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Enne Koens: „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“
Mut finden, sich zu wehren

Besonders der fiese Dilan hat es auf Vincent abgesehen und verprügelt ihn regelmäßig: Die niederländische Autorin Enne Koens erzählt berührend von den Ängsten eines Jungen, dem es durch die Hilfe einer echten Freundin gelingt, sein Schweigen zu brechen und sich gegen Mobbing zu wehren.

Von Christoph Ohrem |
Zwei Schüler prügeln sich am Mittwoch (26.11.2008) auf dem Schulhof des Gymnasiums in Leichlingen (Illustration). Foto: Oliver Berg dpa/lnw +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Enne Koens erzählt einfühlsam von Mobbing in der Schule (Picture Alliance / dpa / Oliver Berg)
Seit einiger Zeit schon plagen den elfjährigen Vincent Bauchschmerzen, wenn er zur Schule geht. Er hat Angst, weil sein Klassenkamerad Dilan ihn regelmäßig verprügelt. Immer wieder überfallen die Raudies aus seiner Klasse mit Dilan als Rädelsführer Vincent nach dem Unterricht. Der traut sich nicht, seinen Eltern davon zu erzählen. Die sorgen sich eh schon genug um ihn, wie er meint, da er Schwierigkeiten hat, sich mit anderen Kindern anzufreunden.
"Ich weiß nicht, was eher anfing: dass ich mich anders fühlte oder dass die anderen anders zu mir waren. Ich schaute den anderen nur zu und wusste nicht, wie ich mitmachen sollte. Das blieb auch so, als die Grundschule anfing. Und natürlich dauerte es nicht lange, bis sie es merkten. Sie rochen es, so wie Wölfe mit geschlossenen Augen einer Spur folgen können. Sie fingen an, mit hinterherzurufen. Es lief nicht sofort aus dem Ruder. Erst als ich sieben Jahre alt war, wurden sie gemeiner. Sie sagten, ich würde stinken und hätte hässliche Sachen an."
Ganz nah dran an den Ängsten und Hoffnungen
Enne Koens schildert Vincents Leidensweg in Form einer Ich-Erzählung. Sie schafft es auf ganz unprätentiöse Weise, sich in die Gedankenwelt dieses einsamen und gequälten Jungen hineinzudenken. Sie findet eine angemessene, altersgemäße Sprache, die die Innenwelt Vincents und seine ganz besondere Sicht auf seine Umwelt äußerst lebendig wiederspiegelt. Dadurch rückt man als Leser ganz nah heran an Vincents Ängste und Hoffnungen. Die Angst vor der nächsten Tracht Prügel und die Hoffnung, endlich einmal einen Freund zu finden.

Vincent ist so einsam, dass er sich imaginäre Tierfreunde ausgedacht hat, die ihn den ganzen Tag über begleiten: einen Wurm, ein vorlautes Eichhörnchen, einen faulen Käfer und ein überspanntes Fohlen, das tagaus, tagein schlechte Witze erzählt. Sehr charmant kommentieren diese tierischen Begleiter Vincents Erlebnisse im Zwiegespräch mit ihm, illustrieren so stets seine Gefühlslage und sorgen für heitere Momente, auch wenn die Geschichte einmal dunkel wird.
Buchcover von Enne Koens: „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“
Enne Koens: „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ (Cover Gerstenberg Verlag)
Lichtblick Jacqueline
Der einzige Lichtblick in der Klasse ist für Vincent das neue Mädchen, Jaqueline, genannt "Die Jacke". Sie ist sofort bei allen beliebt, denn sie spielt Gitarre, kann surfen, spricht mehrere Sprachen und kleidet sich wie ein Junge. Was aber das Beste an ihr ist: Sie macht sie nicht über Vincent lustig, sondern möchte ausgerechnet mit ihm befreundet sein, obwohl alle in der Klasse um sie buhlen. Dilan ist so eifersüchtig, dass er es Vincent besonders schlecht ergehen lässt.
"Sie packen meine Füße und schleifen mich zu den Büschen. Der Kiesweg schrammt meine Wange auf. Hinter den Sträuchern binden sie mich an einem Baum fest. Dilan. Stephan. Und dieses Mal haben sie anscheinend Thomas und Hassan überredet, mitzumachen. Ich nehme es ihnen nicht übel. Ich weiß nicht, ob ich mich trauen würde, Nein zu sagen, wenn Dilan mich um etwas bitten würde. Das Seil sitzt stramm und schneidet mir in die Oberarme. Meine Beine sind wacklig und ich glaube, meine Wange blutet. Als ich an mir hinunterschaue, sehe ich einen roten Blutfaden übers T-Shirt nach unten laufen."

Als roter Faden für Vincents Emanzipations-Geschichte dient eine anstehende Klassenfahrt. Der Gedanke daran ist für den Jungen eine Qual, da Dilan ihm angedroht hat, dass er Vincent dort so richtig fertig machen werde. Die sieben Tage bis zur Klassenfahrt werden im Buch wie ein Countdown von Abschnitt zu Abschnitt heruntergezählt. Jeden dieser Abschnitte begleitet zudem ein kleiner Auszug aus einem Survival-Buch, das beschreibt, wie man auf sich gestellt in der Wildnis überlebt. Das Layout hat Maartje Kuiper mit geschmackvollen Illustrationen versehen, die im Stil von Linolschnitten dezent Motive des Geschehens aufgreifen. Etwa stilisierte Äste eines Waldes oder die Tiere, die den Jungen in seiner Fantasie begleiten.
Der Kampf mit der eigenen Angst
Das erwähnte Survival-Buch ist Vincents große Leidenschaft. Er hat es schon zwölf Mal gelesen und sich sogar ohne das Wissen seiner Eltern ein Survival-Kit mit allerlei nützlichem Zubehör zusammengestellt. Auf der Klassenfahrt bewahrheiten sich Vincents schlimmste Befürchtungen. Als Dilan ihn nachts in der Jugendherberge mit einem Messer überfällt, springt er aus dem Fenster und beschließt, mit seinem Survival-Kit ausgestattet in der Wildnis zu leben. In der Dunkelheit hockend macht er sich selbst Mut.
",Ich bin Vincent. Ich bin elf Jahre alt und ich habe ein Buch übers Überleben in der Natur gelesen. Ich bin Vincent. Ich bin elf Jahre alt. In meinem Zimmer hängt ein Spiderman-Poster. Ich bin Vincent und ich habe keine Angst, keine Angst, keine Angst.' Das Erste stimmt, das Zweite ganz sicher nicht, aber ich muss es glauben, ich muss."
Die Flucht als großes Finale des Romans ist spannend erzählt und weist Elemente eines Abenteuerromans auf. Durch seine Freundin "Die Jacke" findet Vincent schließlich nicht nur den Mut, zu den anderen zurückzukehren, sondern auch den Mut, endlich zu erzählen, wie sehr Dilan ihn quält.
Thema Mobbing einfühlsam und humorvoll aufgearbeitet
Der Roman ist schlüssig aufgebaut. Die schlanken Kapitel und der Countdown bis zur Klassenfahrt machen den Roman kurzweilig. Der literarische Kniff, eine Passage von Vincents Flucht als Prolog voranzustellen, lässt einen von Anfang an mitfiebern, wie um alles in der Welt er in diesen Schlamassel geraten ist und wie er wieder herausfinden wird.
Besonders gelungen sind - neben der wirklich anrührend sanften und sehr plastischen Figur Vincents - die starken weiblichen Figuren. Zum einen seine Babysitterin Charlotte, die als einzige wirklich Verständnis für Vincents Spleenigkeit aufbringt, und dann eben "Die Jacke", die ganz vorurteilsfrei und offen auf ihn zugeht.
"Ich bin Vincent und ich habe keine Angst" ist ein erfrischend unverkrampfter Roman über das Thema Mobbing. Auch ohne Hinweis auf das derzeit in Schulen grassierende Cybermobbing, ist das Thema vielschichtig aufgearbeitet und dürfte vielen Mobbingopfern aus der Seele sprechen. Enne Koens schreibt dabei auch witzige und schöne Passagen in die Geschichte hinein, sodass es kein Opfer-Roman ist. Etwa wenn sich Vincent für sein Survival-Kit Kondome kaufen möchte, da man darin besonders gut Wasser transportieren kann, und den Verkäuferinnen im Supermarkt bei seiner Frage nach Kondomen die Kinnlade herunterklappt. Die Übersetzung von Andrea Kluitmann transportiert Vincents Geschichte sehr gut lesbar ins Deutsche. Am Ende lernt der gequälte Junge, dass er sich wehren muss. Mit Hilfe seiner Freundin schafft er es endlich, von seinem Leid zu erzählen.

"Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft. Ich bin nicht verrückt. Ich bin anders, so wie alle es sind. Ich erzähle alles."
Enne Koens: "Ich bin Vincent und ich habe keine Angst"
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Mit Illustrationen von Maartje Kuiper
Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 192 Seiten, 15 Euro, ab 9 Jahren.