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Energische Entzauberung

Hans-Ulrich Wehler ist einer jener "Public Intellectuals", die seit den frühen 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Diskurs in der Bundesrepublik mitprägen. Jetzt liegt in den Buchhandlungen ein weiterer Band mit neuen Essays Wehlers zur deutschen Geschichte.

Von Alexandra Kemmerer |
    Mit dem Beruf des Historikers verbindet sich für Hans-Ulrich Wehler seit jeher die von Theodor Mommsen formulierte Maxime, dass der Historiker der "Pflicht zur politischen Pädagogik" nachkommen müsse. Dabei scheute der produktive Professor nie deutliche Worte. Auch die dreißig Interventionen, die Wehler nun im zwölften Sammelband seiner Aufsätze und Essays gebündelt vorlegt, lassen es an Schärfe und Prägnanz nicht fehlen. Die Themen reichen von der Debatte um die Sozialstruktur der Bundesrepublik bis zum Methodenstreit zwischen analytischer und narrativer Geschichtsschreibung, von der Kritik am deutschen Nationalismus bis zur Skizze eines aufgeklärten Patriotismus.

    Das liest man nicht ohne Gewinn, doch viele Argumente sind vertraut – zumal dem Leser der "Deutschen Gesellschaftsgeschichte". Entbehrlich wäre auch der Wiederabdruck der Kommentare gewesen, mit denen Wehler sich an der Diskussion über sein Buch im virtuellen "Lesesaal" des Feuilletons der FAZ beteiligt hatte. Isoliert vom Rest der Diskussion, die in einem gerade von Patrick Bahners und Alexander Cammann herausgegebenen Band vollständig nachzulesen ist, bleiben Wehlers Stellungnahmen blasse Fragmente eines hochspannenden Gedankenaustauschs.

    Ärgerlich sind die beiden Beiträge, in denen Wehler noch einmal seine Ablehnung einer Aufnahme der Türkei in die EU auf den Punkt bringt. Die Debatte über Grund und Grenzen der europäischen Integration ist dringlicher denn je. Doch mit Formulierungen wie der Rede vom fundamentalistischen Islam als "politischer Pest des 21. Jahrhunderts" und einer Charakterisierung der Situation der Muslime in der Bundesrepublik als "Türkenprobleme ohne Ende" bewegt sich Wehler hart an der Grenze zum Ressentiment, und gelegentlich überschreitet er sie. Die Diskussion über gestufte Formen der Assoziierung mit der EU wie die von Wehler forcierte "privilegierte Partnerschaft" wird durch solche Grobschlächtigkeiten blockiert.

    Ohne Zweifel kann das Gemeinwesen Zuwanderern die Bereitschaft zur Integration in eine plurale, nach liberalen Grundsätzen gestaltete Gesellschaft abverlangen. Doch wer Integration fordert, muss sie auch bieten – jene sozialen Aufstiegschancen, an denen es nach Wehlers eigener, zutreffender Beobachtung in Deutschland mangelt. Energisch entzaubert er den Mythos vom "Land ohne Unterschichten", zeigt Kontinuitäten einer Klassenhierarchie, in der sich die Grundstruktur der Einkommensverteilung seit Jahrzehnten kaum verändert hat. Die Bildungsreformen der 1960er und 1970er-Jahre haben daran wenig geändert.

    Das höhere Bildungssystem sollte wie ein Schleusenwerk operieren, um auch jungen Leuten aus bisher bildungsfernen Familien jene Aufstiegsmobilität zu ermöglichen, welche die sozialen und kulturellen Barrieren der Herkunft zu überwinden hilft. Das war jedenfalls die utopische Hoffnung, welche die Reformdebatte der 1960er und 1970er-Jahre antrieb. In der Tat ist die Anzahl der Studierenden von 250.000 in den 50er-Jahren auf 1,7 Millionen im Jahre 2008 angestiegen. Doch die große Mehrheit kommt weiterhin aus Familien, in denen die Karriereplanung schon immer eine akademische Ausbildung umschloss oder begehrenswert machte.
    Von seiner Partei fordert der Sozialdemokrat Wehler engagiertere Reformanstrengungen und die Mobilisierung aller intellektuellen Kräfte, wenn es um den Umbau des Sozialstaats geht.

    Die Steuerreform muss erneut in Angriff genommen werden, nicht um der politischen Punktgewinn versprechenden individuellen Entlastung zu dienen, sondern um dem Imperativ verbesserter sozialer Gerechtigkeit zu genügen. Die Erbschaftssteuer, deren Reform soeben einer egoistischen Lobby geopfert worden ist, muss endlich drastisch angehoben werden.
    Auch mitten in einem fundamentalen Umbruch der Medienlandschaften bleibt es dabei. Der zentrale Raum des Politischen ist für Hans-Ulrich Wehler noch immer die alte Welt der großen Tageszeitungen und der deutungsmächtigen Mandarine des Wissenschaftsbetriebs.

    Zu diesem Einfluss einer kritischen Öffentlichkeit ist keine überlegene Alternative zu entdecken. Sie muss ihre einflussreiche Rolle auch im Hinblick auf die politische Notwendigkeit spielen, soziale Ungleichheit in der derzeitigen und demnächst gesteigerten Form nicht länger hinzunehmen. Sollte sie dabei versagen oder sollte pointierte Kritik von der politischen Klasse ignoriert werden, könnte die Bürde, die gerade durch die früher bestechenden Erfolge in der Zeit des "Wirtschaftswunders" entstanden ist, zu einer fatalen Erosion des Vertrauens auf die Überlegenheit des demokratischen Systems samt seiner Problembewältigungskapazität führen. Das aber würde die wertvollste politische Errungenschaft der Bundesrepublik gefährden: ihre nicht leicht errungene und bislang bereitwillig respektierte Legitimationsbasis.
    Mit seinen pointierten Stellungnahmen trägt Hans-Ulrich Wehler zur Formierung einer kritischen Öffentlichkeit bei. Viele seiner provokanten, polemisch zugespitzten Thesen verlangen nach entschiedenem Widerspruch. Doch stets fordert er zum Weiterdenken heraus - und zu politischem Handeln im Interesse des Gemeinwesens.

    Hans-Ulrich Wehler: Land ohne Unterschichten? Neue Essays zur deutschen Geschichte. Die 288 Seiten sind in der Beck´schen Reihe erschienen und kosten 14 Euro 95 (ISBN 978-3-406-58588-3).