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Endlich mal erklärt
Wie kann man Bildmotive entschlüsseln?

Viele Bilder kann man nicht auf Anhieb verstehen. Auch das meditative Betrachten hilft oft nicht weiter. Man muss sich kundig machen, nachforschen, nachlesen – und stößt dabei auf einen großen kulturgeschichtlichen Fundus.

Von Christian Gampert |
Detail des letzten Abendmahls, links die Apostel Judas, Petrus und Johannes, Christus in der Mitte und die Apostel Thomas, Jakobus der Große und Philippus darstellt in einem Fresko von Leonardo da Vinci (Leonardo da Vinci).
Leonardo da Vincis "Letztes Abendmahl" beeinflusste auch Hollywoodfilme (imago images / Leemage)
So banal es auch klingt: Man sieht nur, was man weiß. Man nimmt etwas wahr, und wenn man es schon kennt, kann man es einordnen. Wenn es aber unbekannt und verwirrend ist, muss man nachforschen und sich kundig machen.
Viele Bilder teilen vordergründig etwas ganz Einfaches mit: Wir sehen eine nackte Frau, also einen "Akt", oder einen Mann mit Halskrause, einen Patrizier des "Goldenen Zeitalters". Mit einiger Schulung werden wir erkennen, wie das Bild gemalt ist: virtuos oder nur mittelprächtig, und ob der Künstler das Objekt besonders vorteilhaft darstellt oder nicht. Wir wollen wissen, aus welchem Zeitalter das Bild stammt und warum es überhaupt gemalt wurde - ob zu religiösen, zu erotischen oder zu repräsentativen Zwecken - in wessen Auftrag es gemalt wurde, vielleicht sogar, wem es gehört.
Aber damit wissen wir immer noch nichts über die Bedeutung des Werkes – abgesehen vielleicht von biblischen Szenen. Aber auch deren pädagogische Darstellung änderte sich über die Jahrhunderte. Es ist wichtig zu sehen, dass die Heiligen, die sich ja eigentlich im Nahen Osten befinden, auf einmal italienische, deutsche, niederländische Züge tragen – und vor allem: durchaus weltliche. Dass aber die heilige Familie immer nach einem bestimmten triangulären Schema dargestellt war, das erst langsam aufgebrochen wurde.
Werbefoto wie die Venus von Cranach
Viele Bilder entschlüsseln sich über die Kenntnis der griechischen und römischen Mythologie, die sie darstellen. Die Mythologie ist auch der Vorwand, überhaupt Nacktheit und Wildheit zum Bild-Thema machen zu können. Und diese Themen pflanzen sich dann fort – bis in die Moderne.
Auf dem Umschlag von John Bergers schönem Buch "Sehen – Das Bild der Welt in der Bilderwelt" sieht man eine nackte Venus von Lucas Cranach von 1532 neben einem Werbefoto für Seife aus dem Jahr 1973. Darauf schäumt sich eine braungebrannte Schöne lustvoll ein – aber ihre Körperhaltung ähnelt auf verblüffende Weise der Venus von Cranach. So etwas zu sehen - darum geht es. Denn viele solcher Körperhaltungen, die Haltungen sogar ganzer Personen-Arrangements ziehen sich durch die gesamte Kunstgeschichte.
Atlas des Bildgedächtnisses
Aby Warburg ist der Kunstwissenschaftler, der das Wandern solcher "Pathosformeln" zwischen den Zeitepochen und auch zwischen den Kulturen am genauesten untersucht hat. In seiner Hamburger "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek" hat Warburg in den 1920er Jahren eine Vielzahl von schwarzen Wänden aufgestellt, auf denen er einzelne Motivgruppen anpinnte. Ziel war ein umfassender Atlas des Bildgedächtnisses.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Das Geheimnis von Warburgs Methode war, dass er völlig unkonventionell vorging. Nur durch intensiven Bild-Vergleich, ohne den etablierten Kanon zu beachten, konnte er erkennen, dass einzelne Motive zwischen verschiedenen Kulturen wandern. Dass aber auch die Darstellungsweisen, die Gebärdensprache, die Personen-Arrangements von einem Zeitalter in ein anderes tradiert werden.
Die Inszenierung von Leonardo da Vincis "Letztem Abendmahl" ist in den repräsentativen Darstellungen der Handelsherren des Goldenen Zeitalters ebenso präsent wie in zahllosen Mafia-Banketten des Hollywoodfilms. Rodins Denkerpose hat das fotografische Intellektuellen-Bildnis des 19. und 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst.
Doch auch wenn man sich über den historischen und intellektuellen Hintergrund der Bilder viel Wissen verschaffen kann und muss, gilt es doch offen zu bleiben für das Erlebnis vor dem Bild, für den unmittelbaren Eindruck. Was macht das Bild mit mir? Dann entschlüsselt sich manches wie von selbst, und man betreibt nebenbei ein wenig Selbstanalyse.