Klassiker, oje! Dickleibige, alte Schinken, die kaum etwas mit unserer Gegenwart zu tun haben. Ein verrückter Ritter kämpft gegen Windmühlen, eine Frau wirft sich nach langen Liebesqualen vor den Zug, eine Lübecker Kaufmannsfamilie geht den Bach runter oder eine Arztgattin beginnt aus lauter Langeweile, die Provinz-honoratioren zu verführen. Nicht sehr zeitgemäß, könnte man bei oberflächlicher Betrachtung meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Etliche der großen Romane von Balzac, Flaubert, Tolstoi oder Turgenjew wirken aktueller als manche Saisonware.
Zeitlose Stoffe
Honoré de Balzacs :"Verlorene Illusionen" aus Jahr 1843, in dem es um den Aufstieg eines ehrgeizigen jungen Mannes geht, liefert eine treffende Analyse des Zeitungswesens und des Kulturbetriebs, eine scharfe Medienkritik inklusive. Die gerade wiederentdeckte George Eliot deckt in "Middlemarch", 1874 erschienen, die ewig gültigen sozialen Mechanismen einer Kleinstadt auf. Noch frappierender ist der Erfolg des schwarzen amerikanischen Schriftstellers James Baldwin (1924-1986), dessen Romane und Essays, die als Klassiker der Moderne gelten können, erst jetzt bei uns auf einen Resonanzraum stoßen. Wie er von Rassismus, struktureller Benachteiligung und Gewalt erzählt, passt zu den Herausforderungen unserer Zeit.
Ein weiterer Grund, weshalb sich die Lektüre von Klassikern lohnt, liegt in ihrer Sprache. Diese Sprache altert nicht und hält auch nach Jahr-hunderten Überraschungen bereit. Zugleich sind Klassiker unser Gedächtnis. Eng verknüpft mit der Frage, welche Bücher einer Literatur zu den klassischen Grundlagentexten gehören, ist die Diskussion über einen Kanon. Sie muss immer wieder neu geführt werden. Aber das historisch Fremde zu kennen, hilft die Gegenwart zu begreifen. Übrigens: An die Spitze der Bestsellerlisten rückte im Frühjahr 2020 in mehreren europäischen Ländern:" Die Pest" von Albert Camus, ein Roman von 1947. Wirklichen Klassikern kann die Zeit nichts anhaben.