Etwas, das zeitlos ist, generationenüberspannend Zustimmung findet und Themen von allgemeiner menschlicher Bedeutung behandelt - etwas Großartiges und Populäres - das wäre eine mögliche Definition des Begriffs "Klassiker". Im Tanz ist es etwas anders. Forschungen haben ergeben, dass die Auswärtsdrehung der Beine aus den Hüften - das sogenannte "En dehors" des klassischen Tanzes - auf antike griechische Tanzbewegungen zurückzuführen ist. Die sogenannte "Danse d'École" entwickelt sich zur akademisch gelehrten Kunst von 1661 an. Aber unter "Ballett-Klassiker" oder "Klassischem Ballett" versteht man allgemein die großen Werke der Tanzgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Es sind zeitlich nach der musikalischen Klassik, deren Epoche mit Komponisten wie Mozart, Haydn und Beethoven das Jahrhundert von 1730 bis 1830 umfasst, entstehende Werke. "Giselle", Adolphe Adams Ballett nach einem Märchen von Heinrich Heine und einem Libretto von Théophile Gautier, choreografiert Jean Coralli 1841, also bereits in der Epoche der Romantik.
Märchenhafte Stoffe, zeitlose Themen
Die Romantik erfüllt sich im Ballett auf hinreißende Weise. Der sich vervollkommnende Spitzentanz ist das ideale Medium, um Themen wie die Metamorphosen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Geist darzustellen, sowie die Übergänge zwischen Leben und Tod verschwinden zu lassen - zwischen Traum und Wirklichkeit, Realität und übernatürlichen Vorgängen.
1892 und 1895 entstehen dann Lew Iwanows und Marius Petipas berühmte Tschaikowsky-Ballette "Der Nussknacker" und "Der Schwanensee". Es sind märchenhafte Stoffe, die aber zeitlose Themen wie den Übergang zum Erwachsensein, Konflikte zwischen Sehnsucht und Verantwortung oder die Konfrontation mit der Macht der Sexualität behandeln. Zugleich enthalten sie Choreografien, die allein tänzerische Themen entfalten. Die Musik dieser Ballette macht sie unsterblich. Es sind aber auch Werke, in denen Stoffe erst durch die Verwandlung in ein Ballett zum Klassiker werden.
Anders als in der Oper, wo eine Partitur interpretiert wird und eine Inszenierung jedes Mal anders ausfällt, gibt es im Ballett Änderungen an der Partitur der Klassiker - denn sie werden durch Überlieferung weitergegeben. Erst seit zwei Jahrzehnten geht man auf die Originalversionen zurück und rekonstruiert sie nach den Notationen.
Viele Ballett-Klassiker gibt es als Oper und als Theaterstück. Häufig gehen sie auf literarische Vorlagen zurück. Darin finden sich Anschlüsse und Überschneidungen mit der Tanzwelt. Klassiker der Moderne sind etwa "Onegin" von John Cranko, "Romeo und Julia" von Fredrick Ashton oder George Balanchines "Sommernachtstraum". Die Zeiträume der Kanonbildung im Tanz weisen also Asynchronitäten auf. Viele russische Klassiker aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen im Westen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufführung.
Im 20. Jahrhundert wird der Kanon immer reicher
Eines der ältesten heute getanzten Werke ist "La Fille mal gardée" von 1789. Allerdings ist seine schönste Version eine, die Fred Ashton 1959 schuf. Im 20. Jahrhundert wird der Kanon reicher und reicher. George Balanchines Neoklassik und Merce Cunninghams abstrakte barfüßige Meisterwerke zählen ebenso dazu wie Lucinda Childs oder Trisha Brown.
Zu den Klassikern unserer Zeit würde man Pina Bausch oder William Forsythe zählen. Ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den "Ballets Russes" gibt es wieder engere Verbindungen zwischen den Kunstwelten - etwa die Performancekünstlerin Marina Abramovic mit dem Modedesigner Riccardo Tisci und den Tänzern Damien Jalet und Sidi Larbi Cherkaoui - oder auch Cherkaoui mit Beyoncé oder Jalet mit Madonna. Es gibt Michael Laub, dessen Werk stark vom Film inspiriert ist. Kanon bildet sich an den Rändern immer um. Erst der historische Abstand zeigt, ob aus den zeitgenössischen Klassikern solche für die Ewigkeit werden.