So kennt man Marieluise Fleißer nicht. Verbreitet waren bisher vor allem Fotos aus den 20er Jahren, die ein sanftes Gesicht mit modischem Bubikopf zeigen. Auf dem Umschlag der neuen Biografie, die Hiltrud Häntzschel jetzt über die Ingolstädter Autorin verfasst hat, sieht uns aber ein junges Mädchen sehr streng an, die Haare hoch gesteckt, hinter kleinen Brillengläser kluge Augen, die ohne jede Koketterie nüchtern in die Welt sehen.
So sah die Schülerin aus, kurz vor dem Abitur, das sie 1920 in Regensburg bestand. Das Bild ruft uns in Erinnerung, dass weibliche Abiturientinnen damals noch eine Ausnahme waren und dass Studentinnen wie eine neue Spezies nach dem Ersten Weltkrieg an den Universitäten auftauchten - so wie die Fleißer in München, wo sie Literatur und Theatergeschichte belegte, ihre ersten Erzählungen schrieb und dann ihr erstes Theaterstück "Fegefeuer in Ingolstadt".
Die Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel möchte auch inhaltlich ein neues Bild von Marieluise Fleißer vermitteln. Sie möchte sie "als Handelnde ausfindig machen, nicht nur als (zumeist schlecht) Behandelte". Sie stellt sie als kämpferische junge Frau vor, erotisch und intellektuell gleichermaßen aktiv, begabt mit Denkschärfe und Ironie. Damit richtet sie sich gegen die Auffassung, die vor allem in den 70er und 80er Jahren verbreitet war, dass man sich die Autorin ungefähr so vorzustellen habe wie die unglücklichen Mädchen in ihren frühen Geschichten wie "Ein Pfund Orangen" bis "Die Ziege", die wehrlos den Übergriffen mitleidloser Männern ausgesetzt sind.
So war die junge Marieluise Fleißer natürlich nicht. Aber das weiß man eigentlich schon länger. Was also bringt die neue Biografie? Hiltrud Häntzschel hat sehr genau in vielen Archiven recherchiert und bringt spannende Details zum Vorschein. So ist zwar das große Lob von Walter Benjamin für die Prosa der Fleißer bekannt, nicht aber, dass auch Thomas Mann ihre Novellen lobte als "Bekundungen eines überaus gesunden und starken Talentes, humorvoll ohne platte Gutmütigkeit und zu großen Hoffnungen berechtigend".
Dass dieses Talent nicht nur von den Zeitumständen behindert wurde, stellt Häntzschel berechtigterweise heraus. Marieluise Fleißer verlobte sich 1929, im Jahr ihres großen Berliner Skandal-Erfolgs um das Stück "Pioniere in Ingolstadt" mit Hellmuth Draws-Tychsen, der einen unheilvollen Einfluss auf sie ausübte. Als sie 1933 nach Ingolstadt zurückkehrte, war sie finanziell ausgeplündert und psychisch gebrochen. Es ist erschütternd, nachzulesen, wie sehr sich die Fleißer von Draws missbrauchen ließ, wie sehr sie sich auch im Geiste verbiegen ließ.
Wie konnte eine durchaus anerkannte Autorin in diese Hörigkeit hineinschlittern? War es eine psychische Disposition? Waren es die Verletzungen, die Bertolt Brecht in seiner unbekümmerten Art der Fleißer zugefügt hat? Denn der geniale Augsburger hat die junge Kollegin zwar gefördert, aber emotional immer wieder fallenlassen. Dass auf ihn kein Verlass war, das betonte er ja gerade Frauen gegenüber mit einem gewissen Stolz.
Häntzschel verwendet viel Energie darauf nachzuweisen, dass Brecht im Leben der Fleißer eine weitaus geringere Rolle gespielt habe, als sie selbst dies im Alter dargestellt hat. So pocht Häntzschel darauf, dass Brecht nicht das Vorbild für den Dichter in "Avantgarde" gewesen sein kann. Aber hatte nicht Therese Giehse gesagt, es gäbe kein gültigeres Porträt von Brecht? Sie musste es doch eigentlich wissen.
Es liest sich ganz einleuchtend, wie Häntzschel darlegt, dass die Fleißer sich im Alter ihre Erinnerungen zu einer neuen Lebenserzählung zurechtgebogen habe, aber schlüssig beweisen kann die Biografin das nicht. Ihre "Korrekturen" bleiben Deutungen oder Spekulationen, das war schon in ihrem Buch über "Brechts Frauen" so. Nur ein Beispiel: Dass zu der Berliner Premiere von "Pioniere in Ingolstadt" Hausschlüssel zum Pfeifen mitgebracht wurden, das sei bei einer anderen Premiere geschehen und von der Fleißer nachträglich für sich reklamiert worden. Zufällig ist nun vor ein paar Wochen ein Zeitungsausschnitt mit einer Premierenkritik gefunden worden, in der genau davon berichtet wird: "Marieluise Fleißer, das bleiche blonde Mädchen, stand so lange, von ihren Hauptdarstellern umgeben und behütet, auf der Bühne, bis die Haustorschlüsselhabitués verschwunden waren und die literarische Jugend Berlins ihr ungestört huldigen konnte." Vielleicht war sie doch keine so schlechte Zeugin ihrer Vergangenheit.
Streckenweise nimmt Hiltrud Häntzschels Biografie den Charakter einer Enthüllungsgeschichte an, ohne dass sie wirklich gravierende Enthüllungen vorlegen kann. Denn auch wenn die Fleißer tatsächlich Mitglied der Reichsschrifttumskammer war, was sie nach dem Krieg allerdings verschwieg, so bleibt es doch dabei, dass sie in jenen Jahren verstummte, dass sie eine Verfemte war, dass ihre "Pioniere" und ihr Roman "Mehlreisende Frieda Geier" auf dem Index standen. Und es ist auch nicht wahr, dass frühere Fleißer-Frscher die Jahre 1933 bis 1945 immer gnädig übersprungen hätten, das muss hier auch in eigener Sache richtig gestellt werden: Im Nachlassband der Gesammelten Werke gibt es entgegen Häntzschels Behauptung sehr wohl ein Kapitel mit Texten aus jener Zeit.
Die biografischen Rätsel der Marieluise Fleißer werden wohl noch Generationen beschäftigen, die Gefahr ist nur, dass man darüber leicht die Qualität der Dichterin vergessen kann. Das tut Hiltrud Häntzschel dankenswerterweise nicht. Sie wendet sich auch abgelegenen Werken zu, etwa dem Essay über den Stummfilmstar Buster Keaton aus dem Jahr 1927. Darin bewundert sie nicht nur, wie kongenial die Fleißer dessen Kunst sprachlich einfing, sondern analysiert, dass sie darin auch viel von ihrer eigenen Schreibweise verriet, zum Beispiel die gekonnte Herstellung von Unbeholfenheit.
Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007
410 Seiten, gebunden, 22,80 Euro
So sah die Schülerin aus, kurz vor dem Abitur, das sie 1920 in Regensburg bestand. Das Bild ruft uns in Erinnerung, dass weibliche Abiturientinnen damals noch eine Ausnahme waren und dass Studentinnen wie eine neue Spezies nach dem Ersten Weltkrieg an den Universitäten auftauchten - so wie die Fleißer in München, wo sie Literatur und Theatergeschichte belegte, ihre ersten Erzählungen schrieb und dann ihr erstes Theaterstück "Fegefeuer in Ingolstadt".
Die Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel möchte auch inhaltlich ein neues Bild von Marieluise Fleißer vermitteln. Sie möchte sie "als Handelnde ausfindig machen, nicht nur als (zumeist schlecht) Behandelte". Sie stellt sie als kämpferische junge Frau vor, erotisch und intellektuell gleichermaßen aktiv, begabt mit Denkschärfe und Ironie. Damit richtet sie sich gegen die Auffassung, die vor allem in den 70er und 80er Jahren verbreitet war, dass man sich die Autorin ungefähr so vorzustellen habe wie die unglücklichen Mädchen in ihren frühen Geschichten wie "Ein Pfund Orangen" bis "Die Ziege", die wehrlos den Übergriffen mitleidloser Männern ausgesetzt sind.
So war die junge Marieluise Fleißer natürlich nicht. Aber das weiß man eigentlich schon länger. Was also bringt die neue Biografie? Hiltrud Häntzschel hat sehr genau in vielen Archiven recherchiert und bringt spannende Details zum Vorschein. So ist zwar das große Lob von Walter Benjamin für die Prosa der Fleißer bekannt, nicht aber, dass auch Thomas Mann ihre Novellen lobte als "Bekundungen eines überaus gesunden und starken Talentes, humorvoll ohne platte Gutmütigkeit und zu großen Hoffnungen berechtigend".
Dass dieses Talent nicht nur von den Zeitumständen behindert wurde, stellt Häntzschel berechtigterweise heraus. Marieluise Fleißer verlobte sich 1929, im Jahr ihres großen Berliner Skandal-Erfolgs um das Stück "Pioniere in Ingolstadt" mit Hellmuth Draws-Tychsen, der einen unheilvollen Einfluss auf sie ausübte. Als sie 1933 nach Ingolstadt zurückkehrte, war sie finanziell ausgeplündert und psychisch gebrochen. Es ist erschütternd, nachzulesen, wie sehr sich die Fleißer von Draws missbrauchen ließ, wie sehr sie sich auch im Geiste verbiegen ließ.
Wie konnte eine durchaus anerkannte Autorin in diese Hörigkeit hineinschlittern? War es eine psychische Disposition? Waren es die Verletzungen, die Bertolt Brecht in seiner unbekümmerten Art der Fleißer zugefügt hat? Denn der geniale Augsburger hat die junge Kollegin zwar gefördert, aber emotional immer wieder fallenlassen. Dass auf ihn kein Verlass war, das betonte er ja gerade Frauen gegenüber mit einem gewissen Stolz.
Häntzschel verwendet viel Energie darauf nachzuweisen, dass Brecht im Leben der Fleißer eine weitaus geringere Rolle gespielt habe, als sie selbst dies im Alter dargestellt hat. So pocht Häntzschel darauf, dass Brecht nicht das Vorbild für den Dichter in "Avantgarde" gewesen sein kann. Aber hatte nicht Therese Giehse gesagt, es gäbe kein gültigeres Porträt von Brecht? Sie musste es doch eigentlich wissen.
Es liest sich ganz einleuchtend, wie Häntzschel darlegt, dass die Fleißer sich im Alter ihre Erinnerungen zu einer neuen Lebenserzählung zurechtgebogen habe, aber schlüssig beweisen kann die Biografin das nicht. Ihre "Korrekturen" bleiben Deutungen oder Spekulationen, das war schon in ihrem Buch über "Brechts Frauen" so. Nur ein Beispiel: Dass zu der Berliner Premiere von "Pioniere in Ingolstadt" Hausschlüssel zum Pfeifen mitgebracht wurden, das sei bei einer anderen Premiere geschehen und von der Fleißer nachträglich für sich reklamiert worden. Zufällig ist nun vor ein paar Wochen ein Zeitungsausschnitt mit einer Premierenkritik gefunden worden, in der genau davon berichtet wird: "Marieluise Fleißer, das bleiche blonde Mädchen, stand so lange, von ihren Hauptdarstellern umgeben und behütet, auf der Bühne, bis die Haustorschlüsselhabitués verschwunden waren und die literarische Jugend Berlins ihr ungestört huldigen konnte." Vielleicht war sie doch keine so schlechte Zeugin ihrer Vergangenheit.
Streckenweise nimmt Hiltrud Häntzschels Biografie den Charakter einer Enthüllungsgeschichte an, ohne dass sie wirklich gravierende Enthüllungen vorlegen kann. Denn auch wenn die Fleißer tatsächlich Mitglied der Reichsschrifttumskammer war, was sie nach dem Krieg allerdings verschwieg, so bleibt es doch dabei, dass sie in jenen Jahren verstummte, dass sie eine Verfemte war, dass ihre "Pioniere" und ihr Roman "Mehlreisende Frieda Geier" auf dem Index standen. Und es ist auch nicht wahr, dass frühere Fleißer-Frscher die Jahre 1933 bis 1945 immer gnädig übersprungen hätten, das muss hier auch in eigener Sache richtig gestellt werden: Im Nachlassband der Gesammelten Werke gibt es entgegen Häntzschels Behauptung sehr wohl ein Kapitel mit Texten aus jener Zeit.
Die biografischen Rätsel der Marieluise Fleißer werden wohl noch Generationen beschäftigen, die Gefahr ist nur, dass man darüber leicht die Qualität der Dichterin vergessen kann. Das tut Hiltrud Häntzschel dankenswerterweise nicht. Sie wendet sich auch abgelegenen Werken zu, etwa dem Essay über den Stummfilmstar Buster Keaton aus dem Jahr 1927. Darin bewundert sie nicht nur, wie kongenial die Fleißer dessen Kunst sprachlich einfing, sondern analysiert, dass sie darin auch viel von ihrer eigenen Schreibweise verriet, zum Beispiel die gekonnte Herstellung von Unbeholfenheit.
Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007
410 Seiten, gebunden, 22,80 Euro