Mascha Drost: Gibt es eigentlich so etwas wie ein Thema, wie einen roten Faden, der sich im Laufe des Festivals zeigt?
Maja Ellmenreich: Es gibt ja immer so Verbindungen zwischen Filmen, da hat man das Gefühl, die unterhalten sich miteinander. Aber wenn ich die vergangenen Wettbewerbstage seit unserem letzten Gespräch in "Kultur heute" so Revue passieren lasse, dann hatten wir es hier seitdem mit einigen Auβenseitern zu tun. Mit wortkargen Nerds, mit in sich gekehrten Einzelgängern, die man im "wahren Leben" schnell mal übersieht; die aber auf der Leinwand natürlich so in Szene gesetzt werden, dass sie uns gleich ins Auge fallen: zum Beispiel ein angehender Schriftsteller, der alle Eindrücke in sich aufsaugt, aber herzlich wenig von sich gibt. Oder ein junger, mittelloser Comicfreak aus Los Angeles, der ein Faible für versteckte Botschaften in Popsongs hat und sich von denen leiten lässt bei der Suche nach seiner verschwundenen Nachbarin, in die er sich noch kurz vor ihrem Verschwinden verliebt hat.
Drost: Klingt surreal…Welcher Einzelgänger war Ihnen besonders sympathisch?
Ellmenreich: Eigentlich beide, von denen ich gerade gesprochen habe. Da ist zum einen dieser Comic- und Filmnerd – den hat David Robert Mitchell erdacht. Zum ersten Mal ist er im Cannes-Wettbewerb und hat mit "Under the Silver Lake" eine große Hommage an die Popkultur seiner Generation geschaffen – Jahrgang 1974 ist er - mit vielen Referenzen und Hinweisen auf Musiktitel, Filmtitel, Namen von Spielkonsolen – und was noch so zu finden ist im kollektiven Gedächtnis seiner Generation.
"Under the Silver Lake" ist eine große Hommage an die Popkultur seiner Generation
Geheimnisvoller, weil in vielerlei Hinsicht auch uneindeutiger, ist da allerdings der Protagonist aus Lee Chang-Dongs Film "Burning". Das ist der junge Jongsu aus Südkorea. Der möchte gerne Schriftsteller werden und sein Gesicht verrät so wenig über seine Gedanken, dass wir uns als Zuschauer viel selbst denken müssen. Ein durchlässiger Film ist das – auf der Grundlage einer Kurzgeschichte von Murakami: Jongsu, trifft auf ein Mädchen, sie finden zueinander, aber dann hat das Mädchen plötzlich einen anderen im Schlepptau. Wir tauchen also ein in einen Sumpf aus Erwartungen, Unausgesprochenem, aus Ungewissheit und Enttäuschungen. Da ist viel Spielraum für eigene Deutungen, das ist das tolle an dem Film!
Drost: Was macht das Filmland Frankreich? In der gastgebenden Nation hat das Kino ja eine besondere Bedeutung und ist traditionell stark vertreten im Wettbewerb von Cannes.
Ellmenreich: Da sind wir ganz schön enttäuscht worden. Von dem Film von Stéphane Brizé: "En guerre" heiβt er, und wir erleben einen abgefilmten Arbeitskampf – keinen Dokumentarfilm, sondern Spielfilm. Wir sind endlos lang dabei bei Gewerkschaftsbesprechungen, bei Verhandlungen zwischen Geschäftsführung und den Arbeitern. Die gnadenlosen Längen lassen uns die Härte eines solchen Arbeitskampfes zwar nachspüren, aber die Argumentationsweise ist so holzschnittartig; und das Ende kommt einer emotionalen Erpressung gleich. Vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftspolitik unter Macron – hat das eine besondere Bedeutung für das französischen Publikum, das hat heftig geklatscht am Ende, aber ich fand den Film leider wirklich flach.
Der Gastgeber Frankreich kann in Cannes nicht überzeugen
Drost: Hat sich ein neuer Palmenkandidaten aufgetan?
Ellmenreich: Noch fehlen uns ja vier Wettbewerbsfilme; daher hinkt so eine Prognose immer, finde ich. Aber heute Morgen haben wir einen Film von dem Italiener Matteo Garrone gesehen – "Dogman" heiβt der – und der Hauptdarsteller, Marcello Fonte, der spielt einen Hundefriseur und Hundesitter in einer bettelarmen Küstenstatt. Dem hätte ich gerne heute Morgen schon, wenn ich das Recht dazu hätte, die Goldene Darstellerpalme überreicht. Der Hundemann ist ein liebevoller Vater und großer Hundeversteher, ganz einfühlsam; er handelt aber auch mit Koks und ist Handlanger eines üblen Schlägers. Dessen Fängen kann er nicht entkommen, weil der ihn sonst platt machen würde. Und das ganze Dilemma spiegelt sich in seinem Spiel wider: Unterwürfig ist er und verängstigt, muss seiner Tochter Normalität vorgaukeln und Überlegenheit. Also das Minenspiel von Marcello Fonte ist eindeutig eine Palme wert!