Das erste Mal ist für die meisten ein Schock. Da steht ein Mann auf der Bühne und gibt höchste Töne von sich! Warum tut er das? Und wie? Früher gab es doch die Kastraten, denen man im jugendlichen Alter die Hoden entfernt hatte, damit sie im ewigen Stimmbruch blieben oder, genau gesagt, kurz davor. Aber heute? Die Sache ist ebenso einfach wie kompliziert. Tatsächlich gab es vor allem zur Barockzeit einen nachgerade aggressiven Kult um hohe Männerstimmen.
Farinelli war ein Megastar
Ähnlich wie zur Priesterlaufbahn fühlten sich manche jungen Sänger berufen zu einer Karriere als Kastrat, wobei natürlich das Elternhaus und das gesangspädagogische Umfeld viel Einfluss hatten. Es war immer ein Vabanquespiel, denn nach dem Schnitt gab es keinen Schritt zurück - auch wenn die Stimme nicht den Erwartungen und Hoffnungen entsprach. Wer jedoch im gestandenen Alter weiterhin engelsgleich tirilierte und trillerte, wurde zum oft von beiden Geschlechtern umschwärmten Megastar. Farinelli ist das prominenteste Beispiel. Er starb 1782, lange vor den ersten akustischen Aufnahmemöglichkeiten. Er überlebt(e) aber bis in die Gegenwart durch Filme und sogar Opern über und für ihn.
Die Herren ohne Hoden sangen vor allem in der italienischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts viele Hauptpartien, die oft extra für sie geschrieben wurden. Ihren Kolleginnen sollen sie durch größere Kraft und Emphase in der Stimme überlegen gewesen sein. Vor allem aus ethischen Gründen wurden die Kastraten allmählich unbeliebter: Einer der letzten war Alessandro Moreschi, von dem sogar Aufnahmen auf Wachswalze aus dem Jahr 1904 existieren.
Falsett-Technik für Spitzentöne
Wer als Mann auf regulärem Wege höher sang und heute singt, der benutzt meist das Falsett. Gemeint ist mit dieser "falschen" Technik letztlich nur das Sprengen des normalen Tonumfangs. Es geht bis zu einer Oktave nach oben. Wie das gemacht wird, ist dabei höchst individuell; eine wichtige Rolle spielt die Mischung oder Abgrenzung von Kopf- und Bruststimme.
Im vergangenen Jahrhundert wurden viele Paraderollen für Kastraten mit Sängerinnen besetzt. Erst in den 1970er-Jahren kam es wieder in Mode, hoch singende Tenöre (im Fachjargon: Countertenöre) zu besetzen. Auch, weil man damit vermeintlich historisch korrekte Rekonstruktionen schaffen konnte, was natürlich ein Fehlschluss war. In die Nähe der "natürlich-künstlichen" Kastraten kommen allenfalls Sopranisten wie der Venezolaner Samuel Mariño, dessen Stimme in der Pubertät gleichsam hängenblieb.
Gender-Grenzen verschwimmen
Die Faszination für hohe Männerstimmen heutzutage geht sicher darauf zurück, dass Gender-Grenzen zunehmend verschwimmen: Zum Cross-Dressing passt Cross-Singing. Zudem sind gerade in der Neuen Musik Countertenöre sehr beliebt. Auch hier geht es häufig um ein Spiel mit Identitäten, Geschlechterrollen, Übergängen. Der Komponist Peter Eötvös etwa schrieb in seiner Tschechow-Oper "Drei Schwestern" alle Titelpartien für Countertenöre.
Ob man bei einem Händel-Klassiker lieber einen künstlich hochgetunten Herrn oder eine vokal organische Dame hören mag, ist und bleibt reine Geschmackssache. Für manche Opernchefs scheint es jedoch eine Prestigefrage zu sein, wie viele Countertenöre sie besetzen können. Wobei einen vier hohe Herrenstimmen über vier lange Stunden durchaus an die Grenze eines Hör-Nervenzusammenbruchs bringen können!