Historisch gesehen geht es beim Realismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst um die Verteidigung des künstlerischen Zugriffs auf die Realität. Das ist sein verbindendes Anliegen bei vielen unterschiedlichen künstlerischen Haltungen. Denn der Kunst wird zunehmend die gesellschaftliche Relevanz abgesprochen wird in der Zeit der Industrialisierung, der arbeitsteiligen, sich beschleunigenden Berufswelt, vor allem auch der Rationalisierung und fortschreitenden Diversifizierung des Wissens.
Seelenlose Apparatekunst
Fontane zum Beispiel wendet sich in den 1850er-Jahren gegen die Schwärmereien der Romantiker und gegen die idealistische Spekulation der Hegel-Schule, aber auch zum Beispiel gegen die Fotografie. Man könnte ja meinen, die Realisten würden die Fotografie als neues Medium zur Darstellung von Realität begrüßen. Aber nein: Sie halten sie für seelenlose Apparatekunst. "Alles Zufallsbilder", meint Fontane. Um die Realität der Gegenwart als Material für tiefere Einsichten zu nutzen, brauche es Kunst und Dichtung.
Aber der Schriftsteller Gustave Flaubert zum Beispiel widmet sich dieser Gegenwartsrealität nur sehr widerwillig: für ihn ist die moderne Gesellschaft nur eine Pseudoveranstaltung, und dass er sich damit schriftstellerisch auseinandersetzen muss, empfindet er regelrecht als Qual und Strafarbeit. Der Maler Gustave Courbet hingegen fasst in seinen wichtigsten Gemälden seit den 1850er Jahren Realität als kommunikatives Netzwerk auf, wie ein Vorläufer der Pop Art.
Radikale Auflösung
Letztlich zeigt sich in den Arbeiten der Realisten exemplarisch, dess es eben nicht mehr "eine" Realität gibt, sondern dass die Realität zu komplex geworden ist, als dass sie noch mit einem Symbol oder einer Metapher künstlerisch zusammengefasst werden kann. Und man kann zwei unterschiedliche Reaktionen auf diesen Befund beobachten: Die einen sehen das in dieser Zeit als großen kulturellen Niedergang und wollen die Kunst oder die Dichtung als Rückversicherung für einen einheitlichen Realitätsbegriff behaupten; die anderen begrüßen die Entwicklung und sehen das Gebot der Stunde in einer radikalen Auflösung dessen, was man Kunst nennt, in der Realität.
Genau das ist aber die Debatte, die eigentlich bis heute immer wieder geführt wird. Etwa in der Medientheorie, bei der ja in der Euphorie der Digitalisierung in den 1990er-Jahren zeitweilig argumentiert wurde, dass es "Medien" eigentlich immer schon die Realität und die Kunst- und Kulturgeschichte bestimmt haben und nicht der Mensch.