So banal es auch ist: Theaterkritiken dienen zunächst einmal dazu, Öffentlichkeit herzustellen. Im Normalfall haben ja nur ein paar hundert Zuschauer die Premiere gesehen, in Werkstattbühnen oft noch weniger. Zum anderen: Eine pointierte Meinungsäußerung zu einer neuen Inszenierung soll und wird eine Debatte in Gang setzen und das Publikum dazu animieren, sich selbst ein Bild zu machen. Oder auch nicht. Die Diskussion findet theater-intern ja sowieso statt – der Kritiker fügt nur eine Außenansicht hinzu, an der man sich reiben kann. Und die eine Kritik wird relativiert durch die vielen anderen Kritiken, die auch noch erscheinen. Dadurch, dass das Ganze in gedruckter (oder mittlerweile oft auch digitaler) Form vorliegt, hat es eine gewisse Haltbarkeit. Man kann also auch die Kritiker für das haftbar machen, was sie da verbrochen haben – nicht nur die Künstlerinnen und Künstler.
Die unvermeidliche Frage ist ja immer: Für wen ist das geschrieben? Klare Antwort: für das Publikum. Für eine informierte, theaterinteressierte Öffentlichkeit. Für die Künstler erst in zweiter Linie. Es gibt Kritiker, die an Regisseuren ständig ihr Mütchen kühlen oder Schauspielerinnen (den "Theaterköniginnen"…) Liebeserklärungen hinterhersenden – dies sind eher skurrile Begleiterscheinungen des Gewerbes. Gefragt ist eine möglichst genaue Beschreibung und Analyse des Theaterabends – die, bitte, bitte, auch unterhaltsam und sinnenfroh daherkommen darf. Und die die Einschätzung des Ganzen möglichst gut begründet – implizit natürlich, nicht durch bürokratische Aufzählung. Denn, auch wenn Kritiker und Kritikerinnen oft als Trittbrettfahrer und Schmarotzer wahrgenommen werden: Kritik ist auch eine literarische Form, die stilistischen und argumentativen Mindeststandards genügen sollte.
Teil der Theatergeschichte
Wer solche Kriterien aufstellt, macht sich natürlich angreifbar – denn niemand kann ständig in Höchstform sein. Man sollte aber auch an schlechten Tagen so viel zustande bringen, dass auch viele Jahre danach noch ein Eindruck des Theaterabends möglich ist. Denn Theaterkritik schreibt auch Theatergeschichte. Außer dem Bühnenbild (aber auch das wird irgendwann entsorgt) bleibt, wenn ein Stück abgespielt ist, von der Aufführung wenig übrig außer den Kritiken. Seit der Jahrtausendwende gibt es allerdings auch sehr viele Video-Aufzeichnungen von längst eingemotteten Inszenierungen. Und das ist wunderbar so – weil man viele Details noch einmal anschauen und vor allem: etwas daraus lernen kann.
Da sich in den vergangenen Jahren die Struktur der Öffentlichkeit durch das Internet radikal verändert hat, ist auch die Funktion der Kritik eine andere geworden. Natürlich hat auch heute eine Kritik, die in einer großen Zeitung erscheint, mehr Gewicht als ein Blogeintrag. Durch die Vielzahl neuer Medien und Plattformen äußern sich aber viel mehr Menschen zu einer Theaterinszenierung – oft nur in wenigen Sätzen, oft aber auch in ganzen Essays. Das heißt: der Einfluss der Berufskritiker, die noch bis in die 1980er Jahre eine gigantische Meinungsmacht besaßen, hat sich relativiert. Und das ist gut so: Sie müssen sich ausweisen, sie müssen sich selbst in Frage stellen. Sie sind nur noch Teil einer Debatte.
Trotzdem gibt es natürlich Kritiker und Kritikerinnen, die es besonders gut können und an denen man studieren kann, was eine gelungene von einer weniger gelungenen Kritik unterscheidet. Und das führt zu der Frage: Wie lernt man das eigentlich, das Kritiken-Schreiben? Die meisten von uns haben es gelernt, indem sie es einfach taten. Es ist dabei nicht hinderlich, wenn man vorher schon mal ein Buch gelesen oder einen Film gesehen hat. Oder als Kind schon mal im Theater war. Anders gesagt: Die meisten Kritiker haben irgendwas studiert. Es muss nicht Theaterwissenschaft oder Germanistik gewesen sein, das kann nämlich auch betriebsblind machen. Es braucht ohnehin eine gewisse Zeit bis man beim Akt des Zuschauens Dinge begreift, die man vorher nicht wusste und die man sich nicht anlesen kann. Dass man verschiedene Ästhetiken zu unterscheiden lernt und vielleicht auch etwas von dem komplizierten Gemeinschaftsprozess kapiert, der zum Scheitern oder Gelingen einer Inszenierung führt. Dass man dadurch vielleicht auch mal großzügig ist. Dass man sich auf Psychorealismus wie auf Postmoderne gleichermaßen einlassen kann.
Stars der Disziplin
Seit Lessing die Theaterkritik als Diskurs begriff, hat es viele Stars der neuen Disziplin gegeben. Es ist müßig, sie alle aufzuzählen. Ich will mich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschränken und zwei Grundtypen von Kritikern unterscheiden – und die Leserinnen und Leser mögen für sich entscheiden, welche Art von Kritik den höheren Gebrauchswert hat. Der beste Kritiker, den wir im Nachkriegsdeutschland hatten, ist für mich – mit weitem Abstand – Benjamin Henrichs von der "Zeit". Er konnte nicht nur unfassbar gut schreiben (und leider schreibt er nicht mehr, jedenfalls nicht über Theater). Vor allem aber konnte er uns das Wesentliche einer Inszenierung und einer Schauspielleistung auf eine Weise vor Augen führen, die uns Lesern sagte: Das hat mit dir zu tun! Schau dir das an, es wird dein Leben ändern.
Er war, altmodisch gesagt, begeisterungsfähig. Natürlich war Henrichs in gewisser Weise ein Erlebnis-Kritiker: Er erzählte, abgefedert von einem großen intellektuellen Unterbau, was er im Theater erlebt hatte. Was die Regisseure seiner Generation – Zadek, Stein, Peymann – unter dem Bildungsschutt der Klassiker entdeckten, das konnte er in der Kritik noch einmal lebendig machen. Ein gigantischer Verreißer war er nie: Er liebte das Theater, weil er im Theater aufgewachsen war – sein Vater Helmut Henrichs war Intendant in München gewesen.
Selbstdarsteller
Dem entgegengesetzten Kritiker-Typus ist das Theater eher egal: Es dient ihm lediglich als Schreibanlass, um sich selbst darzustellen. Er verliert sich in intellektuellen Erörterungen und Welterklärungen, er erfindet manierierte Komposita-Substantive und oft windschiefe Bilder. Er ist sich im Grunde selbst genug. Deshalb ist sein Vernichtungs-Furor völlig ungebremst, da läuft er erst richtig heiß. Und er lässt sich von all denen feiern, die gar nicht im Theater waren und - schon wegen seiner Kritiken - dort nicht hingehen werden.
Natürlich kommt Typus zwei in Reinkultur heute kaum noch vor. Aber gelegentlich juckt es uns allen in den Fingern, mal richtig draufzuhauen. So berechtigt das oft auch sein mag: Die Kritikerinnen und Kritiker gehören zum Theater irgendwie dazu. Sie kommen von außen, aber sie sollten den Menschen, über die sie schreiben, noch in die Augen sehen können. Meinungsverschiedenheiten sind normal und gehören ausgefochten, zumal da oft ideologische Fragen mit hereinspielen. Aber man sollte immer im Gespräch bleiben.
Das ist umso wichtiger, als mit Beginn der Postmoderne vielen im Theaterpublikum gar nicht mehr klar ist, worum es bei der Inszenierung denn ging, die sie gerade sahen. Das Theater ist zum Spiel unter Eingeweihten geworden, zum Austausch in einer bestimmten Szene. Je selbstreferentieller das Theater aber wird, desto mehr sind die Kritiker als Übersetzer gefragt. Aufführungen, die ohne genaue Lektüre des Programmhefts nicht verständlich sind oder ohne präzise Kenntnis des Werdegangs des Regisseurs, wollen in der Kritik überhaupt erst mal erklärt und verständlich gemacht werden. Sage keiner, das sei altmodisch. Man mag es nicht lustig finden, wenn zehn Hamlets auf der Bühne stehen. Aber es muss jemanden geben, der erklärt, wozu das gut sein könnte. Nicht dem Berliner Szene-Publikum, das weiß das sowieso. Aber dem älteren Abonnenten aus dem Frankfurter Vorort, der im Theater eigentlich gern etwas über sich selbst erführe, dort aber nur mit Insiderjokes konfrontiert wird.
Es gibt gute, sehr gute Kritikerinnen und Kritiker im Moment. Das Vorwissen, die Lockerheit, die stilistischen und polemischen Fähigkeiten, die haben sich enorm verbessert. Kritiker wie Christine Dössel, Martin Halter oder Peter Kümmel liest man einfach gerne – völlig unabhängig davon, ob man deren Meinung im Einzelfall teilt. Und ich entschuldige mich präventiv bei allen, die ich hier nicht nenne, die aber mindestens ebenso großartig sind.
Kritik für Theaterbesuch nicht ausschlaggebend
Schreibt man lieber Lobeshymnen oder Verrisse? Und hat das überhaupt einen Einfluss auf die Zuschauer? Und auf die Schauspielerinnen und Schauspieler? Ich glaube nicht an die Massenwirkung von Theaterkritik. Die Menschen gehen ins Theater, weil sie ins Theater gehen wollen. In den seltensten Fällen ist dafür eine Kritik ausschlaggebend. Man geht eher trotzdem hin, weil der unfähige Kritiker ja keine Ahnung hat. Auf das Theater selbst hat die Kritik kaum Einfluss: Die Künstlerinnen und Künstler machen eh, was sie wollen. Manchmal entspinnt sich ein Gespräch, eine Debatte, manchmal werden Moden in Frage gestellt. Mehr nicht.
Trotzdem schreiben sich Verrisse natürlich viel leichter und schneller als Lobeshymnen. Das liegt daran, dass es viel einfacher ist, ein schlechter als ein guter Mensch zu sein. Allerdings sind auch auf der Bühne die bösen Charaktere meist interessanter als die guten. Verrisse lesen sich einfach gut, und Schadenfreude ist für viele Leser immer noch die schönste Freude. Das Problem an der Lobeshymne ist, dass sie immer nah am Kitsch gebaut ist. Und wenn man als Kritiker eines meiden sollte, dann ist es der Kitsch und die Betroffenheits-Pose. Das kommt nicht gut…
Wozu dient Theaterkritik? Früher hätte man gesagt: zur Belehrung, zur Erbauung und zur Freude. Auch wahr. Wenn nämlich jemand nach Jahren des Kritiker-Daseins feststellt, dass er ausschließlich Verrisse schreibt, sollte er über einen Berufswechsel nachdenken. Ein paar Glücksmomente im Jahr sollten im Theater schon sein. Man lebt ja auch nicht dauerhaft mit einer Frau zusammen, die man nicht mehr liebt.