Wie können sich Schauspieler all diesen Text merken? Egal, welche Inszenierung, diese Nachfrage fehlt bei keinem Publikumsgespräch. Auch für einen alten Bühnenhasen wie Ulrich Matthes also die nervigste Frage der Welt?
"Dieser Frage muss man mit Humor begegnen. Es geht uns allen so, dass wir meistens von dieser Frage ein bisschen genervt sind und manchmal denken wir: ‚Oh Gott, jetzt kommt das schon wieder‘. Für viele Menschen, die nichts mit dem Beruf zu tun haben, scheint es sich um die bewunderungswürdigste Tatsache des Schauspielerberufs zu handeln."
"Wochenlanger, stinklangweiliger, blöder, prosaischer Scheißakt"
Und genau hier liegt die Ursache fürs Stöhnen und Augenrollen, das einem sich verletzt und verkannt fühlenden Schauspielerherzen entspringt. Denn das, was man mit dem Text macht, wie man ihn in einer Figur lebendig werden lässt, ist ja die eigentliche Kunst.
Ulrich Matthes: "Insofern wäre auch ein Maler doch traurig darüber, wenn man sagen würde: dass Sie sich diese vielen Farben zusammengekauft haben und auf die, Dings, – also die Voraussetzung dafür, dass Kunst entsteht wird der rein mechanische Akt des Auswendiglernens bewundert, der ein mühsamer, wochenlanger, stinklangweiliger, blöder, prosaischer Scheißakt ist. Und dass das das Hauptinteresse von vielen Menschen erfährt, ist irgendwie niederschmetternd."
Verstanden. Rein mechanischer Akt des Auswendiglernens. Kann jeder, sagt Matthes. Aber vielleicht doch noch die klitzekleine Nachfrage, mit welcher Methode? Ulrich Matthes erklärt:
"Kaspar, Peter Handke, ein Soloabend an den Münchner Kammerspielen vor 150 Jahren. Da habe ich wochenlang mithilfe von Hunderten von Eselsbrücken gearbeitet. Also übrigens auch in meinem Manuskript. "Alph" ist die Abkürzung für Alphabet. Da merke ich mir: Innerhalb dieses Satzes kommt erst ein A, dann ein B, dann ein F und dann ein T. Mit diesem Buchstaben fangen die Wörter in diesem Satz an. Und das merkt man sich dann."
"Mir ist das peinlich"
Auch körperliche Eselsbrücken gibt es: An dieser Stelle auf der Bühne sage ich das, zum Beispiel. Das Körpergedächtnis erinnert das unbewusst. Das Meiste, so Matthes, erarbeitet man sich im Probenprozess – nur in wenigen Ausnahmen muss der Spieler schon mit perfekt gelerntem Text zur ersten Probe erscheinen.
Es kann sogar hinderlich sein, wenn man sich Sätze in einer bestimmten Sprechmelodie zuhause vorsagt und einprägt – gesetzt den Fall, man ist ein Laut-Lerner. Matthes bevorzugt aber ohnehin das leise Lernen: "Ich geh gerne Spazieren beim Textlernen. Die frische Luft, die Bewegung. Immer leise. Ich lerne Texte leise. Mir ist das peinlich."
Mit am schwersten, sagt Matthes, ist ihm ein sehr assoziativ springender Beckett-Monolog gefallen, den er in den 80er Jahren einmal zu lernen hatte. Und auch sein 20-minütiger "Ulysses"-Monolog am Deutschen Theater sei harter Stoff:
"Ich fürchte mich jetzt schon vor dem Abend, an dem wir den wiederaufnehmen werden. Da werde ich bestimmt zwei Wochen lang jeden Tag stundenlang sitzen um mir das wieder reinzuprügeln. Das hat auch was mit dem Alter zu tun. Mit Anfang 20 ist man fixer mit dem Textlernen als jetzt mit 61."
Zur Not hilft Improvisation
Aber es gibt auch leicht zu merkende Texte:
"Alles was musikalisch ist, lernt sich leicht. Thomas Bernhard, Kleist lernt sich leicht, der Moliere-Text lernt sich leicht."
Und was, wenn es dann doch passiert – der gefürchtete Texthänger auf der Bühne? Etwa einmal im Jahr, so Matthes, hänge er so sehr fest bei einer Vorstellung, dass ihm gar nichts mehr einfalle und er die Souffleuse um Hilfe bitten muss. Normalerweise könne man sich aber mit Improvisation halbwegs retten. Ulrich Matthes:
"Bei Moliére habe ich mir dann irgendeinen Vers überlegt, damit ich sowohl im Rhythmus als auch im Reim bleibe. Da war ich zehn Sekunden danach noch stolz auf mich, dass mir das gelungen war!"