Die Vierte Wand war nicht immer Teil der Bühnenkünste, sie ist im Grunde nicht mal drei Jahrhunderte alt. Von der Antike bis noch ins 18. Jahrhundert hinein waren nämlich Mischformeln die Regel. Im alten Griechenland war der Chor das Bindeglied zwischen Szene und Publikum, er saß auch gern näher beim Volk als bei den Darstellern, um mit Distanz kommentieren zu können. Solange Theater auf Jahrmärkten stattfand, gab es ohnehin keine Trennung oder bestenfalls gedachte Barrieren, die Spielende von Zuschauenden trennten. Für geschlossene Häuser mit einem Guckkasten als Bühne gab es Stücke, die die Mitwirkung des Publikums dezidiert vorsahen. Sie waren erste Beispiele jener Form von "Immersion", die heute als zentrale Mode und Methode die Durchdringung von Spiel und Wahrnehmung einfordert.
Denis Diderot trennte Spiel und Publikum
Gern auch haben sich Theaterfiguren direkt ans Publikum gewandt, haben gewissermaßen "zur Seite" in die ersten Reihen gesprochen und so das Bühnengeschehen kommentiert. Erst Denis Diderot, der Philosoph der klassischen französischen Kultur, weit vor den Zeiten der Revolution, machte Mitte des 18. Jahrhunderts Schluss damit. Er prägte den Begriff einer "vierten Wand", die Spiel und Publikum grundsätzlich voneinander trennt. Gespielt werden solle so, als wäre da eine Wand, eben die vierte, die sich nicht bewegen ließe. All das, so argumentierte er, sei im Interesse der Eigenständigkeit, der Autonomie des künstlerischen Prozesses. Das galt dann auch für die Theaterautoren. Noch Gerhart Hauptmann sagte gelegentlich von sich selbst, dass er schriebe, als gäbe es kein Publikum, als wäre die "vierte Wand" dicht und die Illusion vom geschlossenen Raum total und komplett.
Mit Bertolt Brecht beginnt die Rückbesinnung. Vor etwa einhundert Jahren öffnete er den Raum zum Publikum und zwar schon dadurch, dass er den Vorhang durch eine schnell auf und zuziehbare "Gardine" ersetzt. Theoretisch begründet er auch neue Haltungen im Spiel. Brechts Vorstellung vom "epischen", also erzählenden und auch in der Aktion des Ensemble kommentierenden Spiels wandelt das Theater fundamental.
Heute gibt es unterschiedlichste Praktiken, die die Vorstellung von der "vierten Wand" brechen: In der räumlichen Umgruppierung von Szenerie, Ensemble und Publikum, in der spielerischen Interaktion zwischen Zuschauenden und Darstellenden bis hin zur "Immersion" der Gegenwart. Aber auch Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner verwenden viel Phantasie darauf, die imaginäre Wand zu durchbrechen. In den Bühnenkreationen des zu früh verstorbenen Raumgestalters und Regisseurs Herbert Wernicke etwa setzte sich oft der Zuschauerraum architektonisch auf der Bühne fort. Auch Christoph Marthalers Leib-und-Magen-Bühnenbildnerin Anna Viebrock erfand "reale" Raum-Phantasien, in denen keine "vierte Wand" stehen konnte.
In Zeiten von Corona
Heute würde kaum jemand mehr über diese Wand nachdenken, wenn nicht das Virus uns dazu zwingen würde: Wer, wie neulich in Göttingen im Auto sitzt und in der Theatergarage Szenen vorgespielt bekommt, wird gleich durch mehrere "vierte" Wände vom Theatervorgang getrennt.
Für das Kino und für alle weiteren elektronisch generierten Medien ist die "vierte Wand" übrigens existenziell und nicht zu überwinden, sozusagen unkaputtbar, weil die Begegnung des Publikums mit realen Menschen hier nicht vorgesehen ist. Leinwand oder Bildschirm bilden immer eine Wand und es bleibt eine Pointe, wenn elektronisches Spiel mit dem Publikum zu kommunizieren scheint oder gar wie bei Woody Allen die Schauspielerinnen und Schauspieler aus der Leinwand heraus treten. So zu sehen in: "The Purple Rose of Cairo". Was auch immer die Darsteller-Menschen aber tun, hier bleiben sie im Kasten. Und der hat vier richtige Wände.