Mitte Juni 2020 ging das "Impulse"-Festival zu Ende, normalerweise das Gipfeltreffen des freien Theaters aus dem deutschsprachigen Raum und live zu erleben auf den Bühnen in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr. Diesmal hat es zwar nur im Internet stattgefunden, aber trotzdem fühlt sich die sogenannte "freie Szene" auf diesem Festival repräsentiert wie nirgends sonst. Aber wer ist das eigentlich - die "freie Szene"? Und wie frei ist sie wirklich?
Das mag zynisch klingen, ist aber vor allem verzweifelt gemeint: "Frei" ist "freies Theater" in Virus-Zeiten wie diesen vor allem von jeder Art finanzieller Sicherheit und Unterstützung. Wer im Windhundrennen der Solo-Selbständigen die Nase sehr früh sehr weit vorn hatte, hat womöglich Glück gehabt. Im weiten Rund der freien Theatergruppen, und vielleicht auch von deren Spielorten, wird mancher und manche die Pandemie womöglich nicht überstehen. Anders als die Stadt- und Staatstheater, anders auch als die privaten Theater und die sogenannten Produktionshäuser, die sich auf Zuwendungen auch aus kommunalen oder föderalen Fördertöpfen verlassen können.
Antragstellerei ist Teil des Geschäfts
Das nämlich bleibt der fundamentale Unterschied: Stadt- und Staatstheater und zahlreiche Privat-Bühnen (nicht alle!) werden auf unterschiedliche Weise öffentlich finanziert - auch und gerade jetzt. Freies Theater sucht sich die Finanzierung von Projekt zu Projekt. Anträge schreiben ist darum in der freien Szene mindestens so wichtig wie herausragende Theater-Vorstellungen zu erarbeiten - wenn die Antragstellerei nicht sogar wichtiger ist.
Auch auf alle Formen technischer Unterstützung und Ausstattung kann sich freies Theater nicht stützen. Es sei denn, die freie Gruppe ist fest verbunden mit einem der Produktionshäuser, die in vielen Städten fester Ankerpunkt sind für die freie Szene - etwa das HAU- oder Hebbel am Ufer-Kombinat in Berlin, das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt, die Kampnagelfabrik in Hamburg, das Festspielhaus Hellerau in Dresden, PACT Zollverein in Essen sowie das Forum Freies Theater und das Tanzhaus NRW, beide in Düsseldorf. Spielstätten wie der Ringlokschuppen in Mülheim oder die Sophiensæle in Berlin sind ähnlich strukturiert: als Orte für freies Theater.
Selbstausbeutung in den USA
Gelegentlich tauchen übrigens auch die Begriffe "Off"- oder "Off-off"-Theater auf: Amerikanismen, die sich auf die privat oder durch Mäzene und Stiftungen betriebenen Bühnen abseits vom Broadway in New York beziehen, die in Konkurrenz zu den großen Konzern-Theatern stehen. Wer dort "off-off" produziert, hat oft gar kein Geld zur Verfügung: Das Maß an Selbstausbeutung ist in einem Land ohne öffentliche Theater noch weitaus größer als in der freien Szene hierzulande.
Zuhause ist freies Theater in Deutschland oft in umgewidmeten Industrie-Bauten. Selbst die Produktionshäuser atmen ganz viel Industriegeschichte: In der Hamburger Kampnagelfabrik etwa produzierte die Firma Nagel & Kaempp einst Industrie-Kräne; im Frankfurter Mousonturm wurden tatsächlich die Hautcremes der gleichnamigen Marke produziert. Das ist lange her. Auch kleine Bühnen wie das Hamburger Lichthof-Theater oder das Freie Werkstatt-Theater in Köln sind in früheren Fabrikationsstätten daheim. Andere Bühnen der freien Szene nutzen frühere Räume städtischer Verwaltung - wie das Forum Freies Theater in Düsseldorf oder das Theater am Sozialamt in München. Die Berliner Sophiensæle nutzen mehrere Etagen eines Hinterhofgebäudes; das fast ganz ohne öffentliche Unterstützung seit 30 Jahren überlebende Antagon-Theater in Frankfurt ist in alten Lager-Gebäuden in der Nähe vom Güterbahnhof tätig.
Die Freiheit, die die Theater im Namen führen, hat immer zwei Seiten - frei sein wovon und frei sein wozu: Das ist die Frage. Ohne konstante öffentliche Unterstützung agieren die Gruppen natürlich auch frei von bürokratischen Zwängen, müssen sich zugleich aber den durchaus komplizierten Regeln der Antragstellung unterwerfen, wenn's um Geld für eigene Projekte geht. Diese Projekte - und damit die eigenen Ideen - müssen freie Ensembles dann aber auch nicht vor öffentlichen Gremien rechtfertigen. Sie sind im allerkreativsten Sinne "frei" im Bemühen um die Realisierung eigener Ideen. Praktisch alle Neuerungen der vergangenen 50 Jahre in den Bereichen der über "normales" Autoren-Theater hinausgehenden Performance-Kultur verdanken sich den Experimenten der freien Szene.
Freie Szene als Ideen-Pool
Das exklusiv deutschsprachige System der Stadt- und Staatstheater stiftet Struktur wie sonst nirgends auf der Welt. Die freie Szene jenseits davon ist der Ideen-Pool, von dem die Theaterkunst insgesamt profitiert. Noch immer viel zu selten wird diese erneuernde Idee von der Kritik registriert und gewürdigt, auf lokaler Ebene viel öfter als überregional. Aber das Publikum, meist eher jung und voller Neugier auf bisher nicht gesehene Fantasien, ist enorm wichtig für das Überleben freier Gruppen.
Es gibt aber auch Kultur-Regionen, in denen die freie Szene mittlerweile dominiert - Risiken und Nebenwirkungen inklusive. Die Niederlande etwa schafften in den 1970er-Jahren das bis dahin existierende System fester Theater mit festen Ensembles fast ganz ab. Heute sind auch die wenigen verbliebenen Stadttheater häufig auf Reisen, um verschiedene kleinere Häuser mit zu bespielen. Den Kern der Bühnenkunst aber bilden in den Niederlanden freie Gruppen. Und erst vor kurzem ist in der Konsequenz radikaler Kürzungen der Kultur-Aufwendungen in öffentlichen Haushalten drastisch klar geworden, wie zerstörerisch solcherart Sparwahn sein kann.
Das deutsche System sichert umgekehrt zunächst und vor allem die festen Bühnen - und setzt zugleich auf den Überlebenswillen der freien Szene. Gerade in der Corona-Krise wird diese dafür mehr Energie benötigen als je zuvor.