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Entscheidung über britischen Premier
"Boris Johnson hat nur ein Ziel im Auge: Boris Johnson"

Wenn Boris Johnson Premier werde, komme Großbritannien an den Rande eines No-Deal-Abgrunds, sagte die liberale britische Europaabgeordnete Irina von Wiese im Dlf. Dabei wolle die Mehrheit der britischen Wähler keinen Austritt ohne Vertrag mit der EU.

Irina von Wiese im Gespräch mit Mario Dobovisek |
Boris Johnson, ehemaliger Außenminister von Großbritannien, spricht während des Starts seiner Kampagne für das Amt des Tory-Parteichefs.
Boris Johnson will den Brexit spätestens im Herbst (Stefan Rousseau/PA Wire/dpa)
An den Ergebnissen der Europawahl von Mai zeige sich, dass sich die Meinung in Großbritannien zum Brexit geändert habe, sagte von Wiese im Dlf. Die Mehrheit der neu gewählten britischen Abgeordneten im Europaparlament sei pro-europäisch. Das zeige auch, dass die Mehrheit der britischen Wähler "ganz sicher keinen No-Deal-Brexit" wolle, so die Europaabgeordnete der Liberalen Partei.
Die EU habe klar gemacht, dass es keine neuen Verhandlungen zum Brexit-Vertrag gebe. Man könne nun darauf hoffen, dass Großbritannien um weitere Verlängerung der Frist am 31. Oktober 2019 bitte. Was Großbritannien jetzt brauche, sei daher eine Entscheidung im britischen Parlament: Die Optionen seien ein Misstrauensvotum und Neuwahlen oder ein neues Referendum.
Mit Boris Johnson werde es aber ganz sicher kein neues Referendum geben. Er sei skrupelos genug, Großbritannien in einen No-Deal-Brexits zu führen. Wenn Großbritannien ohne Deal mit der EU aussteige, müssten aber jahrelange Verhandlungen folgen, beispielsweise über neue Handelsabkommen. Das werde zu Chaos führen.

Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Wenn man den britischen Buchmachern Glauben schenken mag, dann führt kein Weg mehr vorbei an ihm, an Boris Johnson als Nachfolger von Theresa May als Parteivorsitzender und Ministerpräsident Großbritanniens. Die Parteimitglieder der Tories haben entschieden, am Mittag wird dann das Ergebnis offiziell bekanntgegeben.
Am Telefon in London begrüße ich Irina von Wiese, seit über 20 Jahren ist die gebürtige Deutsche in Großbritannien, hat sich dort für einen Verbleib des Landes in der Europäischen Union eingesetzt und ist für die Liberaldemokraten gerade in das EU-Parlament gewählt worden. Guten Tag, Frau Wiese!
Irina von Wiese: Guten Morgen!
Dobovisek: Bleiben wir denn bei den Buchmachern zunächst einmal und gucken uns das an, was die sagen. Die gehen ganz klar davon aus, dass Boris Johnson heute verkündet wird. Gehen Sie auch davon aus?
von Wiese: Ja, davon gehen wir leider auch aus, und ich denke, da müssen wir uns eines erst mal ganz klarmachen: Boris Johnson hat nur ein politisches Ziel im Auge – und das ist Boris Johnson. Das ist ein Mann, der keine Skrupel hat, Großbritannien, meine Wahlheimat, in einen ganz katastrophalen No-Deal-Brexit zu führen. Insofern sehen wir der Zukunft hier nicht so optimistisch entgegen.
Dobovisek: Andere sagen, Boris Johnson habe das Ziel vor allem, den Brexit auszuführen, so wie es die Mehrheit wollte.
von Wiese: Die Mehrheit wollte ganz sicher keinen No-Deal-Brexit, also ein Ausstieg nach WTO-Maßstäben, der für Großbritannien wirklich katastrophal wäre. Wir haben uns als Liberaldemokraten natürlich von vorneherein dafür eingesetzt, dass die Wahl, welche Art von Brexit nun passiert oder auch gar kein Brexit, zurück an die britischen Wähler getragen wird mit einem zweiten Volksentscheid. Das wird mit Boris Johnson ohne weitere Eingriffe des Parlaments nicht passieren.
"Die meisten Wähler haben die Nase voll"
Dobovisek: Großbritannien ist ob der Brexit-Frage gespalten, und längst sagen sogar viele Remainer basta, Schluss mit dem Polittheater, lasst uns jetzt endlich einen Strich drunter ziehen und austreten, egal ob mit oder ohne Abkommen, so wie es die Mehrheit eben damals wollte. Das ist eine Haltung, die mir oft in Gesprächen mit Briten begegnet. Kämpfen Sie da vielleicht auf verlorenem Posten, wenn Sie weiter am Verbleib in der EU festhalten?
von Wiese: Ganz und gar nicht. Wir sehen auch an den Ergebnissen der Europawahl ganz klar, dass sich die Meinung in Großbritannien ändert. Klar, die meisten Wähler haben die Nase voll und wollen einfach nichts mehr von Brexit hören.
Dobovisek: Die meisten Wähler haben die Brexit-Partei gewählt.
von Wiese: Die meisten Wähler haben pro-europäische Parteien gewählt oder solche, wo die Mehrheit sich pro-europäisch verhalten hat. Wir haben 39 britische Abgeordnete im Parlament von 73, die pro-europäisch sind. Das muss man einfach so im Auge behalten.
Dobovisek: Trotzdem war es eine klare Schlappe für die Regierenden, für Tories, aber auch für die Opposition, für Labour, und am Ende ist stärkste Kraft die Brexit-Partei des alten Fahrensmannes Nigel Farage.
von Wiese: Aber wir haben als Liberaldemokraten und als einzige Partei, die sich von vornerein ganz eindeutig gegen Brexit ausgesprochen hat und für ein zweites Referendum, die größten Gewinne bekommen – und zwar auch Gewinne von denjenigen, von Labour-Wählern und von Tory-Wählern, die einfach die Nase vom Brexit voll haben und sich nun auch für ein zweites Referendum aussprechen und dafür, in der EU zu verbleiben. Also, wir sind optimistisch.
Was wir brauchen, ist natürlich eine Entscheidung im Parlament, entweder ein Misstrauensvotum und Neuwahlen – oder, was uns natürlich lieber wäre, dass man sich auf ein neues Referendum einigt, das dann den Bürgern die Wahl zwischen Brexit mit Deal und Backstop in Irland oder Verbleib in der EU gibt.
Sorge vor einem "No-Deal-Abgrund"
Dobovisek: Jetzt wird es zwar einen neuen Regierungschef geben, egal wie er heißt, aber die Mehrheiten im Parlament, die knappen Mehrheiten für die Regierung sind die gleichen. Was sagt uns denn, dass es überhaupt weitergeht?
von Wiese: Das ist richtig, aber wir haben jetzt überhaupt keine Wahl mehr. Und ich fürchte, dass ein Premierminister Boris Johnson uns wirklich an den Rand eines No-Deal-Abgrunds bringen wird. Und je näher dieser Rand, dieser 31. Oktober, kommt, desto eher denke ich, dass sich auch einige der Abgeordnete umentscheiden werden. Und dann gibt es eben nur noch eine Lösung, und das ist die eines neuen Referendums.
Dobovisek: Das haben wir aber vor dem letzten Stichtag auch gesagt, dann wurde der Brexit abermals verschoben. Was sagt Ihnen eigentlich, dass der Abgrund eines No-Deal-Szenarios tatsächlich so tief ist?
von Wiese: Wir haben seit drei Jahren die Prognosen gesehen, und es ist ja nicht das Ende des Brexits, sondern wenn wir tatsächlich ohne Deal aussteigen am 31. Oktober, dann fangen ja erst die Verhandlungen an, das heißt, dann gibt es noch mal zehn, vielleicht 20 Jahre neue Handelsabkommen, die abgeschlossen werden müssen.
Und das Chaos, das das mit sich bringt, wäre noch wesentlich schlimmer als das, was wir in den letzten drei Jahren an Unsicherheit erlebt haben. Das heißt, damit wäre Brexit nicht am Ende, sondern das wäre erst der Anfang.
Die einzige Möglichkeit, das jetzt zu beenden, ist, uns umzuentscheiden und in der EU zu verbleiben. Und das wollen meiner Ansicht nach die meisten Wähler heute, und die Umfragen bestätigen das.
"Hoffen, dass Regierung um Verzögerung für Artikel 50 bittet"
Dobovisek: Boris Johnson, darüber haben wir ja gerade schon gesprochen, würde, klar, auch den harten Brexit in Kauf nehmen zum 31. Oktober. Sie sind jetzt selbst Europaabgeordnete, Frau von Wiese, wie sollte die EU auf Boris Johnsons harten Brexitkurs reagieren?
von Wiese: Die EU hat eigentlich ganz klargemacht, und meine Delegation hat sich letzte Woche auch mit Michel Barnier getroffen und anderen, Ursula von der Leyen. Und der Stand der EU ist klar und unverändert und völlig verständlich: Es gibt keine Neuverhandlungen, das Withdrawl-Agreement mit Theresa May steht, das ist nicht durch das britische Parlament gekommen, aber ein anderes gibt es nicht.
Wir hoffen darauf, dass die großbritannische Regierung oder wer immer an der Regierung ist im Oktober um eine weitere Verzögerung für Artikel 50 bittet. Und das würde dann von der EU auch so akzeptiert, aus zwei Gründen: Erstens für eine Neuwahl oder zweitens für ein neues Referendum, das haben sowohl Michel Barnier als auch Ursula von der Leyen ganz klargemacht.
"Es gibt für Irland keine Lösung, außer den Backstop"
Dobovisek: Was wäre denn, wenn sich die EU tatsächlich doch noch mal bewegen würde, gerade mit Blick auf den Streit auf die Grenze zwischen Irland und Nordirland. Wäre das ein Fehler?
von Wiese: Ich glaube, das wäre nicht nur ein Fehler, sondern es ist auch vollkommen unakzeptabel, sowohl für die irische Regierung, als auch für den Rest der EU-Mitgliedsstaaten. Es gibt für Irland keine Lösung, außer den Backstop. Wenn sich Boris Johnson vorstellt, dass es da plötzlich eine Lösung technischer Art oder anderer Art geben könnte, dann leidet er an den gleichen Wahnvorstellungen, die er auch schon als Oberbürgermeister von London und als Außenminister hatte.
"Reaktionen vermeiden, die zu Eskalationen führen"
Dobovisek: Sie sind seit Neuestem, lassen wir das mal so stehen an dieser Stelle, im EU-Parlament auch Außenpolitikern, müssen sich da noch einarbeiten, das wird mit Blick auf die Krise am Persischen Golf vermutlich sehr schnell geschehen müssen. Deshalb schon jetzt mal die Frage, ist es eine gute Idee der britischen Regierung, die Öltanker letztlich militärisch zu schützen?
von Wiese: Ich glaube, das Letzte, was sich jeder von uns wünscht, ist ein Konflikt im Golf. Und die Lage dort wird natürlich von Tag zu Tag gefährlicher. Soweit ich das verstehe, folgt die republikanische Garde, die sich jetzt für die Beschlagnahmung des Tankers verantwortlich gemacht hat, ihren eigenen Gesetzen und hat viele, die nicht unbedingt mit der der iranischen Regierung im Einklang stehen. Ich denke, wir müssen uns natürlich um die Sicherheit der Besatzung des Tankers sorgen, aber wir sollten auf jeden Fall Reaktionen vermeiden, die eine weitere Eskalation zur Folge haben könnten.
Dobovisek: Dazu gehört ja vielleicht auch, dass Großbritannien den in Gibraltar festgesetzten iranischen Tanker freigeben könnte.
von Wiese: Das ist etwas, was sicherlich zur Verhandlung stehen sollte. Das Wichtigste für mich ist jetzt, dass die britische Regierung aktiv verhindern muss, dass das Weiße Haus versucht, dieses Ereignis als Rechtfertigung für weitere militärische Aktionen zu nutzen.
Dobovisek: Wer oder was könnte eine Lösung des Streits mit dem Iran herbeiführen?
von Wiese: Verhandlungen, und dazu gehört auch die Wiedereröffnung von Verhandlungen über das Nuklearabkommen mit Iran.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.