Ausbildung oder von großen Podien ausgeschlossen werden, weil sie das falsche Geschlecht oder die falsche Hautfarbe haben. Aber schon daran lässt sich sehen und erleben: Nichts ist selbstverständlich, es gibt kein Abonnement, kein universelles Naturgesetz oder Naturrecht, das die Geschichte der Menschheit zu einem höheren Ziel bestimmt. Alles muss immer wieder neu ausgefochten werden. Das lässt sich mit Kunst sehr gut üben. Aber beileibe nicht nur mit Kunst.