"Die Münchner Spruchkammer befasste sich in fünfstündiger Sitzung mit dem Fall des früheren Reichsbildberichterstatter Heinrich Hoffmann. Die Verhandlung ließ noch einmal seine Laufbahn abrollen, vom Gelegenheitsfotografen zum Lichtbildner des ‚Dritten Reiches‘," so wurde über das Spruchkammerverfahren gegen Heinrich Hoffmann, Reichsbildberichterstatter und Hitler-Fotograf, berichtet, das am 31. Januar 1947 stattfand.
"Er bestritt jede propagandistische Absicht seiner fast unübersehbar großen Bilderchronik des Dritten Reiches, nannte sich einen Diener der Kunst … und als solchen ein Opfer seines Berufes. Der Vorsitzende Josef Purzer verkleinerte nicht das hohe technische Können Hoffmanns: 'Ihre Werke sind meisterhaft und die Psychose, die im deutschen Volk entstanden ist, die wird sehr wesentlich auf diese Bildberichterstattung, auf diese Verherrlichung Hitlers zurückgeführt. Denn alles das, was angeblich schön und groß an diesem Menschen war, ist hier dargestellt worden. Die Wirklichkeit sah allerdings ganz anders aus.'"
Während der Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg, dem zwölf weitere Prozesse folgten, die führenden Vertreter verschiedener NS-Elitegruppen zur Verantwortung zog, sollte die mit der Befreiung Deutschlands einsetzende Entnazifizierung die Bevölkerung überprüfen, um so ehemalige Nazis aus dem öffentlichen Leben, der Wirtschaft aber auch aus wichtigen gesellschaftlichen Stellungen zu entfernen.
Was mit Euphorie begann, blieb irgendwann stecken
"Das Ziel kann nur darin bestehen, die Schicht derjenigen, die das ganze System getragen haben, diese Schicht zu beseitigen und durch eine neue, demokratische Führungsschicht zu ersetzen", sagte Karl Heinrich Knappstein im August 1946. Der Ministerialdirektor im Hessischen Ministerium war in der amerikanischen Besatzungszone mit Fragen der politischen Säuberung betraut. Doch was mit Euphorie begann, blieb irgendwann stecken: Lange Zeit galt die Entnazifizierung als gescheitert. Dabei habe die Bevölkerung die Entnazifizierung anfangs mitgetragen, erklärt Parteienforscher Jürgen Falter:
"Das hat sich aber relativ schnell geändert, weil man dann auf die Idee kam, da gehen so viele durch das Netz und andere, die eigentlich gar nicht so stark aktiv waren innerhalb der NSDAP, die sich nach außen hin zumindest nichts haben zu Schulde kommen lassen, die verfangen sich in diesem Netz, sodass dann bald der Spruch kam ‚Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen‘. Mental war die Entnazifizierung kein besonders erfolgreiches Verfahren."
Die Pläne der Alliierten waren zu Beginn ambitioniert:
"Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Narzissmus zu vernichten."
Das hatten die alliierten Siegermächte auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 proklamiert und in der Konferenz von Potsdam im Juli darauf bekräftigt.
Die Historikerin Hanne Leßau: "Das ist von Anfang an so ein relativ abstraktes Kriegsziel, Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. Aber was das eigentlich heißen soll, das ist dann erst in den letzten Kriegsjahren richtig ausgearbeitet worden."
Die Besatzer agieren nicht einheitlich
Doch ehe der Kontrollrat nach Kriegsende einheitliche Ausführungsbestimmungen für alle Besatzungszonen erlassen konnte, hatte schon jede für sich mit dem politischen Großreinemachen begonnen.
Zwar unterschieden sich Verfahren und Vehemenz mit denen vorgegangen wurde, aber es war ein und derselbe Fragebogen mit 100 Fragen, den die Alliierten während des Einmarsches zur Überprüfungsgrundlage nahmen. Entwickelt hatten ihn schon im Krieg die Amerikaner und Briten, erzählt die Historikerin Hanne Leßau, die in ihrem aktuellen Buch "Entnazifizierungsgeschichten" erstmals auf breiter Quellenbasis das Verhalten der Deutschen in den Überprüfungsverfahren untersucht und viel Neues über die Entnazifizierung herausfindet.
"Sogar tatsächlich schon als Aachen befreit wurden 44, wurden die ersten Fragebögen schon, in den ganz frühen, befreiten Gebieten genutzt. Und immer dann, wenn sozusagen lokal wieder Städte befreit worden sind, sind die verteilt worden. Das war am Anfang extrem uneinheitlich. Also manche hatten kein Papier dabei, andere hatten andere Prioritäten. Das war ein totales Chaos."
Dabei war den Alliierten bei der Konzeption der politischen Überprüfung die Standardisierung der Vorgehensweise ein wichtiges Anliegen.
Ein Auszug aus dem Fragebogen:
"Name Herkunft und Höhe des jährlichen Einkommens seit dem 1. Januar 1931
Zählen Sie alle Reisen und Wohnsitze außerhalb Deutschlands auf – Feldzüge inbegriffen. In der folgenden Liste ist anzugeben, ob sie Mitglied in einer der angeführten Organisationen waren und welchen Rang und welches Amt Sie innehatten: NSDAP, allgemeine SS, Waffen-SS, Sicherheitsdienst der SS, SA, Hitlerjugend einschließlich BDM, Kraft durch Freude, NS-Frauenschaft, NS-Ärztebund, NS-Lehrerbund, Institut zur Erforschung der Judenfrage …"
Zählen Sie alle Reisen und Wohnsitze außerhalb Deutschlands auf – Feldzüge inbegriffen. In der folgenden Liste ist anzugeben, ob sie Mitglied in einer der angeführten Organisationen waren und welchen Rang und welches Amt Sie innehatten: NSDAP, allgemeine SS, Waffen-SS, Sicherheitsdienst der SS, SA, Hitlerjugend einschließlich BDM, Kraft durch Freude, NS-Frauenschaft, NS-Ärztebund, NS-Lehrerbund, Institut zur Erforschung der Judenfrage …"
Es war ein standardisiertes Verfahren, das keine Ungerechtigkeiten zulassen sollte.
"Man hat Fragen entwickelt, auf die man eigentlich nur mit Ja oder Nein antworten kann oder klare Informationen reinschreiben sollte. Das heißt keine Begründungen. Und das konnte man mit Listen abgleichen und je nachdem, was draufstand, waren dann eben die Belastungskriterien erfüllt."
Akzeptanz in Bevölkerung schwindet schnell
Ab Sommer 1945 wurden zehntausende Angestellte entlassen, vor allem in der amerikanischen, aber auch in der britischen Zone.
"Das hat einen extremen Unmut hervorgerufen, gerade bei den Betroffenen, weil sie halt keine Chance hatten, sich irgendwie einzubringen oder zu erklären", sagt Leßau.
In einem Lied von damals heißt es: "Ich bin fragebogenkrank, ich bin fragebogenkrank, kennen Sie das fürchterliche Leiden. In meinem Fragebogen stimmt zwar ziemlich alles Gott sei Dank und das will heutzutage ja schon was bedeuten."
Die Akzeptanz in der Bevölkerung schwand, zudem war die Militärverwaltung der amerikanischen und britischen Zone mit der Bearbeitung überfordert. Am 5. März 1946 übergab die amerikanische Militärregierung den Prozess der Entnazifizierung an deutsche Stellen, den so genannten Spruchkammern, die vor allem mit Laien und nur wenigen Juristen besetzt waren. Die Historikerin Hanne Leßau zum Befreiungsgesetz:
"Das führt eigentlich zum ersten Mal ein offizielles Regelwerk ein, wie man nachlesen kann, wie diese Verfahren eigentlich laufen sollen."
Briten und Franzosen folgten. Grundlage dafür war die Verordnung Nummer 24, die der Alliierte Kontrollrat in Berlin bereits Mitte Januar beschlossen hatte, um die politische Säuberung in den vier Besatzungszonen zu regeln.
Befreiungsgesetz als Wendepunkt
Der Parteienforscher Jürgen Falter wertet derzeit Entnazifizierungsakten von NSDAP-Mitgliedern aus dem früheren Gau Hessen-Nassau aus, das später Teil der amerikanischen Besatzungszone war. Die Übergabe der Entnazifizierung an deutsche Stellen, ist für ihn ein Wendepunkt: Ab hier geschieht das, was heute allgemein unter dem Entnazifizierungsverfahren verstanden wird. Die Spruchkammern funktionieren wie kleine Laiengerichte, nach juristischer Logik und Verfahrensweise. Die NS-Belastung wird dabei in fünf Kategorien eingeteilt. Parteienforscher Jürgen Falter:
"Es gab die Hauptschuldigen. Das waren die führenden Nationalsozialisten. Es gab die Belasteten. Das war die zweitoberste Kategorie. Da hatte man schon einiges auf dem Kerbholz. Es gab die Minderbelasteten. Das waren Belastete, für die mindernde Umstände sprachen und die also nicht unmenschlich gehandelt haben beispielsweise. Und dann gab es die riesige Zahl der Mitläufer. Und dann gab es die sehr geringe Zahl der Entlasteten. Das sind Leute, die im Verfahren dann nachweisen konnten, dass sie widerständig gehandelt haben. Und dann gab es natürlich die sehr große Menge derjenigen, die überhaupt nicht ins Verfahren reingekommen sind."
Die Strafen reichten von Geldbußen bis zu Gefängnis von bis zu zehn Jahren. Doch was der Alliierte Kontrollrat Mitte Januar 1946 noch gemeinsam als Grundlage der Entnazifizierung beschlossen hatte, wurde breit ausgelegt. Während die Amerikaner, Briten und Franzosen – grob betrachtet – ähnlich vorgingen, galten schon ab Ende Oktober in der sowjetischen Zone eigene Richtlinien. Jürgen Falter:
"Da ist die Entnazifizierung als ein Vehikel benutzt worden, zu einer grundlegenden Gesellschaftsumgestaltung, also weg vom Kapitalismus hin zum Sozialismus, sodass auch Personen in die Entnazifizierung geraten sind, die eigentlich gar keine Nazis waren, die als Unternehmer gearbeitet haben beispielsweise, die sich nie nationalsozialistisch betätigt haben, die aber dann auch in dieses Netz eingefangen worden sind, weil man sie loswerden wollte."
Wie hart jemand bestraft wurde, hing auch davon ab, in welcher Besatzungszone er lebte – vor allem aber, zumindest im Westen, wer zuständig war.
"Spruchkammern, die nebeneinander getagt haben, haben unterschiedlich hart geurteilt, sodass in einem Fall jemand als Mitläufer eingestuft worden ist, im anderen Fall, sozusagen mit der gleichen Belastung, als Entlasteter oder evtl. sogar als Minderbelasteter."
Persönliche Kenntnis entscheidend
Auch die Historikerin Hanne Leßau bestätigt für die britische Besatzungszone große Unterschiede in der Prüfpraxis. Obwohl sonst die Verfahren zu denen in der amerikanischen Besatzungszone völlig anders ausgerichtet gewesen seien. Denn in der britischen Zone – und das ist bislang kaum bekannt – folgten die Entnazifizierungsverfahren keiner gerichtlichen Logik wie bei den Spruchkammern, sondern ähnelten eher einem Verwaltungsakt. Dafür setzten die Briten ein zweistufiges Verfahren ein, bestehend aus einem Hauptausschuss, der etwa zuständig war für alle Verfahren in einer Stadt und die von ihm berufenen Unterausschüsse, die dann für einzelne Betriebe oder Gemeinden zuständig waren. Ziel sei dabei gewesen, dass die prüfenden Laien die zu Überprüfenden persönlich kennen sollten, weil sie etwa Arbeitskollegen waren. Die persönliche Einschätzung sollte das Urteil gerechter machen. Das sei nicht immer der Fall gewesen, sagt die Historikerin Hanne Leßau.
"Die Regelungen sind so vage, dass ganz viel ins Ermessen der Prüfer gelegt wird, was dazu führt, dass es Ausschüsse gibt, die das ganz exzessiv auslegen. Da werden Leute geprüft, die würden unter anderen Umständen überhaupt nicht geprüft werden."
Verfahren verkehrte sich in Gegenteil
Die US-Militärregierung merkte sehr bald, dass die Deutschen unter Entnazifizierung etwas ganz Anderes verstanden. So zeigt sich der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius Clay, im November 1946 vor dem Länderrat der amerikanischen Zone enttäuscht:
"Es wird mehr und mehr offenbar, dass das ganze Verfahren dazu benutzt wird, um so viele wie möglich ihren alten Berufen wiederzugeben, anstatt die Schuldigen festzustellen und ihrer Strafe zuzuführen."
Das Verfahren hatte sich in sein Gegenteil verkehrt: Anstatt mit Hilfe der Spruchkammern, Nationalsozialisten aus ihren Stellungen zu entfernen, wären hier die Nazis das Brandmal ihrer früheren Tätigkeiten wieder losgeworden, erklärt der Historiker Ulrich Herbert. Stichwort "Persilschein". Wer eben konnte, versuchte, unverdächtige Zeitgenossen zu finden, die in einem Leumundszeugnis bestätigten, dass der Betreffende im Inneren eigentlich gar kein Nazi gewesen war. So wurden aus Tätern Mitläufer und aus Mitläufern Entlastete. Diese oft zitierte Vorstellung, dass die Massen sich in den Verfahren um eine Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit herumdrückten – und deshalb auch nichts lernten, diese Vorstellung will die Historikerin Hanne Leßau nicht teilen.
Rein zahlenmäßig betrachtet, spielte das gegenseitige Ausstellen dieser Zeugnisse fast keine Rolle.
"Dass man fragte: ‚Hey, machste mir einen Persilschein. Sondern man fragte wirklich um ein Zeugnis an, man fragte um eine Bescheinigung an. Also, was ist meine politische Haltung zu dem Prozess, ist was ganz Anderes als, wie ich mich verhalte, wenn ich da durchmuss."
Das Wort ‚Persilschein‘ mag Hanne Leßau nicht. Denn Leumundszeugnisse seien keineswegs einfach beliebig verfügbar gewesen, indem sie hätten gekauft oder getauscht werden können. Die Historikerin betont, dass sie in den allermeisten Fällen Gespräche mit Bekannten, Arbeitskollegen oder Nachbarn voraussetzten, die auch konfliktreich verliefen.
"Man musste auch Erzählungen finden, die man nicht nur selber plausibel findet, sondern mit denen man sich auch traut, vor den Nachbarn zu treten. Weil der muss das Schreiben ja am Ende aufsetzen. Das heißt, es sind auch so gemeinsam verfertigte Geschichten, die dann auch ins eigene Nahumfeld getragen worden sind und die dann auch eine bleibende Wirkung über die Jahre hinweg entfalten konnten."
Auf halben Wege stecken geblieben
Fakt ist aber auch: Die meisten der Angehörigen der Führungsspitze der NSDAP, der SS und der Sicherheitspolizei wurden im Westen im Durchschnitt zu 4000 Mark Geldstrafe bzw. zwei Jahren Haft verurteilt. Denn angesichts des großen Umfangs der abzuarbeitenden Fälle, blieb die Entnazifizierung auf halbem Wege stecken. Aus Praktikabilitätsgründen waren die vorgezogenen "leichten" Fälle zwar erledigt worden, die zurückgestellten Fälle der Schwer- und Schwerstbelasteten kamen sowohl bei den Amerikanern, aber auch bei den Briten, entweder nicht mehr zur Verhandlung oder wurden mit absurd niedrigen Einstufungen versehen. Die Auswirkungen waren verheerend. Der Historiker Ulrich Herbert nennt Beispiele:
"Sie haben 1938 bei der Pogromnacht ein jüdisches Geschäft leergeräumt. Und dafür sind sie verurteilt worden. Oder sie haben in der SA einen sozialdemokratischen Oberbürgermeister bewusstlos geschlagen. Solche Fälle. Dann sahen Sie, dass Ihr Chef, oder Ihr oberster Chef oder Ihr alleroberster Chef der SA nicht verurteilt worden ist, weil die ja erst später drangekommen sind und daraus haben Sie gefolgert: ‚Das Ganze war ungerecht. Bei mir war es ungerecht, und dass der nicht drankommt, zeigt sich ja. Und wir sind ja insgesamt gegen diese Entnazifizierung‘."
Breites Bündnis für ein Ende der Entnazifizierung
Mit Staatsgründung der Bundesrepublik im Mai 1949 werden dann die Forderungen immer lauter, der Entnazifizierung ein Ende zu setzen. Eine wichtige Stimme waren dabei Vertreter der Kirchen, aber durchaus auch der großen demokratischen Parteien, allen voran der FDP. Aber auch Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach in seiner Regierungserklärung im September 1949 davon, dass mit der Denazifizierung viel Unglück und Unheil angerichtet worden sei. Historiker Ulrich Herbert:
"Adenauer war ja nun ausgerechnet jemand dessen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nie angezweifelt werden konnte, der von den Nazis verfolgt und eingesperrt worden ist. Aber er hat natürlich die gigantische Aufgabe gehabt, wie integriere ich eine Gesellschaft in eine demokratische Perspektive, die zu einem erheblichen, wahrscheinlich deutlich mehrheitlichen Teil mit dem Nationalsozialismus mitgegangen ist."
Eine schwierige Aufgabe: Durch die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 wurde die große Mehrheit der von deutschen Gerichten bestraften NS-Täter begnadigt und ihre Strafen, ebenso wie die Urteile der Spruchkammern, aus dem Strafregister gestrichen. Dazu rehabilitierte der Grundgesetz-Artikel 131 nahezu alle Beamten, die nach dem Krieg von den Alliierten aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren.
"Dieses Wunder, dass es gelungen ist, aus dieser Gesellschaft über die anderthalb bis zwei Jahrzehnte eine demokratische und halbwegs funktionierende liberale Gesellschaft zu machen. Und dazu hat beigetragen, will mal sagen, der Deal mit den alten Nationalsozialisten ‚wir tun euch nichts, aber ihr müsst die Klappe halten‘, um das jetzt mal sehr, sehr prosaisch auszudrücken kein öffentliches Auftreten, keine Profilierung als Nationalsozialist. Und dann könnt ihr sozusagen in der Firma oder wo auch immer ihr seid weiterleben‘."
Das habe lange auch gut funktioniert, erzählt der Historiker, aber der Preis sei hoch gewesen:
"Ein gigantisches Unrecht, nämlich dass große Teile der NS-Täter, auch der wirklich harten, schrecklichen NS-Mörder unbehelligt davongekommen sind. Und diese Problematik hat die Bundesrepublik bis heute, die trägt die mit sich herum."
Bis Februar 1950 hatten in den Westzonen mehr als 3,6 Millionen Deutsche das Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. 25.000 wurden als Hauptschuldige und Belastete in die Kategorie eins oder zwei eingestuft. Eine Million landet in der Kategorie vier mit dem Etikett Mitläufer und 1,2 Millionen kamen unbelastet aus ihren Verfahren heraus. In der sowjetischen Besatzungszone ging alles etwas schneller: Dort entfernten die Sowjets schon bis 1949 rund 520.000 Personen aus ihren Stellungen und ersetzen sie durch Kommunisten.
Eigene Auseinandersetzung lange unterschätzt
Ist die Entnazifizierung der Massen also gescheitert, wie es so lange hieß? Der Historiker Ulrich Herbert
"Wenn man das zum Ausgangspunkt nimmt, was damit erreicht werden sollte, nämlich eine tiefgreifende Gerechtigkeit in der Bestrafung wegen der Beteiligung im NS-Regime, dann ist das richtig. Aber tatsächlich haben diese verschiedenen Maßnahmen doch zu einer Art von Tabuisierung geführt. Das heißt, man hat sich in der Öffentlichkeit nicht mehr mit dem NS-Regime identifiziert, und das ist anders als nach 1918 gewesen."
Die Historikerin Hanne Leßau betont, die Bedeutung der Entnazifizierungsverfahren hätte sich längst nicht in der Tabuisierung erschöpft. Für sie zeigen gerade die vielen, den Verfahrensakten freiwillig beigelegten persönlichen Schreiben der Überprüften, dass die Entnazifizierung auch Anlass wurden für die Auseinandersetzung
"Für sich mit der verstärkten Suche nach, ja, nach Deutungen des eigenen Lebens. Nicht weil man das jetzt wollte, man ist da ja von außen angestoßen worden, das zu tun. Aber man kann das ja zum Anlass nehmen, das jetzt zu machen."
Diese "Entnazifizierungsgeschichten" wie Leßau sie nennt, seien unbeabsichtigt, aber entscheidend gewesen, dass die bundesdeutsche Demokratie gelingen konnte.