Was ist zuerst da, der Tanz oder die Musik? Diese Frage beantwortete der große amerikanische Dichter und Tanzkritiker Edwin Denby in einer Vorlesung in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit einer Ursprungserzählung. Der Tanz sei entstanden aus dem Impuls, dem Klang der Trommel zu antworten. Was zwischen Tanz und Musik geschah, zwischen Tänzern und Musikern, sei Kommunikation - Verständigung darüber, nicht allein zu sein auf der Welt, in der Nacht, mit der menschlichen Existenz.
Aus den rituellen Zusammenhängen löst sich der Tanz über die nächsten Jahrhunderte zwar nie ganz; aber mit seiner Akademisierung im 17. Jahrhundert am französischen Hof verwandelt er sich in eine Theaterkunst. Musik und Tanz gehen hier eine enge Verbindung zu ganz bestimmten Zwecken ein. Als eine Allianz der Macht und der Mächtigen um den "Roi Soleil", den "Sonnenkönig" herum - Ludwig XIV. hatte als Vierzehnjähriger in dem "Ballet royal de la Nuit" die zentrale Rolle der aufgehenden Sonne getanzt - werden beide Künste harmonisch verbunden.
Emanziptaion von der Musik
Das neunzehnte Jahrhundert macht das Ballett zu einer Kunst von zentraler Bedeutung. Die Pariser Romantik und dann die St. Petersburger Klassik sind die ersten Anzeichen eines Emanzipationsprozesses des Tanzes von der Musik. Die drei berühmtesten Ballette sind auch von einem der größten Komponisten geschrieben worden, von Peter Iljitsch Tschaikowsky: "Schwanensee", "Dornröschen" und "Der Nußknacker". Wundervolle Musik, die sich weit über viele Gebrauchsmusik und Collagen für Ballette des neunzehnten Jahrhunderts erhebt.
Der Ballettmeister, wie die Choreographen damals heißen, ist Marius Petipa – und er gibt detailgenau und bis auf den Takt präzise vor, welche musikalischen Längen er für welche Variationen braucht. Das hängt auch damit zusammen, dass sich hinter den märchenhaften Stoffen und ihren poetischen und dramatischen Handlungsanteilen das wahrhaft künstlerische, ästhetische Interesse des Choreographen am Erfinden von Schritten und Bewegungen entfaltet.
Alles ist Choreographie
Im zwanzigsten Jahrhundert gibt es zwei große Veränderungen in der Beziehung von Komponisten und Choreographen. Die eine beruht auf der technischen Reproduzierbarkeit der Musik, um es mit Walter Benjamin zu sagen. Die andere auf der selbstbewussten Inanspruchannahme des Tanzes, alle musikalischen Formen choreographieren zu wollen – bis hin zu John Neumeier, der sakrale Musik wählt.
Tote Komponisten können sich nicht wehren – anders als Igor Strawinsky, der sich 1913 bei der Uraufführung seiner Komposition "Le Sacre du Printemps" in der Choreographie von Vaclav Nijinsky sehr aufregt und mit dessen hinreißend moderner Gestaltung der Polyrhythmik so gar nicht einverstanden ist. Hier ist ein Dritter, der das Verhältnis von Choreographen und Komponisten kitten muss – der Impressario der "Ballets Russes", Sergej Diaghilew.
Tanz strukturiert Zeit
Musik vom Band spielen zu lassen, erlaubt es dem Bühnentanz weltweit, unabhängig von der Verfügbarkeit von Orchestern und Solisten, auf Kompositionen zuzugreifen. Der Tanz des zwanzigsten Jahrhunderts nimmt sich jede Musik, auch symphonische, auch sakrale, Rockmusik, Punk und Stille.
Die Art und Weise, wie der Tanz Zeit strukturiert, sie langsamer oder schneller verstreichen läßt, verzögert, beschleunigt, anhält, aufhebt: All das sind ästhetische Verfahren, zu deren Beherrschung der Tanz eigene Mittel ersonnen hat. Ist in jeder Choreographie die tänzerische Zeit identisch mit der musikalischen? Natürlich nicht. Die lange Geschichte der Schwesterkünste enthält alle Möglichkeiten - von Tschaikowsky und einer illustren Reihe von Ballettkomponisten, die exakt jene Anzahl Takte schrieben, um die ihre Ballettmeister sie ersucht hatten, über George Balanchines und Igor Strawinskys strahlenden harmonischen Sternenkosmos. Bis hin zu John Cage und Merce Cunningham, die Musik und Tanz in absoluter Unabhängigkeit entstehen ließen und erst bei der Premiere zusammenführten.
Wie auch immer konfliktreich oder harmonisch sich die Zusammenarbeit von Choreographen und Komponisten gestaltet: Idealerweise hört man die Musik genauer, begreift sie besser, wenn zu ihr getanzt wird. Das Hinhören aber offenbart auch, ob ein Choreograph einer Musik gewachsen ist, sie erfüllt – oder ob er sie verfehlt, oder sogar an ihr scheitert.