Seit einigen Jahren haben es westliche Demokratien mit einem irritierenden Phänomen namens Populismus zu tun. Seine Entstehungsgründe werden allmählich verstanden. Unbeantwortet ist jedoch die Frage, wie die Institutionen der repräsentativen Demokratie und die Bürgergesellschaft auf diesen Frontalangriff reagieren sollen. Im Folgenden möchte ich vier Facetten und den möglichen "Wahrheitskern" des Populismus herausarbeiten, dann einige Reaktionen durchspielen, wie sein Einfluss einzudämmen ist und wie die Demokratie als Herrschafts- und Lebensform am Ende gestärkt aus ihrer Krise hervorgehen kann.
1. Zunächst also zu den Entstehungsgründen des Populismus. Er ist als Vorschein der aufziehenden Massendemokratien des späten 19. und des 20. Jahrhunderts keineswegs neu, hat aber seit den 1970er Jahren eine Renaissance erfahren. Damals machten sich zuerst in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten "Steuerrebellen" bemerkbar, denen die Abgabenlast zu hoch war und Sozialtransfers an Bedürftige und erst recht an Einwanderer nicht gefielen. Diese Verteilungskritik spitzte sich bei Teilen der Bevölkerung zur kategorischen Ablehnung von Immigration aus nicht-europäischen, vor allem arabisch-muslimischen Herkunftsgebieten zu, die als integrationsunwillig und seit 2001 und den folgenden Terroranschlägen in Europa als gefährlich galten. Der Populismus, der auch bei der deutschen AfD anfangs eher wirtschaftsliberal motiviert war, schlug in Xenophobie um, Symbole der Migration wie Minarette und Burkas erregten Ärgernis. Bewegungen wie die italienische Lega Nord verbanden den Wohlstandschauvinismus des reichen Europa mit der Nostalgie des christlich-weißen Abendlandes.
Europäische Union als Feindbild
Bei der Lega Nord, genau wie dann bei Silvio Berlusconis Forza Italia und Beppe Grillos Cinque Stelle, kam als drittes Element die pauschale Wut auf die politischen Eliten hinzu, gestützt durch antipolitische Fernseh- und Internetmedien. Hier, in der Ablehnung von Bonzen und Bossen, hatten ja schon die Antriebe des Populismus im 19. Jahrhundert gelegen, der stets einen Anflug von Klassenkampf hatte. "Wir hier unten gegen die da oben" war und ist der Schlachtruf des Populismus in modernen Demokratien, nach dem Vorbild der Volkstribune in antiken Vorläuferdemokratien, in denen sich der Plebs der Privilegierten auf brachiale Weise entledigen konnte.
Ein viertes Feindbild trat in den letzten Jahrzehnten hinzu, das Politikverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Wohlfahrtschauvinismus wie in einer Nussschale bündelte: die Europäische Union. In den Augen der Nationalpopulisten ein Ausbund an korrupter, bürgerferner Politik, was die Euroeinführung, die Flüchtlingspolitik und die Relativierung der nationalstaatlichen Souveränität betrifft. "Brüssel" (und zunehmend "Berlin" als Symbol der deutschen Hegemonie in der EU) ist aber nicht nur die bevorzugte Zielscheibe, sondern auch ein ideales Aktionsterrain der Nationalisten, die im Straßburger Parlament gleich in fünf Fraktionen präsent und in der Bekämpfung des "Euromonsters" einig sind - man erinnere sich an die Phalanx der Euro-Rechten Anfang des Jahres in Koblenz.
Populismus ist eine "Gefühlspolitik"
Mit dieser Vierfachansage haben Populisten in fast allen Regionen Europas mobilisiert, im Süden eher in einer linksgerichteten Variante, im Norden mit einer klaren Schlagseite nach rechts und rechtsaußen. Der aktuelle Populismus aktualisiert diverse historische Spaltungs- und Konfliktlinien moderner Politik: Föderalisten wie die Lega Nord oder der Vlaams Belang in Belgien nähren sich aus dem primären Gegensatz von Zentrum und Peripherie beziehungsweise Stadt und Land, Islamkritiker und fundamentalistische Christen beleben den konfessionellen Konflikt, mit dem Front National lebt der Klassenkonflikt auf, übersetzt in den formalen Gegensatz von Oben und Unten, und inhaltlich das Eigene gegen das Fremde stellend. Wenn Pegida-Demonstranten "Wir sind das Volk!" skandieren, ist das gewiss nicht republikanisch gemeint; sie reanimieren völkisch-identitäre Vorstellungen von Demokratie und unterminieren Verfassungsprinzipien und den Rechtsstaat, attackieren den Schutz von Minderheiten und die Freiheit von Andersdenkenden. Im Kern halten Populisten, auch der linken Spielart, nationalstaatliche Souveränität gegen supranationale Gebilde hoch, was übrigens analog für den US-amerikanischen Populismus gilt, der stets gegen den Bundesstaat und Washingtons Establishment eingestellt war. Mit dieser Mobilisierung - meistens getragen von politischen Außenseitern, die ihre Volksnähe bekunden, auch wenn sie, wie Berlusconi, Trump oder Putin, Milliardäre und Oligarchen sind - zogen populistische Bewegungsparteien in Parlamente ein, wo sie, wie in Dänemark, Österreich oder Italien, kaum noch in der rechten Schmuddelecke isoliert sind. Vielfach schafften sie es an die Macht wie in Ungarn und Polen.
Da stellt sich die Frage, wie gefährlich dieses politische Erdbeben ist für die Demokratie, wie wir sie kannten, wenn die schon länger grassierende Politikverdrossenheit sich in Teilen zur generellen Ablehnung der Demokratie radikalisiert? Das Personal der Berufspolitik wird durch politische, besser: anti politische Unternehmer ersetzt, die jeder Sachkenntnis entbehren und Unverantwortlichkeit zum Prinzip erheben. Die Grundlagen der Repräsentation werden unterlaufen durch Führerpersonen, die sich von den Massen feiern und qua Plebiszit ihre charismatische Macht bestätigen lassen. Wenn der selbsterklärte deal maker Donald Trump eine aggressive politische Bewegung ins Weiße Haus führt und sich nicht nur einen Militär als Stabschef holt, wird die autoritäre Herrschaft in Umrissen erkennbar - die sich ein Fünftel der Amerikaner wünschen, darunter vor allem Angehörige der jüngeren Generation.
Populismus ist zuallererst eine "Gefühlspolitik", eine schwer zu bändigende Mischung aus Zukunftsängsten, Ressentiments und paranoiden Stimmungen, die allerorts Feinde wittert. Die populistischen Protestbewegungen zehren an den auf Konsens und Kompromiss angelegten Volksparteien, namentlich den Sozialdemokraten, die sich nach 1945 und vor allem seit den 1970er Jahren einen Platz in den demokratischen und kulturellen Eliten erobert und von den "kleinen Leuten" entfernt haben. Die rechte Mitte hat die Herausforderung besser verkraftet, obwohl mit ihren Parteien eine größere programmatische Übereinstimmung vorliegt. Zusammenfassend ist damit ein Strukturwandel der liberalen Demokratie beschrieben und eine tiefe Krise ihrer Legitimität und Repräsentativität.
Signalfunktion oder faschistische Bewegung?
2. Wie darauf reagieren? Dazu liegen zwei konträre Einschätzungen der Funktion und der Brisanz des Populismus vor. Für die einen ist er ein rechtzeitiger Weckruf angesichts der oligarchischen Tendenzen in modernen Demokratien. Somit wäre der Populismus durchaus demokratieverträglich - er könnte die Eliten zu einer Kurskorrektur zwingen und tatsächliche Übel wie soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit angehen. Diverse Linkspolitiker und Intellektuelle wollen den nach rechts gekippten Populismus also nach links wenden und den heimatlos gewordenen Antikapitalismus umbesetzen, die populistischen Gefühlsenergien also für eine breite Volksbewegung nutzen. So treten Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien auf, so versucht es der Oppositionsführer der Linken im französischen Parlament Jean Luc Mélenchon, so sehen es Podemos und Syriza und die munizipalistischen Strömungen in Südeuropa.
Die meisten Zeitdiagnosen billigen dem Populismus diese neutrale Signalfunktion nicht zu. Für den Historiker Timothy Snyder ist er längst umgekippt in eine rassistische Bewegung gegen Ausländer, Fremde und Einwanderer und bildet eine Gefahr, die dem faschistischen Angriff auf die liberale Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleichkommt. In der Tat zielen Rhetorik und Propaganda vieler rechtspopulistischer Bewegungsunternehmer und ihrer intellektuellen fellow traveller genau in diese Richtung einer konservativen Revolution, deren Wucht sich zeigt, wo Populisten wie Viktor Orbán in Ungarn die Macht übernommen haben, oder wo sie wie in Polen Verfassung und Rechtsstaat schwer beschädigen. Diese Regime haben sich mit dem Theorem der "illiberalen Demokratie" ein griffiges Konzept gegeben. Ihrem autokratischen Wahn haftet ein seltsam pervertiertes Freiheitspathos an, als müsse man die europäische Gesellschaft von schwersten Lasten der Fremdbestimmung befreien. So geriert sich auch ein Islamfresser wie Geert Wilders als größter Verteidiger der holländischen Toleranz.
Aufstand gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit
Äußere Feinde Europas verstärken diese Tendenz. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sich Autokraten wie Erdoğan, Putin und Trump über die Verfassung (und notabene: über jeden Anstand) hinwegsetzen, wird von der europäischen Rechten als Signal aufgefasst, obwohl oder besser: weil diese Anti-Europäer die Grundpfeiler der europäischen Gesellschaft antasten. Bemerkenswert ist hier die Anfälligkeit von Präsidialsystemen für die autoritäre Wende. Wo Parlamente noch intakt sind, werden ihre Rechte geschwächt, Parteien behindert und verboten. Generell werden intermediäre Instanzen, so der Fachausdruck für Parteien, Verbände und Nichtregierungsorganisationen, ausgeschaltet, wird der juristische Berufsstand an der Ausübung der dritten Gewalt gehindert und die freie Presse als vierte Gewalt zensiert. Andere Unterstützer sind durchaus willkommen, vor allem religiöse Gemeinschaften, die oft unter staatlicher Kontrolle agieren, während "ausländische" Nichtregierungsorganisationen, genau wie unabhängige Forschung und Wissenschaft, unter Kuratel stehen. Höchst beunruhigend ist die intensive Verquickung politischer mit wirtschaftlicher Macht in einer Oligarchie, die sich über eigene Medien, aber auch über kritische Berichterstattung im Gespräch hält.
Gleichwohl: Wer diese autoritäre Welle verstehen und eindämmen will, muss das gar nicht so kleine Körnchen Wahrheit an der populistischen Agitation begreifen. Sie macht das starke Bedürfnis nach einer politischen Wende sichtbar, sie ist auch ein Aufstand gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit und häufige Pseudo Vernünftigkeit der Politik, wie sie radikal von Margaret Thatcher vertreten wurde und pragmatisch auch von Angela Merkel inszeniert wird. Die Ressentiments, die das erzeugt hat, sind in allen Partei-Hauptquartieren unterschätzt worden, ebenso wie der enorme Reputationsverlust der Volksvertreter, den TV-Prominente wie Trump, Clowns wie Beppe Grillo oder Seiteneinsteiger und Milliardäre wie Berlusconi herbeigeführt haben. Die tiefe Krise der repräsentativen Demokratie hat ökonomische, kulturelle und sozialpsychologische Dimensionen: Hinter dem Wohlstandschauvinismus lodert ein Panikfeuer im Mittelstand, verwandelt sich die Scham prekarisierter Arbeiter in Wut, die dann beide ihre (im Weltmaßstab zweifellos vorhandenen) Privilegien gegen Einwanderer und Minderheiten verteidigen. Selten richtet sich der Affekt gegen die wirtschaftlichen Eliten selbst, auch wenn deren exorbitante Privilegien (symbolisch: die Managerboni) allmählich ins Visier geraten; eher zielt das Ressentiment auf die "linksliberale Presse", auf "68er-Professoren", "Emanzen" und erfolgreiche Einwandererkinder, die sich zum Zerrbild eines "versifften links-rot-grünen 68er Deutschland" fügen, wie es Jörg Meuthen von der AfD in dankenswerter Klarheit ausdrückte. Halten wir fest: Das Vordringen des autoritären Nationalismus hat den Raum des Politischen und der diskursiven Auseinandersetzung der europäischen Gesellschaft neu vermessen. Die populistischen Bewegungen sind so legitim wie andere soziale Bewegungen der letzten Jahrzehnte, doch müssen ihre antidemokratischen Potenziale klar benannt und bekämpft werden.
Demokraten müssen sich mit allen Mitteln wehren
3. Wir hatten gefragt: Was tun? Demokratische Gesellschaften sind alles andere als hilflos und können die drei "R" ins Feld führen: Responsivität, Resilienz und Resistenz - Begriffe, die aus den Naturwissenschaften in die Sozialforschung und die politische Rede eingewandert sind. Soll heißen: Erstens müssen populistische Rhetorik und Mobilisierung stichhaltiger beantwortet und durch effektive Politik konterkariert werden. Demokratien müssen zweitens normativ, institutionell und lebensweltlich gegen populistische Angriffe immun werden. Wo aber die Dämme gebrochen sind, müssen sich Demokraten drittens mit allen gesetzlichen Mitteln zur Wehr setzen und Widerstand leisten. Man könnte auch sagen: Demokratische Politik muss bürgernäher, selbstbewusster und wehrhafter werden. Das ist die historische Chance, die Trump, Kaczyński und Konsorten bieten.
a) Als responsiv bezeichnet die Medizin ein Organ, das auf äußere Reize reagiert, und die Psychologie ein Bewusstsein, das auf Kommunikationssignale eingeht. Nicht-responsives Verhalten kann einen Organismus schädigen und eine Psyche verhärten. Auch wenn man sich vor Analogien hüten soll, ist eine nicht-responsive Politik ähnlich zu definieren: Die Volksvertretung darf sich nicht taub stellen gegen Symptome, die ein reales und dringendes Problem anzeigen und auf Veränderung drängen. Erstes Beispiel: Die Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 hat in einigen Ländern - responsiv - zu einem rascheren Ausstieg aus einer Technologie geführt, deren Risiken nicht mehr ernsthaft zu leugnen waren.
Man mag ein solches Vorgehen für "opportunistisch" oder - das Gegenteil davon - für "verbohrt" halten, womit man jedoch die Eigengesetzlichkeit des repräsentativen Systems verkennen würde. Dieses beruht ja nicht auf einem imperativen Mandat, wie viele Populisten unterstellen, und schon gar nicht auf der Dauerkonsultation von Meinungsumfragen. Aber es muss "Frühwarnsysteme" in Gestalt neuer sozialer Bewegungen, von Expertensystemen oder Gerichtsentscheidungen zur Kenntnis nehmen, ohne seine relative Eigenständigkeit aufzugeben. Dem autoritären Nationalismus nicht nachzugeben, seine Hinweise auf Defizite, Widersprüche und Vertrauensverluste aber nicht zu ignorieren, ist die Aufgabe kluger responsiver Politik.
Antwortfähigkeit auf populistische Propaganda ist gefragt
Ein zweites Beispiel: Die rechtspopulistische Agitation gegen die Aufnahme von Flüchtlingen forderte eine pseudo-responsive Basta-Politik: Festlegung von Obergrenzen, Schließung der Grenzen, Revision der Asylgesetze und Missachtung der Flüchtlingskonventionen. Unterm Strich war die europäische Politik durchaus "responsiv" - die humanitäre Rhetorik von Merkels "Wir schaffen das" wurde de facto revidiert, Europa verwandelte sich an vielen Stellen in eine Festung. Damit war die Grenze zum Opportunismus innen- wie außenpolitisch überschritten, das EU-System durch die Verweigerung von Solidarität besonders ostmitteleuropäischer Staaten massiv beschädigt.
Responsivität ist also kein absoluter Maßstab: Würden handelnde Politiker gewissermaßen eins zu eins Volkes Willen umsetzen, gerierten sie sich wie Marionetten; würden sie ein reines Eigenleben führen und sich zwischen Wahlen um Stimmungen und Haltungen in der Bevölkerung nicht kümmern, verlören sie die Bodenhaftung und den Anspruch auf Vertretung des Volkes. Der Politikerfolg der AfD und anderer Parteien mit klarer Ausrichtung gegen Immigration ist damit erklärbar, dass etablierte (und weltanschaulich für zuständig betrachtete) Parteien nicht so reagierten, wie dies ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft erwartet hatte. Das humanitär begründete Insistieren der deutschen Kanzlerin auf der Unmöglichkeit von Obergrenzen spiegelt das Verhältnis von Prinzipientreue und Gewissensverpflichtung zu Opportunitätserwägungen und der Frage des Machterhalts, die in einer realistischen Betrachtung von Politik ebenso relevant sind, unpopuläre Entscheidungen aber nicht ausschließen. Responsivität gegenüber völkisch-autoritären Positionen bedeutet demnach nicht, diese zu übernehmen und eins zu eins umzusetzen; es bedeutet vielmehr, sie nicht zu ignorieren, ihren "Wahrheitskern" zu erkennen, an die Wurzel der Probleme zu gehen und in unseren Beispielen weniger riskante alternative Technologien zu entwickeln und Fluchtursachen zu bekämpfen. Mehr Response, Antwortfähigkeit auf populistische Propaganda ist erforderlich, und diese kann im Ergebnis zum genauen Gegenteil des populistischen Forderungskatalogs führen, wenn überzeugendere Politikangebote herauskommen, und sich die Performance politischen Handelns generell erhöht. Das beinhaltet einen entschlossenen Themawechsel - weg von den Lieblingsthemen der Rechtspopulisten wie Immigration, Islam und Innere Sicherheit, ohne diese zu vernachlässigen, und hin zu den Chancen, die eine Energie- und Verkehrswende bieten, zur Wiederherstellung gesellschaftlicher Solidarität und Gemeinschaft, zu einer europäischen Demokratie. Auf die Wut der sogenannten Abgehängten, wie die Anhänger der Rechtspopulisten oft tituliert werden, reagiert am besten eine Politik, die in vernachlässigten Regionen echte Perspektiven schafft, und die Städte als Orte erhält, an denen auch Menschen mit geringeren Einkommen leben können.
Bedrohung der Gewaltenteilung
b) Vom Verfall europäischer Solidarität war gerade die Rede, bedrohlicher ist die Attacke auf die Gewaltenteilung, die eine autoritäre Politik unter dem Slogan "Das Volk steht über dem Recht" in Polen und Ungarn propagiert. Sie muss man energisch in die Schranken weisen. Das betrifft besonders Angriffe auf die "dritte Gewalt", die unabhängigen Gerichte, Verstöße gegen Menschen- und Bürgerrechte, darunter so elementare Errungenschaften wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Presse und nicht zuletzt ganz fundamentale Habeas-Corpus-Rechte, die in England Ende des 17. Jahrhunderts am Beginn des Rechtsstaates standen und eine richterliche Haftprüfung vorschreiben. Insofern ist der autoritäre Nationalismus ein echter Testfall für die Nachhaltigkeit des Rechtsstaats. Das amerikanische Beispiel im Jahr 2017 zeigt, dass man sich nicht immer auf die Standhaftigkeit der Legislative verlassen kann; Trumps Republikanische Partei ist in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch nach rechts gerückt und opportunistisch genug, um den willkürlich und selbstherrlich agierenden Präsidenten gewähren zu lassen - mit dem fatalen Ermächtigungsargument, er sei ja vom Volk gewählt worden. Die Erosion der Gewaltenteilung verläuft in autoritären Übergangsphasen schleichend; wenn sie einmal ausgehöhlt ist, sind die Institute der Legislative und Judikative oft nicht mehr stark genug, das nötige Gegengewicht zu bilden; dann kann auch die "vierte Gewalt" genannte Presse ihre Rolle nicht mehr spielen.
Resilienz ist ein anderes Wort für "Wehrhaftigkeit" oder "kämpferische Demokratie", beides Schlüsselbegriffe des antifaschistischen Widerstands. Der Faschismus, schrieb der aus München vertriebene Staatsrechtler und Politologe Karl Loewenstein 1937 im amerikanischen Exil, sei kein begrenztes Phänomen, sondern ein an vielen Fronten auf die Zerstörung der liberalen Gesellschaft zielender Generalangriff. Dagegen richtete sich sein klassisch gewordener Aufruf für eine "militant democracy", die als "wehrhafte Demokratie" in den Sprachgebrauch deutscher Verfassungsrechtler Eingang fand. Loewensteins analoge Frage wäre, wie sich Demokratien heutzutage vor autoritären Herausforderungen schützen. Am stärksten bedroht erscheint die Integrität offener Gesellschaften durch Terrorzellen und Einzelpersonen, die in Metropolen wie Berlin oder Manchester, aber auch in Kleinstädten wie im fränkischen Ansbach oder im nordfranzösischen Saint Étienne du Rouvray Angst und Schrecken verbreiten, demokratische Regierungen zu Überreaktionen veranlassen wollen und Muslime durch die erwartbare Anheizung islamophober Propaganda in Loyalitätszwang mit den Radikalen setzen.
Im Notfall muss die Bürgergesellschaft Widerstand leisten
Offene Gesellschaften tun sich schwer gegen solche Heimtücke. Die eklatanten Pannen, die zuletzt im "Fall Amri" europaweit offenbar wurden, lassen Zweifel aufkommen, ob die Demokratie "militant" genug ist, um die Auseinandersetzung bestehen zu können. Wer allein nach schärferen Gesetzen ruft, sollte zunächst Sorge tragen, dass die bestehenden konsequent angewandt werden. Und einer wirklich wehrhaften Demokratie geht es nicht um die Bekämpfung unliebsamer Meinungen und Ziele, mögen sie dem Geist und Buchstaben des Grundgesetzes noch so sehr widersprechen. Zu verhindern sind vielmehr konkrete Gewalttaten und deren Vorbereitung, die laut Strafgesetzbuch allesamt längst verboten sind. Gebrannte Kinder wie Loewenstein wollten Feuer mit Feuer bekämpfen, also Feinden der Demokratie notfalls demokratische Rechte entziehen. Die Möglichkeit des Missbrauchs war ihnen gewärtig, Sicherheitsgesetze werden häufig dazu benutzt, die politische Opposition zu behindern oder ganz zu verbieten. Deren Unabhängigkeit muss also unbedingt gesichert und wiederhergestellt werden, und zu Resilienz gehört, den Respekt vor gewählten Volksvertretungen und generell vor den erwähnten intermediären Instanzen zu erneuern, die im Kult der Unmittelbarkeit einer populistischen "Volksdemokratie" in Plebisziten und sozialen Netzwerken unterzugehen drohen. Und der Beteiligungsdrang, der sich bei der populistischen Anhängerschaft zeigt, die sich auf Straßen und Plätzen versammeln, die nach langer Abstinenz wieder wählen gehen, die in Vereinen tätig werden, auch diese verdruckste Politisierung also muss und kann in sinnvolle Beteiligungsarenen umgelenkt und republikanisch domestiziert werden. Weniger in großflächigen Volksabstimmungen, die komplizierte Sachverhalte nach dem Brexit-Muster auf Ja/Nein-Fragen vereinfachen, sondern im Ausbau von Beratungs- und Erörterungsgremien interessierter und informierter Bürger vor allem auf kommunaler Ebene liegen die Chancen einer Demokratisierung der Demokratie.
Möglichkeiten um Widerstand zu leisten sind zahlreich
c) Notfalls muss die Bürgergesellschaft in extremen Situationen aber auch entschieden Widerstand leisten - eine Eventualität, die das deutsche Grundgesetz explizit einräumt, wenn es in Artikel 20, Absatz 4 zur Gewaltenteilung statuiert: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Der Zusatz wurde 1968 ins Grundgesetz aufgenommen, als die (im Rückblick übertriebene) Befürchtung bestand, die seinerzeit der Staatsgewalt gewährten Notstandsbefugnisse könnten von ihr missbraucht werden. Das war kein Freibrief für beliebige Widerstandsakte, sondern ein Vorratsbeschluss für den extremen Notfall, dass eine verbrecherische Regierung Grundrechte nicht mehr schützt oder selbst verletzt und den Bürgern keine legalen und friedlichen Mittel mehr dagegen zur Verfügung stehen.
Davor und bis dahin, das demonstriert gerade die amerikanische Opposition, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Widerstand zu leisten: Man kann Dekrete (wie den von Trump verhängten Immigrationsbann) unterlaufen, indem man Flüchtlinge aufnimmt und sie (wie es eine Firma angekündigt hat) bevorzugt einstellt; Sammelklagen einleiten und Gerichte mit als illegal betrachteten Maßnahmen der Exekutive befassen; in der Öffentlichkeit fundiert sogenannten "alternativen Fakten" entgegentreten, die eine Regierung und ihre Kommunikationsmaschinen streuen; dabei den eigenen Gebrauch der sozialen Medien kritisch hinterfragen; Anhänger von Autokraten mit den Folgen ihrer Wahl und ideologischen Unterstützung konfrontieren; die Ressourcen der Städte und föderalen Gebietskörperschaften stärken; Unternehmen und Wirtschaftsverbände gegen Regierungsmaßnahmen mobilisieren, die moralisch fragwürdig und materiell für sie nachteilig sind; Demonstrationen in geeigneter zeitlicher und regionaler Verteilung organisieren; prominente Bündnispartner, die Bedenken bekommen haben, aus dem Lager der Autokraten herauslösen; wissenschaftliche Expertise generieren und, wo die staatliche Finanzierung ausgetrocknet wird, für sie alternative Quellen erschließen; und nicht zuletzt kann man die parlamentarische Opposition, so sie Bestand hat und den Willen zum Widerstand aufbringt, stützen und sich künftig jeder pauschalen Politikverachtung und Politikerschelte enthalten. Die Selbstermächtigung des US Präsidenten ist ein Test auf die Fähigkeiten der amerikanischen Graswurzel Organisationen, von abgeklungenen Protestgruppen wie Occupy, die sich während der Bankenkrise organisiert hatten.
Europäische Union kann hindernd agieren
Das alles erleben wir gerade analog in Polen, Ungarn oder Rumänien, wo sich Frauen, Intellektuelle und Anwälte gegen Korruption, Amtsmissbrauch und die Beschneidung der Wissenschaftsfreiheit einsetzen. Man muss den allergrößten Respekt haben vor Aktivisten, die sich in Warschau und vielen polnischen Provinzstädten schützend vor die Unabhängigkeit der Justiz stellen, die in Rumänien seit Monaten gegen eine durch und durch korrupte Regierung kämpfen, die in Budapest um den Bestand der Central European University kämpfen, die durch die Türkei marschiert sind und dem Neuen Sultan die Stirn bieten. Ziel ist auch die Verhinderung rechtspopulistischer Dominoeffekte. Und wer meint, sich bei den anstehenden Wahlen enthalten zu sollen, um nicht bloß irgendein geringeres Übel zu wählen, ist wohl falsch beraten - in Österreich zählte im Dezember 2016 buchstäblich jede Stimme, und die zunehmende Unkalkulierbarkeit politischer Prozesse beziehungsweise die mangelnde Prognosekraft demoskopischer Umfragen unterstreichen die moralische Bürgerpflicht, wählen zu gehen. Eine Pflicht zur Zurückhaltung gegenüber den "inneren Angelegenheiten anderer Staaten" gilt hingegen nicht mehr; dazu ist die europäische Gesellschaft zu sehr zusammengewachsen und die Interdependenz nationaler Entscheidungen und Verhältnisse unumkehrbar. Ob sich die Gegner von Wilders, Le Pen oder Grillo durchsetzen, war und ist ebenso relevant für die deutsche Innenpolitik wie Erfolg oder Misserfolg der AfD für die Niederlande, Frankreich oder Italien von Bedeutung ist.
Die Europäische Union schließlich kann als kollektiver Akteur nach innen und außen Widerstand leisten. Mitgliedsländern, die massiv Bürgerrechte verletzen, sich Korruption zu Schulden kommen lassen oder die Gewaltenteilung außer Kraft setzen, können Regionalmittel entzogen oder andere Sanktionen erteilt werden; wer Handelsverträge verletzt oder Einfuhrzölle und andere Handelshemmnisse verfügt, kann mit entsprechenden Gegenmaßnahmen bedacht werden. Willküraktionen von Autokraten im Innern wie gegenüber der Weltgemeinschaft müssen zur Konsequenz haben, dass die europäische Gesellschaft enger zusammenrückt und die Kooperationsbereitschaft der EU-Mitgliedstaaten Gestalt annimmt.
So lautet das Fazit: Der Populismus ist im Endeffekt beides - ein Weckruf an die etablierte Politik, sich sozial-progressiv zu erneuern und Reformen auf den Weg zu bringen, und ein Alarmsignal an wachsame Bürgerinnen und Bürger, die Demokratie zu verteidigen. Die Feinderklärung der völkisch-autoritären Nationalisten ist nicht zu ignorieren. Wenn sie angenommen und zurückgewiesen wird, hat die europäische Gesellschaft die Chance zu mehr Demokratie und kann sich dann den wirklich entscheidenden Problemen wie Klimawandel, Finanzkrise und sozialer Zerklüftung zuwenden, von denen populistische Zerstörer nur ablenken.