"‘Manglitz‘ – ‚Canellas, guten Abend Herr Manglitz‘" - "Und es hat gestunken hinten und vorne" - "‘Da war schon Jemand da mit 100 Mille‘ – ‚mit 100 Mille war schon Jemand da‘? ‚Und es kommt noch mehr‘" - "Dieser letzter Spieltag endigt vor der Staatsanwaltschaft" - "Ich war vielleicht n Sauhund, aber die Sache war mir zu heiß." - "Wenn Sie nicht zahlen, gewinnt Bielefeld." - "Dann sieht man, dass irgendwas ihn innerlich aufgefressen hat." - "Wir sind mächtig und Sie sind allein."
Alles beginnt am 6. Juni 1971 in der Nähe von Offenbach. Horst Gregorio Canellas, der Präsident des Fußball-Bundesligisten Kickers Offenbach, feiert seinen 50. Geburtstag mit einer Gartenparty. An einem Tag wie aus dem Bilderbuch – erinnert sich Karlheinz Volz – Offenbachs Torwart: "Blauer Himmel, Sonnenschein, warm - hat einen wunderschönen Bungalow, einen wunderschönen Garten gehabt. Und alles war da."
Canellas Gäste: Journalisten und hochrangige Vertreter aus dem Profi-Fußball. Pressefotos von der Feier zeigen auch den Bundestrainer. Helmut Schön nippt in Canellas Garten an einem Orangensaft. Die Partystimmung verfliegt allerdings schnell. Gegen 12 Uhr startet der Gastgeber ein Tonbandgerät, das auf dem Gartentisch mit der Blümchen-Decke platziert worden war. Bundestrainer Schön hatte es für ein Geburtstags-Geschenk gehalten. Als er kurz darauf seinen Orangensaft beiseite stellt und mit aschfahlem Gesicht das Anwesen verlässt, ist im deutschen Profi-Fußball nichts mehr wie es war.
Schalke-Bielefeld: das erste Skandalspiel
Horst Gregorio Canellas – geboren in Sachsen, Sohn eines mallorquinischen Südfrüchte-Händlers. In Hessen blüht das Familienunternehmen unter seiner Leitung so richtig auf. "Hemdsärmeliger Typ aber auch charismatisch", erinnert sich Erwin Kremers. Den späteren Nationalspieler hatte Canellas aus Mönchengladbach verpflichtet. "Extrem fleißig war der Mann, extrem erfolgsorientiert. Der hat ja mit Obst- und Gemüsehandel gehabt in Frankfurt und musste da immer schon um vier oder fünf Uhr morgens antreten."
"Also mein Vater war ein starker Charakter", fasst es seine Tochter Gabriela zusammen. "Er war der dominierende Charakter im Haus. Er war ein strenger Vater aber auch ein gerechter. Aber es war schon anstrengend für uns Kinder. Er hat viel von uns verlangt."
Ehrgeizig und bestimmend vom Präsidenten-Schreibtisch bis ins Kinderzimmer. Aber hinter der harten Schale und den streng zurückgekämmten Haaren versteckt sich ein weicher Kern – der verschmitzte Blick auf vielen Fotos verrät ihn. "Ein super Mensch letztendlich, der hilfsbereit war ohne Ende und der auch sehr viel Humor hatte. Also mit dem konntest Du richtig lachen, das war ein ganz liebenswerter Mensch."
Der aber im Frühjahr 1971 wenig zu lachen hat. An seinen 50. Geburtstag kann Horst Gregorio Canellas noch keinen Gedanken verschwenden. Es sind stressige Wochen. Die Kickers stecken im Abstiegskampf. Das zehrt – auch an Canellas. 20 Zigaretten pro Spiel sind keine Seltenheit. Am 17. April, sechs Wochen vor der Geburtstagsfeier, holen die Offenbacher ein respektables Unentschieden gegen Bayern München. Die Schlagzeilen gehören an diesem Tag aber Arminia Bielefeld: Heribert Faßbender, Reporter Sportschau: "Bielefeld gewinnt in Gelsenkirchen verdientermaßen mit 1:0"
Arminia Bielefeld - Offenbachs direkter Konkurrent im Abstiegskampf besiegt Schalke, eines der besten Teams der Liga. Ein Ergebnis, das Fragen aufwirft und eine Partie, die in die Geschichte eingehen wird als erstes nachweislich manipuliertes Spiel der Saison – als Auftakt zum Bundesliga-Skandal. Nur ahnt das an diesem Tag noch Niemand. Bielefelds Trainer und das Präsidium der Arminia hatten die Schalker gekauft. Ohne ihre Mannschaft zu informieren.
Die Fans auf den Rängen mit ihren "Schieber"-Rufen haben ein gutes Gespür. Und spätestens ab dem Bielefelder Sieg auf Schalke häufen sich die Gerüchte über Manipulationen - weil sich die kuriosen Ergebnisse häufen. In Offenbach macht sich Horst Gregorio Canellas so seine Gedanken: "Es wurde immer so dargestellt: Es wäre, es war, es durfte nichts sein, und es hat gestunken hinten und vorne."
Gehalt der Profi-Fußballer war auf 1.200 DM gedeckelt
Acht Spieljahre alt ist die Bundesliga zu diesem Zeitpunkt. Durch ihre Einführung 1963 sollte der deutsche Klubfußball den Sprung ins Profizeitalter schaffen. Weg von regionalen Ligen hin zu einer bundesweiten Elite-Spielklasse mit Zukunftsperspektive. Sie versprach reizvollere Duelle, mehr Zuschauer und mehr Einnahmen. Die Rahmenbedingungen legte der DFB im Bundesligastatut fest. Und das sollte sich schon bald als Fußfessel entpuppen:
"Durch das Bundesligastatut wurden die Gehälter gedeckelt. In der Regel auf 1.200 DM pro Monat. Das entsprach so ungefähr dem Monatsverdienst eines westdeutschen Arbeitnehmers", sagte Bernd M. Beyer - Fußballhistoriker. Für sein Buch "Die Saison der Träumer" hat er sich intensiv mit dem Bundesligaskandal beschäftigt.
"Wenn man hier überlegt, dass es um Spieler ging wie Beckenbauer, Netzer und Müller, die damals absolute Welt-Stars waren und die natürlich von ausländischen Vereinen Angebote hatten, die in Millionenhöhe lagen, dann kann man sich vorstellen, dass diese Zahlen aus der Zeit gefallen waren und dass es praktisch ein Praxis illegaler Zahlungen in der Bundesliga gab. Also es war ein offizielles Geheimnis, dass in den Vereinen neben den offiziellen Gehältern auch Schwarzgelder gezahlt wurden."
Ein weiterer Geburtsfehler: Anders als heute existierte damals keine 2.Bundesliga als Unterbau: Wer aus der Bundesliga abstieg, landete in einer von fünf Regionalligen, in denen man gerade mal mit einem Zehntel der Einnahmen rechnen konnte, die es in der Bundesliga zu verdienen gab. Die Vereinsbosse versuchten deshalb mit allen Mitteln erstklassig zu bleiben und das offenbar um jeden Preis.
Die Gerüchte um verschobene Spiele reißen nicht ab – im Gegenteil. Offenbachs Torwart Karlheinz Volz: "Ende April gingen die Gerüchte um, dass mein TWK vom 1.FCK in O angerufen hat und damit er in Normalform spielt, Geld gefordert hat. Er hat auch gleichzeitig gesagt, wenn Sie nicht zahlen, geht das Spiel andersrum aus."
Der Torwartkollege beim 1.FC Köln heißt Manfred Manglitz, ist Nationalspieler und geschäftstüchtig. Das wird später in den Verhandlungen vor dem DFB-Sportgericht aktenkundig: 25.000 DM will er haben, damit er gegen Offenbachs Konkurrenten Rot-Weiss Essen nicht danebengreift.
Manglitz kontaktiert Canellas. "Hey, die zahlen so und so viel für ne Niederlage. Was ist euch das wert, wenn wir gewinnen?" Canellas ist misstrauisch, muss aber handeln. Er fragt beim DFB um Rat. "Wenn wir auf Siegprämie etwas bezahlen, also dass so Fußball gespielt wird, wie gespielt werden müsste, ob uns dann was passieren kann? ‚Nein, das nicht – Sie kaufen ja kein Spiel‘. Damit war ich abgesichert."
Canellas - der Aufrechte unter Schummlern?
Mit dieser informellen Auskunft gibt sich Canellas zufrieden. Er zahlt, Manglitz hält, Köln gewinnt. Wichtiger aber: Horst Gregorio Canellas ist jetzt mittendrin: "Ich war eigentlich überrascht, wie schnell man in diesen Schummelkreis hineingekommen ist." Canellas fühlt sich im Recht.
Als Aufrechter unter den Schummlern. Doch so einfach ist das nicht. Zwar verstößt Canellas mit seiner Zahlung nicht gegen DFB-Statuten – unmoralisch ist es trotzdem und in anderen Branchen wäre es auch sehr wohl strafbar, betont der Korruptions-Historiker Jens Ivo Engels. "Wären die Spieler Beamte, dann würde es sich um Vorteilsnahme handeln und dann wäre es die Vorstufe zur Bestechlichkeit, weil die Vorteilsnahme bei Beamten auch die Geldannahme für Handlungen umfasst, die sie eigentlich tun müssten. Natürlich muss jeder Spieler gewinnen wollen."
Ende Mai und zwei Wochen vor Canellas großer Party ist genau das das Problem. Zu diesem Zeitpunkt der Saison finden sich gleich mehrere Vereine, für die es sportlich nichts mehr zu holen gibt – der Klassenerhalt sicher, die Spitzenplätze außer Reichweite. Gewinnen lohnt sich nicht mehr. Auch nicht für Schalke 04.
Nach ihrer Schummel-Premiere gegen Bielefeld wenden sich die Schalker vor dem drittletzten Spieltag an ihren nächsten Gegner: Kickers Offenbach. Beim abstiegsbedrohten Club von Horst Gregorio Canellas wittern sie ein Geschäft.
Es ist schon spät an diesem lauen Mai-Abend. Im gediegenen Bungalow der Familie Canellas ist Ruhe eingekehrt. Die Kinder schlafen. Und dann steht die Versuchung vor der Tür: Schalkes Schatzmeister Heinz Aldenhoven hat Gladiolen dabei für die Dame des Hauses und ein unmoralisches Angebot für ihren Ehemann: Für einen Offenbacher Sieg fordert Aldenhoven 100.000 DM sowie ein Vorkaufrecht auf die begehrten Offenbacher Spieler Erwin und Helmut Kremers. Canellas lehnt ab.
Stattdessen informiert er den Deutschen Fußballbund. All das gibt er später vor dem DFB-Kontrollausschuss zu Protokoll. "Ich hatte Gespräche bereits vor unserem Spiel bei Schalke als ich mitteilte, und das wird mir auch bestätigt heute aus dem DFB-Haus, dass die Punkte mir von Schalke angeboten wurde durch Herrn Aldenhoven."
Der DFB reagiert nicht. Nimmt Canellas nicht ernst. Das Spiel gegen Schalke gewinnt Offenbach. Ziemlich überraschend. "Da waren wir klar besser. Da kann ich mich wie heute noch dran erinnern. Ganz klar besser. Und der Sieg war zu 100 Prozent verdient", sagt Erwin Kremers, der in diesem Spiel ein Tor für Offenbach erzielt und zum Saisonende mit seinem Bruder wechselt. Nach Schalke.
DFB tut nichts und will erst Beweise sehen
Es ist Anfang Mai und Horst Gregorio Canellas steckt mittendrin im Schummelkreis. Er weiß, was läuft und wendet sich erneut an den DFB. "Ich habe laufend mit dem DFB über dieses Problem gesprochen. Ich habe auch einen Weg gesucht beim DFB, wie man das aufdecken könnte." Und der deutsche Fußballbund tut: Nichts. Fordert stattdessen Canellas auf, Handfestes zu liefern, will Beweise sehen. Die deutlichen Hinweise auf manipulierte Spiele reichen den Verbandsoberen nicht.
Buchautor Bernd M. Beyer: "Irgendeine Zeitung hat damals zur Haltung des DFB geschrieben: Man muss wohl erst die Leiche zur Polizei bringen, um einen Mord zu melden. Man verschloss die Augen vor der Wirklichkeit weil man die Konsequenzen fürchtete. Weil völlig klar war: Wenn das irgendwie an die Öffentlichkeit kommt, ist das ne Riesenblamage, eben weil man es beim DFB vorher gewusst hatte."
Und so steuert die Bundesliga auf einen dramatischen letzten Spieltag zu. Rot-Weiss Essen ist schon abgestiegen. Einen zweiten Club wird es noch erwischen. Frankfurt, Offenbach, Oberhausen und Bielefeld sind gefährdet. In der Woche vor dem Saisonabschluss berichtet der Kicker über angebliche Bestechungsversuche rund um die Spiele von Oberhausen und Bielefeld. Verdächtig erscheint auch Köln gegen Offenbach. Nicht ohne Grund: Denn beim 1.FC Köln steht ja Manfred Manglitz im Tor. Und der will erneut Kasse machen, als sich Offenbachs Präsident Horst Gregorio Canellas bei ihm meldet.
"Man hat mich angerufen und hat gesagt: Wie sieht das aus und so. Ist da was zu machen. Da hab ich gesagt: Zu machen ist alles, aber das ist alles gar nicht so einfach. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich wollte auch mal ausloten, wie weit denn sowas ging. Und dann hab ich Canellas gefragt: Was ist euch das denn wert?" Manglitz weiß, dass Offenbach unbedingt gewinnen muss, um den Abstieg sicher zu verhindern. Er einigt sich mit Canellas auf 100.000 DM Bestechungsgeld.
Aber Canellas spielt ein doppeltes Spiel. Er will dem DFB endlich beweisen, dass in der Bundesliga gemauschelt wird und zeichnet sein Telefonat mit Manglitz auf. Canellas hat jetzt, was er will. Abermals versucht er es beim DFB, drängt noch am Vorabend der Partie auf eine Absetzung des letzten Spieltags. Erfolglos.
Und so nimmt Horst Gregorio Canellas am 5. Juni seinen Platz auf der Ehrentribüne des Kölner Stadions ein. Die Verhandlungen mit Manglitz hatte er abgebrochen – schließlich hat er jetzt die Beweise, die er braucht. Köln gewinnt. Für Offenbach bedeutet die Niederlage den Abstieg. Vor allem, weil Arminia Bielefeld sensationell bei Hertha BSC in Berlin gewonnen hat. Wo die Hertha bis dahin die ganze Saison ungeschlagen war.
Nach Canellas' "Geburtstagsparty" reagiert auch der DFB
Noch 20 Stunden, bis Canellas auf den Startknopf seines Tonbandgeräts drückt. Zurück zum 6. Juni – Diesem Tag aus dem Bilderbuch. Wie gemacht für die Gartenparty zum 50. Geburtstag von Horst Gregorio Canellas. "Der Bundestrainer Helmut Schön war eingeladen, es war die gesamte Presse, alles was Rang und Namen hat von FAZ bis Kicker, die regionale Presse, Bild-Zeitung – es war alles da." Und das hatte seinen Grund, Offenbachs Torwart Karlheinz Volz wird bald erfahren, was sein Präsident vorhat.
"Ich verfolge ein Ziel: Zu beweisen, dass der letzte Spieltag, zumindest der letzte Spieltag irregulär abgelaufen ist." Canellas lässt die Bombe hochgehen. Wilfried Straub, Liga-Sekretär beim DFB, kommt gerade rechtzeitig zum großen Knall. "Als ich da hin kam, sah ich die Antennenwälder da stehen von den Fensehanstalten und Rundfunkanstalten. Sah einen gebeugten Bundestrainer Helmut Schön vor einem laufenden Kasten stehen, der gerade sich die Stimme seines Nationalspielers Bernd Patzke anhörte."
Canellas hat nicht nur das Gespräch mit Kölns Torwart Manglitz aufgezeichnet – auch die Berliner Spieler Bernd Patzke und Tasso Wild haben sich kaufen lassen. Von den Bielefeldern – mit denen sich Canellas zum Schein ein Wettbieten geliefert hat. Bundestrainer Schön stellt seinen Orangensaft beiseite und verlässt mit aschfahlem Gesicht das Anwesen. Im deutschen Profi-Fußball ist nichts mehr, wie es war.
Jetzt reagiert der DFB. Knallhart. Er setzt Hans Kindermann auf den Fall an – der schon bald den Beinamen "Chefankläger" trägt. "Wenn wir das nicht beseitigen, ist der deutsche Berufsfußball kaputt und der gesamte deutsche Fußball wird immer mit dem Makel herumlaufen: Ihr seid ja Manipulanten, ihr seid ja bestechlich, euren Spielausgängen kann ja kein Mensch mehr trauen."
DFB verurteilt eine Handvoll Spieler - und Canellas
Ziemlich genau drei Monate nach Canellas Enthüllungen fällt das DFB-Sportgericht bereits die Urteile: gegen eine Handvoll Spieler um Manglitz und Patzke und gegen Horst Gregorio Canellas. "Das Sportgericht verkündigt folgendes Urteil: Den Vorstandsmitgliedern des Vereins Kickers Offenbach, den Herren Canellas, Klein, Koch und Mann wird die Fähigkeit aberkannt, ein Amt, im Verband, im Verein oder im DFB zu bekleiden." Der Bundesligaskandal – verursacht von ein paar schwarzen Schafen. Wenn es nach dem DFB geht.
Canellas: "Die Rolle des DFB war traurig, sie war nur darauf ausgelegt, das hat man mir auch gesagt: Wir können keine langen Prozesse gebrauchen, da wir unseren Spielbetrieb beginnen müssen." Als sich der Rauch gelegt hat, ist Canellas Leben aus den Angeln gehoben. Der Rücktritt als Präsident bei Kickers Offenbach nur der Anfang: "Da man mir unterstellte, dass ich manipuliert hätte, kam mein guter Name sehr schnell in Verruf und das wirkte sich geschäftlich stark aus."
Canellas ist diskreditiert auf allen Ebenen. Und am Ende? Er kämpft. Angetrieben von seiner Familie: "Nachdem man gesagt hat: Es ging nur von Offenbach aus, nur von Canellas - da hat mir meine Frau gesagt, das kannst Du jetzt nicht auf Dir sitzen lassen. Jetzt müssen wir weiter aufdecken."
Ein Mann gegen den DFB. Der ihn einschüchtert: "Das hat man mir am Anfang des Skandals gesagt: Wir sind mächtig und Du bist allein." Aber der Einzelkämpfer hat Erfolg. Der Skandal, den der DFB als kleines Strohfeuer verkaufen will, weitet sich zum Flächenbrand aus. Immer mehr Spieler, immer mehr Vereine verstricken sich, werden von Canellas entlarvt und packen schließlich beim DFB aus.
Das ganze Ausmaß des Bundesligaskandals wird erst nach Jahren sichtbar. Fast die halbe Liga hat mitgeschummelt. Acht Vereine sind verwickelt – am Ende werden 52 Spieler sowie sechs Funktionäre gesperrt. Bielefeld und Offenbach werden die Lizenzen entzogen.
Damit schlittert die Bundesliga in eine Glaubwürdigkeitskrise. Die Fans wenden sich ab: Der Zuschauerschnitt in den Stadien sinkt und ist während der nächsten beiden Spielzeiten so niedrig wie nie seit Gründung der Liga.
Und der DFB? Passt seine überholten Strukturen an: Die Gehaltsobergrenze wird abgeschafft, eine zweite Liga als Unterbau kommt auch. Doch einen Reflex kann der Verband nicht ablegen. Auch bei anderen Skandalen in späteren Jahrzehnten wird der DFB für seine mangelnde Aufklärungsbereitschaft kritisiert werden – "Die Sommermärchen-Affäre rund um mögliche Bestechungen bei der Vergabe der WM 2006 ist nur ein Beispiel.
Die zweigleisige Geschichte des Whistleblowers
Canellas kehrt nicht mehr in den Fußball zurück. Obwohl er könnte. 1976 hebt der DFB seine Sperre auf. Heute, 50 Jahre, nachdem er den Skandal aufgedeckt hat, ist das Bild von Horst Gregorio Canellas noch immer unscharf. Schwierig zu erkennen, was er wirklich war: Aufklärer oder Mitschummler?
"Ich glaube schon, dass er auch Mittäter war. Er hat meinen Zwillingsbruder Helmut und mich angeboten, da wo wir gerade das nächste Spiel hatten. Weil er wusste: Pass auf, das müssen wir gewinnen, um den Klassenerhalt zu schaffen und hat dann gesagt. Wenn wir hier gewinnen, bekommt ihr einen Kremers umsonst", sagt der ehemalige Offenbacher Spieler Erwin Kremers.
Unstrittig ist, dass er es mit seinem Aufklärungsdrang am Ende ernst meinte – in diesen sechs Tagen im Juni rund um den letzten Spieltag. Zu offen ging er mit den aufgezeichneten Telefonaten um, zu viele Menschen informierte er. Korruptionshistoriker Jens Ivo Engels: "Ich glaube, es ist tatsächlich eine zweigleisige Geschichte. Jemand, der lange mitgemacht hat und dann aber irgendwann die Seite gewechselt hat und sich als Whistleblower dargestellt hat. Typischerweise sind das dann Insider, die aus irgendeinem Grund mit dem System nicht mehr zurechgekommen sind und versuchen dann, sich durch das Whistleblowing eigene Vorteile zu erarbeiten. Andererseits ist es natürlich auch sehr mutig, weil die soziale Ächtung solcher Whistleblower damals sehr stark war, viel stärker als heute." Das traf auf Canellas definitiv zu. "Wenn man so seine Züge und so betrachtet, dann sieht man auch, dass irgendwas ihn innerlich auffrisst oder aufgefressen hat", so Tochter Gabriela.
Das Leben gönnt ihm auch später wenig Ruhe. Sechs Jahre nach dem Bundesligaskandal besteigt Canellas mit seiner Tochter Gabriela den Lufthansaflieger Landshut. Terroristen entführen die Maschine. In Mogadischu werden seine Tochter und er zusammen mit den anderen Geiseln gewaltsam befreit. In einem Interview Jahre nach dem Drama wird Horst Gregorio Canellas gefragt, was denn für ihn schlimmer gewesen sei: Der Bundesligaskandal oder die Geiselnahme der Landshut? Seine Antwort:
"Der Skandal war schlimmer, viel schlimmer. Mogadischu hatte noch menschliche Züge."