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England und Wales
Vor zehn Jahren fiel die Sperrstunde

In kurzer Zeit möglichst viel Alkohol bestellen und trinken: Das sogenannte Binge Drinking war in England und Wales lange Zeit weit verbreitet und wurde unter anderem der Sperrstunde zugeschrieben. Schließlich schlossen die Pubs schon eine Stunde vor Mitternacht ihre Türen. Am 24. November 2005 wurde die Regel abgeschafft. Doch viele Kneipen halten nach wie vor an ihr fest.

Von Ruth Rach |
    Eine Hand hält ein Bier in einem englischen Pub
    "Last orders please" - schallte dieser Ruf früher durch einen Pub, nutzten viele Gäste die letzte Gelegenheit und bestellten auch gerne mehr als ein Glas. (dpa/FACUNDO ARRIZABALAGA)
    Freitagabend in Kingston, Südlondon. Volle Pubs, durstige Kehlen und ein Uhrzeiger, der immer schneller auf die elf zusteuert. Und dann der Countdown.
    "Last orders please, last orders."
    Last Orders. Die letzte Chance, etwas zu bestellen, bevor die Kneipen dicht machen. Möglichst viel. Möglichst schnell. Eine Viertelstunde später ergießen sich die Zecher auf die Strafen. Die Innenstadt gehört den Rowdies. Das war einmal. Am 24. November 2005 wurde in England und Wales die Sperrstunde abgeschafft. Eine umstrittene Maßnahme, von den Medien umgehend als "24 hour drinking" – also "Trinken rund um die Uhr" interpretiert. Laut BBC-Umfragen befürchteten zwei Drittel der Briten eine gravierende Verschlechterung ihrer Lebensqualität. Das Boulevardblatt Daily Mail prophezeite:
    "Diese Maßnahme wird unter der Bevölkerung einen hemmungslosen Hedonismus entfesseln."
    Im Gegenteil, argumentierte die damalige Labourregierung: Wenn Leute im Pub nicht unter Zeitdruck stünden, würden sie weniger schnell und weniger viel bechern. Und ganz allmählich würde sich auch in Großbritannien eine – wie es hieß – "gesittete kontinentale Cafékultur breitmachen".
    Die Briten ticken anders, widersprachen Skeptiker - unter Verweis auf den ehemaligen Premierminister Lloyd George, der schon während des Ersten Weltkriegs erklärt hatte:
    "Wir bekämpfen drei Feinde, Deutschland, Österreich und den Alkohol, und soweit ich das beurteilen kann, ist der größte dieser drei Todfeinde der Alkohol."
    Die meisten Pubs halten an der traditionellen Sperrstunde fest
    Damals durften die Pubs nur noch sechs Stunden am Tag Alkohol ausschenken. Schließlich sollte die britische Wehrfähigkeit erhalten bleiben. An Nachmittagen waren die Kneipen ganz geschlossen. Erst seit den 1960er-Jahren wurden die Beschränkungen schrittweise gelockert. Zunächst in Schottland, dann auch in England und Wales. Aber obwohl es die Sperrstunde theoretisch nicht mehr gibt, ist der in britischen Kneipen so gefürchtete Ruf auch heute noch zu hören.
    "Last orders at the bar! ... Time at the bar, thank you!"
    Denn die meisten Pubs halten an der traditionellen Sperrstunde fest. Aus rein wirtschaftlichen Gründen, erklärt Miles Jenner, Wirt und Besitzer der südenglischen Brauerei Harveys:
    "Stammkneipen schließen immer noch um elf, an Wochenenden höchstens eine Stunde später. Viele Pubs sind familienfreundlicher geworden, aber das liegt zum einen an dem Rauchverbot, und zum anderen daran, dass wir inzwischen auch Essen servieren müssen, um finanziell zu überleben."
    Im Prinzip können Pubs, Clubs und Supermärkte zwar rund um die Uhr Alkohol verkaufen – aber nur, wenn sie eine besondere Lizenz besitzen. Und hier haben die örtlichen Behörden das letzte Wort. Auf einen Wirtschaftszweig hat sich die Aufhebung der Sperrstunde allerdings sehr deutlich und sehr positiv ausgewirkt. Brauereimeister Miles Jenner:
    "Früher durften Supermärkte Alkoholika nur zu bestimmten Zeiten verkaufen und mussten sie ganz hinten im Geschäft verstecken. Heute können sie die Ware jederzeit anbieten, zu Lockpreisen, direkt am Eingang. Und wenn Betrunkene später auf den Straßen randalieren, heißt es prompt, daran seien die Kneipen schuld."
    Tatsächlich ist die Zahl der Geschäfte, die billige Alkoholika verkaufen, in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegen. Viele Briten versorgen sich direkt aus dem Supermarkt und trinken gar nicht erst im Pub, sondern zuhause oder irgendwo in der Öffentlichkeit. Mit ein Grund, warum immer mehr britische Kneipen Bankrott machen, sagt Jon Foster vom Institut für Alkoholforschung in London. Aber es gebe noch eine weitere, bemerkenswerte Entwicklung:
    "Die Zahl der Kampftrinker ist, vor allem unter jungen Leuten, deutlich gesunken. Vielleicht spielen demografische Veränderungen eine Rolle, dass zum Beispiel mehr Jugendliche aus ethnischen Gruppen kommen, in denen Alkohol verpönt ist. Vielleicht liegt es aber auch an ihrem veränderten Freizeitverhalten, dass sie zum Beispiel mehr Zeit online verbringen, oder auch schlichtweg an den Folgen der Finanzkrise."
    Auch die Zahl alkoholbedingter Delikte ist in Großbritannien gesunken. Ein direkter Zusammenhang mit der Lockerung der Sperrstunde sei jedoch nicht nachzuweisen, sagt Jon Foster. Die Trendwende habe bereits ein Jahr davor eingesetzt. Dennoch gebe es keinen Grund zur Freude.
    "Die gesundheitlichen Kosten sind weiterhin enorm. Polizei und Notdienste stehen weiterhin unter Druck, vor allem an Wochenenden. Ich sehe keine Anzeichen, dass sich die Briten eine kontinentale Trinkkultur aneignen und kann mir das auch für die Zukunft nicht vorstellen."