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"Endlich wird das auch in der Gesellschaft als Unrecht anerkannt"

Der Missbrauch und das anschließende Wegschauen ist in den Augen der Beauftragten der Bundesregierung zur Aufklärung des sexuellen Missbrauchs, Christine Bergmann, doppeltes Unrecht. Nach zahlreichen Mails und Anrufen wisse sie, dass viele Betroffenen zum ersten Mal im Leben offen über die Übergriffe gesprochen hätten.

Christine Bergmann im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Schweigen und Wegsehen, das war oft jahrzehntelang so, wenn Schüler, Kinder, Jugendliche sexuell missbraucht wurden, sei es in katholischen Schulen, oder selbst an Reformschulen wie der Odenwald Schule. Die Bundesregierung hat einen Runden Tisch ins Leben gerufen und eine Beauftragte berufen, Christine Bergmann, die ehemalige Bundesfamilienministerin von der SPD. Auf der Internet-Seite beauftragte-missbrauch.de. sind schon Hunderte Mails von Opfern eingegangen, außerdem fast 500 Anrufe auf der Hotline 0800-2255530. Das alles werde ich gleich noch einmal nennen.

    Ab heute Vormittag werden erste Stimmen auf der Homepage von Betroffenen veröffentlicht und darüber möchte ich reden mit der Beauftragten Christine Bergmann in Berlin. Guten Morgen!

    Christine Bergmann: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Gut zwei Monate sind Sie im Amt und können schon eine erste Bilanz ziehen. Wie fällt diese Bilanz aus?

    Bergmann: Zum einen muss man sagen, es wenden sich an uns fast ausschließlich Menschen, bei denen der sexuelle Missbrauch schon sehr lange zurückliegt, die also in der Regel schon zwischen 50 und 60 Jahre alt sind. Ein großer Teil davon gerade am Telefon – das sind etwa 60 Prozent – spricht das erste Mal darüber, die haben sich noch nicht an irgendjemand vorher gewendet, und das macht einen schon sehr nachdenklich und auch betroffen, wenn man dann mitbekommt, wie lange dieser Missbrauch, der nun schon so lange zurückliegt, nachwirkt, wie der das ganze Leben geprägt hat.

    Meurer: Wie prägt er das Leben?

    Bergmann: Vieles lief dann gar nicht mehr. Männer insbesondere schreiben dann, dass sie keinen Abschluss gemacht haben, weil sie keine Vertrauensbeziehung mehr aufbauen konnten, dass die privaten Beziehungen nicht funktioniert haben. Frauen schreiben oft oder teilen uns am Telefon mit, dass sie schon irgendwie funktioniert haben über Jahrzehnte, auch eine Familie hatten, Kinder groß gezogen haben, und dann kam das Loch, wenn die Kinder aus dem Haus waren, wo sie das erst mal angefangen haben aufzuarbeiten und sie in richtige Krisen gekommen sind.

    Meurer: Wie viele Männer sind unter den Opfern, wie viele Frauen?

    Bergmann: Bei denen, die an uns geschrieben haben, finden wir mehr Männer, sagen wir mal 60 Prozent zu 40 Prozent Frauen interessanterweise. Viel ist natürlich per Mail eingegangen. Bei den Anrufern finden wir ein bisschen mehr Frauen, aber nicht so überwiegend.

    Meurer: Die sich bei Ihnen jetzt melden, Frau Bergmann, haben die sich nie offenbart, auch gegenüber Geschwistern nicht, nicht gegenüber dem Ehepartner?

    Bergmann: Viele schreiben uns, dass sie schon auch dem Ehepartner gegenüber was haben verlauten lassen, oder dass sie auch schon früher versucht haben, irgendwo Gehör zu finden, als Kinder oder als Jugendliche, und in der Regel eben wurde ihnen entweder nicht geglaubt – ganz schlimm -, oder es wurde verharmlost, "Wird schon nicht so schlimm sein", oder es wurde unter den Teppich gefegt und der Täter hat dann sozusagen Recht bekommen. Das ist so das doppelte Unrecht: erst wurden sie missbraucht und dann haben sie sozusagen keine Anerkennung dieses Leides gefunden, etwas was über Jahrzehnte noch ganz tief wirkt, so ein Stück Verrat. Das ist schon sehr beeindruckend.

    Meurer: Dass die meisten zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, ist das ein Hinweis darauf, dass es früher mehr sexuellen Missbrauch gab als heute?

    Bergmann: Das, glaube ich, kann man so ohne Weiteres nicht sagen aus dem, was bei uns eingegangen ist. Es ist schon möglich, dass es größere Sensibilität gibt. Das ist ja auch kein ganz neues Thema und schon vor Jahren oder auch Jahrzehnten ist ja nicht nur darüber geredet worden. Es gibt Beratungseinrichtungen, es gibt Hilfemöglichkeiten. Aber offensichtlich ist das Thema nie so präsent gewesen in der Gesellschaft, dass eben wirklich hingeguckt wird, dass in allen Einrichtungen man Bescheid weiß, wie man mit solchen Fällen umgeht. Aber ich glaube, die öffentliche Debatte führt jetzt auch dazu, die wir haben seit Anfang des Jahres, dass insbesondere Menschen, die eben lange geschwiegen haben, jetzt endlich reden, und wir hören das vor allen Dingen am Telefon, wie wichtig das darüber reden ist. Es ist eine solche Last, die auf den Menschen über Jahrzehnte gelegen hat, und sie sagen das auch ganz klar und sagen, endlich hört mir jemand zu, endlich glaubt mir auch jemand und endlich wird das auch in der Gesellschaft als Unrecht anerkannt. Das ist ganz wichtig und auch ein Stück sozusagen von Aufarbeitung für die Betroffenen.

    Meurer: Noch zu dem, was die Betroffenen sagen. Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen alten Ländern und der ehemaligen DDR?

    Bergmann: Nein, kann man so nicht sagen. Wir haben weniger Fälle natürlich, aber die neuen Bundesländer sind auch zahlenmäßig natürlich geringer vertreten. Wir haben insbesondere aus den neuen Ländern noch eine ganze Menge Menschen, die noch ihre Erfahrung mitteilen, die sie in Heimen gemacht haben. Da geht es dann häufig vor allen Dingen auch um Misshandlung, entweder verbunden mit sexuellem Missbrauch, oder eben auch selber schlimmste Misshandlung. Wir wissen ja auch, dass das Thema sexueller Missbrauch, auch häusliche Gewalt in der DDR ja sehr tabuisiert war. Das passte ja nicht in die heile sozialistische Gesellschaft. Da würde ich sagen, auch hier ist das jetzt so ein Stück Befreiung, endlich darüber reden zu können und endlich auch Anerkennung dieses Leidens zu finden.

    Meurer: Ich spreche mit Christine Bergmann, Beauftragte zur Aufarbeitung des Missbrauchs. – Was fordern die Betroffenen, welche Konsequenzen gezogen werden sollen?

    Bergmann: Die Betroffenen fordern ganz klar zum einen Anerkennung, wirklich die Anerkennung des Unrechtes. Sie fordern auch, dass die Täter, die Institutionen deutlich benannt werden, dass das alles nicht sozusagen nur unter Kirche läuft, oder unter Einrichtung läuft, sondern dass klar ist, wo ist eigentlich hier wirklich sehr schuldhaft gehandelt worden, vor allen Dingen auch dadurch, dass über Jahrzehnte zum Teil bekannter Missbrauch, sexueller Missbrauch verschwiegen wurde und nicht entsprechend gehandelt wurde, für mich eigentlich fast das Schlimmste an dem ganzen Geschehen, und sie fordern auch Entschädigung.

    Meurer: Auch materielle Entschädigung?

    Bergmann: Auch materielle Entschädigung! Auch diese Forderung kommt, sehr unterschiedlich, aber sie sagen auch ganz klar, das kann kein Schweigegeld sein, die Täter müssen bestraft werden, und sie fordern auch rechtliche Änderung. Bisher fordern eigentlich alle, die zu diesem Bereich schreiben, dass die Verjährungsfrist wegfallen sollte, weil eben vieles erst spät überhaupt benennbar ist, jedenfalls für diese Gruppe, die sich jetzt sehr viel bei uns meldet. Sie fordern vor allen Dingen auch präventive Maßnahmen, weil sie möchten, dass nicht Kinder dasselbe erleben, was sie erleben mussten, sondern dass Kindern schneller geholfen wird, besser geholfen wird. Sie fordern, dass alle Bescheid wissen, dass es mehr Fortbildung gibt, von der Kita angefangen bis in die Schulen, also sehr der Blick auch auf die Prävention gerichtet. Sie möchten nicht, dass ihren Enkelkindern oder ihren Kindern das widerfährt, was sie erleben mussten.

    Meurer: Sie liefern dem Runden Tisch zu, Ihre Ergebnisse, Vorschläge und Forderungen, und da hat mal jemand von einer Selbsthilfevereinigung gesagt, es sehe so aus, als wollte sich die Politik mit Aktionismus und vielleicht drei Plakat-Kampagnen aus der Affäre ziehen. Wie groß ist die Gefahr, dass der Runde Tisch eher doch so etwas wie eine PR-Aktion der Bundesregierung ist?

    Bergmann: Ich sehe das nicht so, weil ich sehe, wer am Runden Tisch alles sitzt. Es sind wirklich alle. Wir haben die Kritik, dass die Betroffenen selbst da nicht sitzen, aber es sitzen sehr viele Einrichtungen, die ganz unterschiedliche Aufgaben haben.

    Meurer: Wäre es nicht besser, wenn die Betroffenen dabei wären?

    Bergmann: Finde ich auch, aber wie gesagt, ich bin nicht der Runde Tisch, ich habe da auch nur einen Platz. Wir reden auch mit den Betroffenen selbst, es wird auch noch mal ein Hearing geben. Es ist nicht ganz einfach, das Thema: Wer vertritt dann wen, wenn es speziell um die Betroffenen geht. Aber wir reden sozusagen mit allen, auch mit den Beratungseinrichtungen, die mit denjenigen arbeiten, bei denen der Missbrauch zurzeit stattfindet.

    Meurer: Und Sie glauben, es wird am Ende auch Ergebnisse beim Runden Tisch geben?

    Bergmann: Ich denke, es wird Ergebnisse geben. Es muss Ergebnisse geben, sonst ist der Runde Tisch gescheitert! Es muss ein Gesamtkonzept stehen, wie kann man den Betroffenen schneller und besser helfen, was kann man tun im Bereich der Prävention und welche Hilfsangebote müssen wirklich verlässlich für diejenigen da sein, die sie benötigen und zumindest seh ich den guten Willen bei allen, die da sitzen, sich wirklich auch verbindlich einzulassen.

    Meurer: Christine Bergmann so weit, die unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Gespräch haben wir aufgezeichnet. – Noch einmal die Internet-Seite: beauftragte-missbrauch.de.. Und Opfer können die Hotline anrufen: 0800-2255530, 0800-2255530.