Kolonialarchitektur ist kein Stil, sondern eine Haltung, ein Symbol, wer die Macht hat, wer sie beansprucht und diesen Anspruch auch wenigstens im Baubereich durchsetzen kann.
Auf der griechischen Mittelmeerinsel Rhodos etwa ließ Italien zu seiner 1919 begonnenen und 1945 beendeten Kolonialzeit nicht nur die gewaltigen Festungsbauwerke und die Altstadt der Stadt Rhodos restaurieren, sondern auch erlesene Gebäude im Stil des faschistischen Italien errichten. Es gab nämlich, oft ist es lange vergessen, auch in Europa Kolonien und entsprechende architektonische Machtgesten.
Über den Globus verteilte architektonische Machtgesten
Vom britisch beherrschten Irland mit den "englischen" Palastbauten in Dublin oder Belfast über die ebenfalls britisch okkupierten ionischen Inseln Malta und Zypern zu den italienischen Gebieten Albanien und Dodekanes. Aber auch die Sami in Nordschweden oder die baltischen Staaten sehen sich als Opfer imperialistischer Kolonialpolitik, beginnend mit den unter dem russischen Kaiser Nikolaus II. systematisch mitten in Tallinn oder in Riga errichteten Russisch-Orthodoxen Kathedralen oder den Siegesdenkmälern der sowjetischen Roten Armee, die nach der Annexion in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts 1940 und dann der Wiedereroberung 1945 errichtet wurden.
Solche gebauten Machtgesten allerdings können im Lauf der Zeit ihre Bedeutung fundamental ändern: In Tirana wurde vor kurzem trotz heftiger Proteste das Nationaltheater abgerissen, ein Bau aus der italienischen Kolonialzeit von 1937, der inzwischen aber als Symbol einer freiheitlichen Kultur Albaniens galt. In Quingdao / Tsingtau, Sansibar oder Windhoek wird die Architektur der "deutschen Städte" sorgfältig konserviert.
Nationale Selbstfindung mittels Kolonialarchitektur
Das diktatorische Regime in Eritrea legitimiert seine Politik mit dem Verweis auf die Modernisierungsarchitektur der italienischen Kolonialmacht. In Brasilien stehen portugiesische Kolonialstädte auf der Liste des Welterbes. In den USA ist der "Colonial Style" des britischen 18. Jahrhunderts schon seit dem späten 19. Jahrhundert von den Oberschichten gerade in den Südstaaten okkupiert worden, um zu zeigen, wer die Macht im Land hat – und wer nicht: Sklaven und ihre Nachfahren mussten in einfach gezimmerten Hütten leben. In Indien dagegen will Premierminister Modi das Parlamentsgebäude in New Delhi abreißen lassen – nicht, weil es aus der Zeit des Britisch-Indischen Kaiserreichs stammt, sondern weil es ihn an die Architektur der muslimischen Moghul-Kaiser erinnert, die aus der Sicht von Hindu-Nationalisten die Kolonialherrscher vor den Briten waren. Die Gegner von Modi dagegen sehen gerade die Bauten des Raj als Symbole für die freiheitliche, rechtsstaatlich organisierte, säkulare indische Republik, wie die aus der britischen Kolonialzeit hervorging.