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Ensor - Legende vom Ich

Das Skelett hat sich wohlig ausgestreckt. Über seinem grinsenden Schädel weht ein Haarkranz, karges Überbleibsel einer Löwenmähne. So hat James Ensor sich 1888 auf einer Radierung dargestellt, er hat sie "Mein Portrait im Jahre 19601" genannt. Auch in den anderen Selbstportraits spart er nicht an Ironie und Witz: Ensor als Skelett in seinem Atelier, die Pinselspitze auf sich selbst, nicht auf die Leinwand gerichtet; Ensor als Nachfolger Rubens, trägt er doch dessen üppig geschmückten Hut; Ensor als saurer Hering, über den sich zwei Totenköpfe gierig hermachen, Ensor, dessen Kopf wie der eines Schweines oder aber wie der des Johannes den Kritikern dargeboten wird und immer wieder Ensor als Schmerzensmann, als Jesus Christus, unverstanden von den Menschen, vor allem den Kritikern, aber sehend, sich der Größe seiner Kunst bewußt.

Simone Hamm | 31.01.2000
    Im Musee royaux des Beaux Arts in Brüssel findet derzeit eine große Retrospektive seiner Werke statt. Dazu gibt es einen auch in deutscher Sprache erschienen Katalog mit ausführlichem Textteil und hervorragend gedruckten Fotos. Und der Dumont Verlag hat Joachim Heusinger von Waldeggs Biographie "Ensor - die Legende vom Ich" in einer aktualisierten Neuauflage herausgegeben. Heusinger von Waldegg will Leben und Werk nicht verschränken. Denn Ensor hat sich in seinen Bildern neu erfunden, hat seinen Zuschauern entgegengerufen:

    "Ich werde allen die schöne Legende vom Ich erzählen, vom universellen Ich, vom einzigartigen Ich, vom dickbäuchigen Ich, vom großen Wort Sein: Ich bin, wir sind, ihr seid, die sind."

    Heusinger von Waldegg betont, daß sich Ensors Werk nicht langsam entwickelt habe, sondern daß seine Bilder geradezu im sprunghaften Wechsel der Stile entstanden seien. Deshalb interpretiert er Bild für Bild. Und das sehr ausführlich, thematisch geordnet, nicht chronologisch. Denn chronologisch könne man Ensors Werke schon deshalb nicht betrachten, da Ensor viele ältere Gemälde nach Jahren wieder und wieder überarbeitet, übermalt habe.

    So fügte er etwa einem schwarzen Gaukler bunte Masken hinzu oder setzte sich selbst einen Blumenhut auf den Kopf. Das Bild hinter dem Bild, die Schicht unter der Schicht faszinieren Heusinger von Waldegg, rufen geradezu nach einer psychoanalytischen Interpretation. Mit ihrer Hilfe will er die verschlüsselten Inhalte der Bilder Ensors dechiffrieren, Bilder, die bersten von volkstümlichen, sittengeschichtlichen, biagraphischen Anspielungen.

    Von einem kurzen Aufenthalt in Brüssel abgesehen, wo er erfolglos an der Akademie studiert hatte, hat Ensor sein ganzes Leben in Ostende verbracht. Seine Eltern sind ein englischer Ingenieur aus Brüssel, der Brücken baute und eine einfache Frau aus Ostende. Sie hatten sich bei einem Ferienaufenthalt des Vaters an der Küste kennengelernt. In der provinziellen Enge Ostendes, ohne Wirkungskreis, ohne Arbeit, dominiert von seiner Frau und deren unverheirateter Schwester, wird der feine Mann zum Trinker und zum Gespött der Stadt. Ensor wird groß im Souvenirladen seiner Großeltern. Dieser Laden, voll von Muscheln, Chinoiserien, Spitzen, ausgestopften, seltenen Fischen, Masken, Büchern, Drucken, Waffen, Katzen, Papageien und Affen, beflügelte die Phantasie des Knaben.

    "Sein Interesse für das Leben der Dinqe, entscheidend für seine Entwicklung zum magischen Realismus wird durch den Bericht über eine Entdeckung bestätigt. Ensor schildert seine Überraschung, die ihm sin dunkler und schreckenerfüllter Bodenraum bereitete. An diesem Ort, vermutlich ein Lager für ausrangierte Artikel des Ladens, wimmelte es von abscheulichen Spinnen, Muscheln, Pflanzen und Tieren ferner Meere, schönem Porzellan, Rost und blutfarbenem Plunder roten und weißen Korallen, Affen, Schildkröten, getrockneten Molchen und ausgestopften Chinesen."

    All das wird man auf Ensors Bildern wiederfinden. All das und vor allem Masken. Masken, wie sie im Souvenirladen verkauft wurden, flämische Masken, wie sie bei den Karnevalsumzügen, die Ensar liebte, getragen wurden. Masken von Clowns, Harlekins, Afrikanern, Pierrats, Dämonen, japanischen Schauspielern, Fabeltieren. Der Maske in Ensors Werk, Sinnbild der Verlarvung und Verstellung, aber auch des sich Versteckens, hat Heusinger von Waldegg großen Raum gegeben. Die Welt sei für Ensar ein einziger großer Mummenschanz gewesen, das Leben eine Maskerade. In Ensors berühmtsten Gemälde "Christi Einzug in Brüssel" , läuft eine maskierte Menschenmenge auf den Betrachter zu. Christus ist der soziale Erneuerer, der verkannte Revolutionär. Das feindselige Publikum, durch Masken verzerrt, versteht ihn ebenso wenig wie es den genialen Ensor versteht:

    "Form und Inhalt sind nicht zu trennen. In der Aggresivität der hellen Farben entlädt sich Ensors Zorn auf ein Publikum, das ihn verkannte: Diese Masken gefielen mir auch, weil sie das Publikum verletzten, das mich so schlecht aufgenommen hatte. So dient die Maske als Instrument des Angriffs wie der Verteidigung. Als isoliertes Künstlerindividuum sieht er sich der feindlichen Masse gegenüber. Diese wiederum gibt den Verlust ihrer Identität, ihrer Gesichtslosigkeit in entstellten Gesichtszügen zu erkennen."

    Ein Maskenbild ist auch auf dem Schutzumschlag von Heusinger von Waldeggs "Ensor - Legende vom Ich" zu sehen, leider seitenverkehrt und falsch betitelt. In "Alte Frau mit Masken" hat Ensor ein Portrait verwandt, das eine Dame bei ihm bestellt und dann doch nicht gekauft hatte, weil es ihr nicht gefiel. Erbost verfremdete Ensor das Aufragswerk, malte Runzeln und Warzen in das Gesicht der gütigen Alten und setzte Fratzen um sie herum. Da ist sie wieder, die von Heusinger von Waldegg so hervorgehobene Doppelfunktion der Maske. Waffe und Schild zugleich.

    Joachim HeusinSer von Waldeggs Bildinterpretationen eröffnen neue, spannende Sichtweisen: auf die Kunst Ensors und auf den Meister selbst, seine Angst vor Frauen, vor der Fremde etwa, die vielleicht ein und dieselbe Angst ist. Und auf Ensors lebenslangen Kampf um Anerkennung.