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Engel des Universums

Es gab bei uns eine Zeit, da hatte die isländische Literatur auf dem Lande zu spielen, und sie hatte von Halldor Laxness zu stammen. Dann, 1993, kam ein kleiner Paukenschlag: Ein gewisser Einar Kárason belehrte uns, daß es in Island auch Städte gibt, zumindest eine Stadt: Reykjavik natürlich. Wer die irische Literatur kennt und ihre waschechten Originale liebt, hatte auch Kárasons vitalistische Romane sofort ins Herz geschlossen: "Die Teufelsinsel" und "Die Goldinsel" spielen in einem Barackenviertel und werden von trinkfesten Haudegen, lebenslustigen Mädels und cleveren Kerls bevölkert.

Peter Urban-Halle |
    Dabei kamen bereits vor etwa zehn Jahren zwei Reykjavik-Romane auf deutsch heraus, nur beachtete sie keiner: Erstens erschienen sie in kleinen Verlagen, und zweitens war die Zeit noch nicht reif. Der eine war die bizarre Geschichte "Das Herz lebt noch in seiner Höhle" von Gudbergur Bergsson. Der andere hieß "Die Ritter der runden Treppe" und stammte von Einar Már Gudmundsson. Gudmundssons neuer Roman "Engel des Universums" spielt wieder in Reykjavik. Dennoch will er die Rolle der Stadt nicht überbewertet wissen: "Ich bin in der Stadt aufgewachsen und schreibe darüber, als wäre sie Land. Ich mache diesen großen Unterschied nicht, Teile des Romans spielen ja auf dem Land, und die Stadt wirkt wie eine Art Dorf. Für mich kommt es vor allem darauf an, ein Universum zu schaffen."

    Einar Már Gudmundsson und Einar Kárason, beide Mitte der 50er Jahre geboren, gehören zu dieser neuen "urbanen" Generation der isländischen Literatur. Aber der eine - Kárason - schreibt seine lebensfeiernden Familiensagas weiter, der andere - Gudmundsson - hat sich von der Machart seiner ersten Bücher getrennt.

    Gudmundssons Romandebüt "Die Ritter der runden Treppe", deutsch 1988, erinnerte nämlich noch an eine Art magischen Realismus. Es handelt von einem kleinen Jungen in einem Reykjaviker Neubauviertel der 70er Jahre, einer scheinbar banalen Welt, die aber voll von Kindheitsmythen, Abenteuern und Phantasien ist. Da wird ein wunderbarer Geburtstag gefeiert und der Rohbau einer Wohnsiedlung bestiegen, in dem der Junge eine Ritterburg sieht. In seinem neuen Roman "Engel des Universums" läßt er zwar auch die eine oder andere plebejisch-kernige Person aufmarschieren. Aber generell bricht er radikal mit dem Eigenbrödler-Mythos der isländischen Literatur, den Kárason so pflegt. "Engel des Universums" ist ein geradezu entmystifizierender Roman: Hier geht es nicht mehr um Kauzigkeit, sondern um ihre krankhafte Version, die Schizophrenie, und da erweist sich die isländische Gesellschaft als ebenso außenseiterfeindlich wie jede andere auch. Gudmundsson konnte dies aus nächster Nähe erleben: Er ließ sich - wenn man so sagen darf - zu seinem Roman vom Schicksal seines Bruders inspirieren, der sein Leben als Insasse der Reykjaviker Nervenheilanstalt "Kleppur" fristete. Gudmundsson über das Romanthema Schizophrenie: "Man lernt ja die Gesellschaft in hohem Maß durch diese Krankheit kennen. Man erfährt von der Einsamkeit, in der die Menschen landen, man erfährt auch davon, wie oberflächlich die öffentliche Seite von diesen Dingen spricht. Von daher war es natürlich schwer, darüber zu schreiben, aber andererseits war es auch für mich und viele andere eine Erleichterung, den Schleier gelüftet zu haben, der über diesen Dingen liegt."

    Páll, der Held des Romans, wird am 30. März 1949 geboren, Islands NATO-Eintritt, der das Land in zwei Lager teilte. Páll wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf, der Vater ist Taxifahrer und schuftet Tag und Nacht, um die Mutter heiraten zu können, eine Buchhändlerin. Sie wohnen in einer Kellerwohnung, doch verlebt er eine unbeschwerte Kindheit. Aber die Anzeichen der kommenden Krankheit zeigen sich schon. Einmal steht der Kleine vor dem Spiegel im Flur. Da heißt es: "Im Spiegel war jemand, doch das war nicht ich. Mama kam heraus und rief meinen Namen. 'Páll', sagte sie, aber ich hieß nicht Páll, sondern hatte einen ganz anderen Namen." Auch die Irrenanstalt Kleppur, in der Páll einst enden wird, ist schon gegenwärtig - als Zeichen an der Leinwand sozusagen. Auf einem Bild ist "das Land und das Meer, der Himmel und die Vögel" zu sehen und mittendrin die Anstalt. Die Leinwand, sagt Páll, habe "alles an sich gesaugt". Und erstaunt betrachtet er "diese zwei Weiten, die Wirklichkeit in der Wirklichkeit und die Wirklichkeit auf dem Bild".

    "Mein Wirklichkeitsverständnis ist poetisch", so Gudmundsson. "Wir, die wir hier in dieser nationalistischen und materialistischen Weit leben, als Autoren und Dichter, wir schwimmen gegen den Strom, weil wir auf die Träume und Gedanken und die Gefühlsseite mehr Gewicht legen. Aber diese subjektiven Seiten des Daseins sind für mich ebenso wirklich wie die objektive Wirklichkeit, die man berühren kann." Gudmundsson schreibt über den Wahnsinn als extistentielles Problem, und das tut er raffiniert. Das Buch ist nämlich eine Ich-Erzählung, und anfangs wundert man sich, wie klar und sauber der Schizo Páll seine Lage analysiert. "Das ist die Sprache eines Mediziners, nicht die eines Verzweifelten", hieß es schon vorwurfsvoll in einer Rezension. Tatsächlich gibt eine Menge Kommentare und Reflexionen, die in die anekdotenreiche Handlung einfließen. Doch dann muß dem aufmerksamen Leser dämmern, daß so nur ein Toter sprechen kann. Daher die überraschende Nüchternheit seiner Analysen und Selbstdiagnosen, daher die "in ihrer Kargheit wohlkalkulierten Sätze". Páll hat sich das Leben genommen, der Tod ist sein Heilmittel, er hält es nämlich nicht mehr aus: weder wie die Weit mit ihm umspringt, noch was er der Welt antut. Einmal heißt es: "Es gibt nämlich Sinn in dem Wahnsinn." Aber Einar Már Gudmundsson ist kein Schwarz-Weiß-Maler, es geht ihm nicht um die schlichte Umwertung der Werte. Sein Roman ist ein Drahtseilakt: Er gibt dem Verrückten eine Daseinsberechtigung, macht ihn aber nicht besser oder glücklicher als er ist. Der Wahnsinn erschüttert Ritus und Norm, das ist sicher, er ist aber keine Bedingung, um zur eigenen Identität zu gelangen.

    "Ich romantisiere die Wahnsinnigen nicht, sie sind für mich keine Heiligen oder so etwas ähnliches", erläutert Gudmundsson. "Denen kann manchmal eine Logik einfallen, die oberflächlich besehen unlogisch wirkt, aber logisch ist. Insofern sind sie wie alle anderen Menschen auch. Ich möchte sagen, meine Botschaft ist gar nicht so verschieden von Jesu Botschaft, daß wir nämlich für die Geringsten der Gesellschaft fühlen und sie verstehen müssen und sie nicht einfach wegstoßen dürfen, und wenn ich den Lesern diese existentielle Einsicht geben kann, dann ist mein Ziel erreicht." Mit diesen Worten macht Einar Már Gudmundsson sein Buch fast zu einer Predigt. Das wird ihm, glücklicherweise, nicht gerecht. Es räumt, um noch einmal auf Kárason zurückzukommen, mit einem Mythos auf: Dem Mythos des glücklichen schrägen Vogels, der in Island seine Heimat findet. Gudmundssons Roman hat heitere, witzige, amüsante Passagen, er ist nicht so deprimierend ausweglos wie der Roman "Samuels Buch" des Schweden Sven Delblanc, der ihm nach eigener Aussage ein Vorbild gewesen war. Aber selten gibt es so viele Selbstmorde scheinbar glücklicher und erfolgreicher Leute wie in "Engel des Universums". Insofern ist Reykjavik eine normal anormale Stadt. Es ist die Realität. Es kommt halt darauf an, wie Gudmundsson sagt, was wir aus der Wirklichkeit machen und wie wir sie in unserem Kopf, der ein schizophrener ist oder nicht, gestalten.