Doch was sagt Hondrich? Wie viele der 166 Seiten des quietschgelben Suhrkampbandes sind der Aufklärung und nicht der Aufzählung gewidmet? Nur knapp ein Fünftel, nämlich die aktuelle, frisch-intelligente Einleitung, sowie ein profunder, aber bereits mehrfach publizierter Vortrag von 1988 über "Skandalmärkte und Skandalkultur". Alle weiteren Beiträge des Buches - über Tschernobyl, den Kälbermastskandal, die korrupten DDR-Eliten (ach, wen kümmert all dies noch?) -, fügen den beiden grundsätzlichen Texten nichts hinzu. Im Gegenteil, sie dokumentieren, wie sich der Autor - sein gutes Recht, aber schlechter Stil - ausgiebig bei sich selbst bedient. Kern der Phänomenologie ist ein Satz Émile Durkheims, daß Gesellschaften Moral nur in Konfrontation mit Unmoral erlernen. Skandale lösen Scheideprozesse aus, bei denen sich eine Zivilisation evolutionär an veränderte Bedingungen anpaßt. Sie sind per se nicht aus der Welt zu schaffen, sondern nützliche kollektive Fieberschübe. In diesem Sinne gilt auch Hondrichs Aperçu: "Nichts ist den guten Sitten zuträglicher als der Skandal, vorausgesetzt, er vollendet sich." Dann nämlich, nach kathartischer Reinigung und Festlegung neuer Grenzen, hat die Gesellschaft Gewißheit erlangt, was sie noch tolerieren mag - und was nicht mehr.
Auch das Verlagswesen kennt seine guten Sitten. Wo Schludrigkeit aufhört und Dreistigkeit anfängt, läßt sich indes nur schwer bestimmen. Ist es an sich nicht illegitim, alte Aufsätze hintereinander zu reihen, gebiert die durchgängig unveränderte Präsenz-Form der Texte manch wunderliches Leseerlebnis. Wo Hondrich - durchaus einleuchtend - im Zusammenhang mit dem CDU-Parteispendenskandal den Kopf von Roland Koch fordert, wirkt die Textfassung aus dem Jahr 2000 heute schon satirisch. Längst haben die politischen Überlebensstrategien der CDU diese Forderung - so gut sie auch begründet war - ad absurdum geführt. Gewiß, niemand schreibt gerne seine Texte um - aber dann sollte er vielleicht auf die eine oder andere Buchveröffentlichung verzichten. Denn Resteverwertung allein gebiert keine Nachhaltigkeit; das wäre ein falscher Analogieschluß aus den Ökoskandalen der Vergangenheit.