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Endlich mal erklärt
Was passiert eigentlich Backstage?

Wer ein Theater besucht, sieht meist nur, was auf der Bühne geschieht. Dabei spielen sich die meisten Dramen dahinter ab - im Backstage-Bereich. Hier werden Kraft, Mut und Selbstvertrauen auf eine harte Probe gestellt. Hier gelten feste Regeln - und es gibt sogar Gespenster.

Von Wiebke Hüster |
Belarussische Tänzerinnen Backstage vor einem Auftritt am Nationalen Akademischen Bolschoi-Oper und Ballett-Theater in Minsk, Belarus, März 2016
Auf der Bühne selbstbewusst - dahinter gar nicht immer: Der Backstage-Bereich trennt die echte von der Theaterwelt. (picture alliance / dpa | Tatyana Zenkovich)
In "The Presentation of Self in Everyday Life" – auf Deutsch: "Wir alle spielen Theater" –, einer soziologischen Studie zum Verhalten von Menschen in unterschiedlichen Öffentlichkeiten, verwendet Erving Goffman als erster Sozialwissenschaftler Begriffe der Theaterwelt: "Die Hinterbühne", schreibt er 1956, "kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewusst und selbstverständlich widerlegt wird." Die Vorderbühne, oder eigentliche Bühne, ist beispielsweise der Speisesaal eines Restaurants – die Küche ihre Hinterbühne.
Der Umgang mit den anderen Anwesenden unterscheidet sich wesentlich: "In der ganzen westlichen Gesellschaft ist eine inoffizielle, eine Hinterbühnensprache, üblich und eine andere für Gelegenheiten, bei denen man sich darstellt. Die Sprache der Hinterbühne schließt ein die Anrede mit dem Vornamen, gemeinsame Entscheidungen, Vulgarität, offene sexuelle Anspielungen, Nörgeln, Rauchen, zwanglose Kleidung, ‚schlampiges‘ Sitzen und Stehen, Verwendung von Dialekt oder Umgangssprache, Murmeln und Schreien, spielerische Aggression und ‚Neckereien‘, Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen in kleineren, aber potentiell symbolischen Handlungen, geringfügige physische Reaktionen wie Summen, Pfeifen, Gummikauen, Rülpsen und Windlassen. In der Vorderbühnensprache fehlt dies alles."

Soziologie des Alltags auf der Bühne

Tatsächlich könnten die Unterschiede zwischen dem Backstage genannten, für die meisten unsichtbaren Bereich und dem, was sich auf der Hauptbühne unter den Augen des Publikums abspielt, größer nicht sein. Mit ihnen eine Soziologie des Alltagsverhaltens aufzubauen, scheint mehr als gerechtfertigt. Im Tanz berichten alle, wie groß die Differenz ist – zwischen dem eben noch die Opernbühne in weit ausgreifenden Spagatsprüngen in Schulterhöhe umrundenden Tänzer und jenem nach Luft ringenden, schweißgebadeten, die Hände auf den Oberschenkeln abstützenden Hochleistungsathleten am Ende seiner Kräfte.
Die noblen, beeindruckenden, souveränen, heldenhaften Gestalten der Ballette des neunzehnten Jahrhunderts: Sie alle verwandeln sich auf der Hinterbühne immer wieder in schmerzgeplagte, keuchende, fluchende, auf dem Boden liegende Besiegte. Doch die Unterteilung in Vorderbühne und Hinterbühne ist keine allein räumlich definierte. In dem Moment, in dem sich der Vorhang nach einer Premiere schließt, verwandelt sich die ganze Bühne mitunter: Jubelnd schreit das ganze Ensemble befreit und überglücklich auf, denn die Premiere ist überstanden. Und wo eben noch Albrecht die tote Giselle betrauerte, umringen Zuschauer die Tänzer, werden Reden gehalten und Techniker gelobt und Champagnergläser umhergereicht.
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Mystische Verwandlungen

Vor der Vorstellung ist Backstage der Bereich mystischer Verwandlung. Hier vollzieht sich die Transformation von Sergej Polunin in den Prinzen Albrecht, von Swetlana Zakharova in den Feuervogel. Und weil diese Verwandlung geheimnisvollen Gesetzen gehorcht und vom Misslingen bedroht ist, ist der Backstage Bereich auch der, in dem man sich auf den Übertritt in das Gebiet vorbereitet, in dem die strengen Gesetze gelten: nicht rauchen, nicht pfeifen, nicht mit Bierflaschen herumlaufen.
Das Tanztheater bezieht einen großen Anteil seiner Anekdoten aus dem Vorgang, Backstage-Verhalten offen auszustellen, es zu thematisieren – also die Geheimnisse der Theaterwelt zu veröffentlichen. Was nach dem alten Konzept der Komödie funktioniert, das Hohe, Erhabene, mit dem Derben, Niedrigen, Rohen, Banalen zu konfrontieren.
Backstage ist der Bereich, in dem Tänzer sich abtrocknen, Wasser trinken, koksen, Sex haben, sich umziehen, sich aufwärmen, dehnen. Es ist der Ort, an dem das Lampenfieber am höchsten steigt, der Ort, an dem in das Bewusstsein einsinkt, dass man vor dem größten Triumph steht oder eine furchtbare Niederlage zu verkraften hat. Backstage begegnet man den ersten Menschen, die das miterlebt haben, und muss ihnen in die Augen schauen – oder kann ihnen um den Hals fallen. Die Atmosphäre in den Gassen ist so angespannt, dass man möglichst lange in der Garderobe bleibt. Das New York City Ballet ist die einzige Company in der Welt, bei der die Kostüme backstage stehen und sich alle für ihren Auftritt dort ankleiden müssen.

Adrenalin und Gespenster

In den Gassen stehen auch viele Tänzer, die gerade nichts zu tun haben, um berühmte Kollegen zu beobachten. Am unbeschwertesten ist dieser Beobachterposten in der Kindheit zu beziehen, wenn man zwar in einer Aufführung mittanzen darf, aber die Verantwortung für ihr Gelingen noch gar nicht spürt.
Ist die Bühne der Ort, an dem das Adrenalin so durch dein Blut rauscht, dass Schwerkraft, Schmerzen und alle Restriktionen dich nicht beeinflussen, dann ist backstage der Bereich, an dem du dich vorher selbst überzeugen musst, dass diese tausende von Menschen dich sehen wollen, und an dem du hinterher damit klarkommen musst, dass der Adrenalinspiegel rapide sinkt und alles Verdrängte zurückkehrt. Weil sich hier so viel in so dicht gedrängter zeitlicher Abfolge ereignet, ranken sich so viele Legenden um diesen Ort. In alten Theatern wie den Opernhäusern von Manchester, Liverpool oder Leeds werden Geistergeschichten erzählt. Die Gespenster, die Phantome der Oper gehen natürlich backstage umher, im Halbdunkel der Hinterbühne.