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Entscheidungen über Coronamaßnahmen
"Die Kompetenzen müssen ins Parlament verlagert werden"

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) hat im Dlf vor negativen Folgen für die Demokratie gewarnt, sollten wichtige Beschlüsse zur Bekämpfung der Pandemie nicht vom Parlament gefasst werden. Es sei eine gefährliche Schieflage, dass die Regierung seit Monaten Entscheidungen am Bundestag vorbei treffe.

Claudia Roth im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
Claudia Roth, Vizepraesidentin des Deutschen Bundestags (Bündnis 90/Die Grünen) in Bielefeld 2019
Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Vizepraesidentin des Deutschen Bundestags (Bündnis 90/Die Grünen): "Es braucht eine Wirksamkeit von Demokratie und Rechtsstaat" (imago / Sven Simon)
Im Bundestag gibt es immer mehr Unmut über das Regieren per Erlass in der Pandemie. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte den Fraktionen im Bundestag deshalb Vorschläge für eine stärkere Beteiligung des Parlaments vorgelegt. Demnach sollen die Befugnisse der Regierung deutlich restriktiver gefasst und befristet werden. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth plädierte im Dlf für mehr offene Debatten im Bundestag - auch, um die Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung weiter zu stärken.
Die SPD-Politikerin Hilde Mattheis (SPD) in einer Parlamentsdebatte 2020
Mattheis (SPD): "Ich will jetzt die Parlamentsdebatte!"
SPD-Gesundheitspolitikerin Hilde Mattheis möchte eine Verlagerung von Kompetenzen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes auf die Bundesebene. Dort müsse jedoch der Bundestag entscheiden.
Jürgen Zurheide: Frau Roth, fangen wir mal an: Was Herr Spahn da kürzlich vorgelegt hat, zusätzliche Rechte und das alles länger – Ihre Antwort bitte!
Claudia Roth: Ja, das geht nicht. Es kann nicht sein, dass ein Minister unersättlich mehr Ermächtigungen will, dass er eine Art unbefristete Generalermächtigung will. Ich glaube, gerade in einer Pandemiezeit, gerade, wo wir vor so einer großen Herausforderung stehen, braucht es eine Wirksamkeit von Demokratie und von Rechtsstaat, und zu unserem Rechtsstaat gehört die Gewaltenteilung. Das ist die Legislative, die Exekutive und die Judikative. Die Exekutive, das sind die Regierungen, die Judikative ist unsere Justiz, aber die Legislative, das ist unser Bundestag, das ist die Herzkammer der Demokratie, das ist der Maschinenraum. Es kann nicht sein, das ist eine wirklich gefährlich falsche Entwicklung, dass es weggeht von der Legislative hin zu klandestinen Exekutivveranstaltungen, dann auch noch mit wahlkämpfenden MPs und unersättlichen Ministern. Da ist irgendwas in eine Schieflage geraten, und da muss dringend wieder das Demokratieprinzip in den Vordergrund gestellt werden, sprich, die Kompetenzen ins Parlament verlagert werden.
"Es muss ein Ringen geben um Lösungen"
Zurheide: Das war jetzt ein vehementes Plädoyer. Jetzt könnte man sagen, Sie als Parlament können doch auch initiativ werden jetzt, weil sie – in dem Fall nicht groß, sondern klein geschrieben, bei der Opposition ist das schwierig –, sie brauchen Mehrheiten, aber es scheint ja da Verbündete zu geben. Warum kommt da nicht mehr aus der Mitte des Parlamentes?
Roth: Dass gestern Dr. Schäuble so aktiv geworden ist, zeigt, wie wichtig und wie dringend es ist. Man hat einfach viel zu lange, muss ich wirklich sagen, die große Koalition, die Koalitionsfraktionen haben viel zu lange sozusagen delegiert an die Ministerpräsidentinnen und die Ministerpräsidenten. Und das rächt sich, denn es geht nicht nur darum, dass der Bundestag sozusagen natürlich seine Entscheidungskompetenz wahrnehmen muss, er ist derjenige – der Gesetzgeber, der parlamentarische Gesetzgeber. In einer Zeit, wo es darum geht, diese schwierige Abwägung immer wieder zu treffen, Schutz der Gesundheit, aber auch Schutz von Freiheit und Bürgerrechten, da muss es ein Ringen geben um Lösungen, Debatten, Reden, Gegenreden, Alternative, Abwägungen, Entscheidungen und Kontrollen. Das, glaube ich, ist jetzt die Aufgabe des Parlaments. Wir können das tun, wir sollten das wieder zurückholen, und der zweite wichtige Punkt, "Warum?", ist, dass durch diese Auseinandersetzung, durch dieses Ringen im Bundestag um die richtigen Antworten auf die schwierigen Fragen ja erst eine Akzeptanz in der Bevölkerung für Grundrechtseingriffe entsteht.
Die Bundestagabgeordnete Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen)
Brantner: "Wir müssen jetzt strukturell das Parlament stärken"
Die Grünen-Politikerin Franziska Brantner weist den Vorschlag des Bundesgesundheitsministers, seine Kompetenzen auszuweiten, zurück. Sie fordert eine stärkere Beteiligung des Parlaments in der Coronakrise.
Zurheide: Das soll keine Gegenrede sein, eher ein Hinweis: Im Landtag in Nordrhein-Westfalen gab’s ein Epidemiegesetz, was einer der Protagonisten, die Sie gerade angesprochen haben, Herr Laschet, vorgelegt hat. Da waren einige Dinge drin, wo dann das Parlament in seiner Breite gesagt hat, Zwangsverpflichtung von Ärzten, um ein Beispiel zu nennen, geht gar nicht, und er musste das zurückziehen. Da passiert das, also meine Frage an Sie: Warum haben Sie es nicht längst gemacht?
Roth: Ja, das frag ich mich auch, beziehungsweise das merken Sie jetzt, dass sich da einiges tut im Deutschen Bundestag. Es war tatsächlich so, dass man gesagt hat, wir delegieren das an die Bundesregierung, wir delegieren das an die Ministerpräsidenten. Wir haben einen Föderalismus, aber wir sehen ja, dass das, was passiert, nicht unbedingt beruhigend ist, wenn die Bundesländer sehr unterschiedlich agieren. Wenn es ein Beherbergungsverbot ein paar Stunden gibt, dann kommen Gerichte, die es zurückziehen, manche Gerichte ziehen es nicht zurück. Es ist ja in den letzten Tagen ein ziemliches Chaos entstanden, und deswegen ist es richtig zu sagen, so, es wird konkreter gefasst, wie die Ermächtigungsgrundlagen aussehen. Die müssen sehr viel konkreter, sehr viel restriktiver gefasst sein. Wir müssen viel konsequenter Maßnahmen befristen – ich kann’s nur sagen für die grüne Fraktion, die hat das von Anfang an gefordert und gesagt, Maßnahmen können und müssen befristet werden, dass nach, was weiß ich, zwei Wochen überprüft wird, sind sie sinnvoll oder nicht, und sie können dann wieder wegfallen. Es muss eine Beteiligung des Bundestages beim Erlass von Rechtsverordnungen geben, das heißt, der Bundestag muss zwingend einen Zustimmungsvorbehalt haben, aber er kann auch aufheben – das ist das Beispiel, das Sie jetzt aus Nordrhein-Westfalen genannt haben. Der Bundestag kann sagen, nein, das ist eine Maßnahme, die wollen wir nicht, hebt auf. Und was ganz wichtig ist: Es kann nicht sein, dass wir gnädigerweise so als eine Art Gnadenakt von Regierungsseite aus als Bundestag unterrichtet werden, sondern es muss eine Unterrichtungspflicht geben des Deutschen Bundestages als Voraussetzung für eine sinnvolle und richtige gesetzgeberische Befassung.
"Parlamentarische Gesetzgebung ist nicht bei der Exekutive"
Zurheide: Es gibt ja noch ganz schwierige Fragen, die anstehen, die vielleicht noch viel schwieriger sind als die, die wir bisher wägen: Verteilung von Impfstoffen, weitere Beschränkungen bei Besuchszeiten zum Beispiel wieder, das sind ja essenzielle Fragen. Würden Sie sich wünschen und sagen, da müssen wir unbedingt bei sein, und wenn ja, wie kann das aussehen?
Roth: Ehrlich gesagt, das ist ja nicht ein Wunschkonzert, unsere Demokratie. Es ist nicht ein Wunschkonzert, wo der Bundestag, wenn es dann schwierig wird, sagt, oh nee, da lassen wir lieber die Finger davon, weil da könnten wir uns Kontroversen einhandeln. Natürlich ist es schwierig, es sind zentrale, ganz, ganz, ganz schwierige Fragen, und da ringen wir doch drüber. Dieses Ringen, dieses "meine Güte, was ist jetzt richtig, können wir diesen Eingriff nehmen", oder die Frage, die Sie gerade gestellt haben, ist natürlich total schwierig: Wer bekommt als Erster den Impfstoff, wer sind diejenigen, die ihn bekommen? Da kann sich ein Parlament nicht sozusagen vom Acker machen und das delegieren, weil dann – ich sag’s noch einmal – kommt unser Grundprinzip ins Wackeln. Und das Grundprinzip ist: Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip heißt, dass die parlamentarische Gesetzgebung nicht bei der Exekutive ist, sondern beim Gesetzgeber, und das ist der Bundestag.
Zurheide: Und was rufen Sie all denen zu, die sagen, ist wunderschön, was Frau Roth da sagt, nur das dauert alles zu lange, wir müssen rasch reagieren? Ganz falsch ist das ja auch nicht, oder?
Roth: Das ist ziemlich falsch, das ist so ein Uraltargument, das kenne ich immer wieder. Wenn’s drauf ankommt, kann der Bundestag sehr schnell reagieren. Wir haben das in außenpolitischen Fragen, wenn es um internationale Einsätze geht. Der Bundestag hat die Fähigkeit, auch in schwierigen Zeiten, auch in Pandemiezeiten, wo wir natürlich auch in einer besonderen Situation sind, sehr schnell und sehr konsequent und sehr gut reagieren zu können.
Der Plenarsaal des Deutschen Bundestags, nur wenige Abgeordnete sind anwesend, viele Sitze sind leer.
Mehr Parlament in der Coronakrise - Dann fangt mal an!
Momentan gehen alle Maßnahmen in der Coronakrise auf eine dürre Klausel im Infektionsschutzgesetz zurück. Das muss nicht sein, kommentiert Gudula Geuther. Der Bundestag kann das Gesetz viel konkreter fassen.
Zurheide: Was heißt das für den föderalen Aufbau? Herr Söder hat jetzt gesagt, er ist sogar bereit – Hört, hört! –, er will dem Bund mehr Kompetenzen geben. Erstens, glauben Sie ihm das?
Roth: Das glaube ich ihm schon, aber der will nicht dem Bundestag mehr Kompetenzen geben, der bleibt im exekutiven klandestinen Zirkel. Ich will auch mehr Bund, aber ich will den Bundestag. Ich will auch, dass der Bundestag durchaus mehr Möglichkeiten hat, die Verordnungsermächtigungen an die Landesregierungen zu beschränken, das kann der Bundestag nämlich auch. Ich gebe Söder recht, dieses Durcheinander im föderalen System, die unterschiedlichen Entscheidungen, die da getroffen worden sind, die haben massiv der Akzeptanz in der Bevölkerung geschadet, aber der Herr Söder will das nicht in den Bundestag verlegen, sondern der will’s auf Regierungsebene verlagern, und da bin ich dagegen.
"Demokratiekonforme Situationen wieder herstellen"
Zurheide: Auf der anderen Seite müssen wir uns natürlich die ein oder andere konkrete Frage jetzt gerade anschauen – Beherbergungsverbot haben Sie gerade angesprochen: Ich meine, dass das jetzt in Berlin für alle möglichen Landesteile geregelt wird, kann’s doch auch nicht sein. Wie stellen Sie sich das Zusammenspiel da vor?
Roth: Ich stelle mir vor, dass man genau diese schwierigen Fragen debattiert. Schauen Sie, es braucht diese öffentliche Auseinandersetzung. Wenn der Bundestag gut funktioniert, dann ist es doch das Gremium, wo man miteinander um Lösungen ringt, wo man Kontroversen austrägt, wo man debattiert, wo es die Rede gibt, wo es die Gegenrede gibt, wo beraten wird, wo abgewogen wird. Wir schlagen zum Beispiel schon eine ganze Weile vor, dass es einen interdisziplinär besetzten wissenschaftlichen Pandemierat geben müsste, wo wir uns noch mal ganz intensiv die Informationen reinholen von ExpertInnen, von medizinischer, aber auch von sozialwissenschaftlicher, von juristischer, von gesundheitswissenschaftlicher Perspektive. Wir brauchen die Grundlagen, um breit entscheiden zu können und um die Regierung kontrollieren zu können, und das ist, glaube ich, jetzt ein wichtiger Punkt, genau wieder demokratiekonforme Situationen herzustellen.
Zurheide: Wir stellen ja gerade fest, dass an unterschiedlichen Punkten sozusagen die Akzeptanz schwindet. Wir werden in der nächsten halben Stunde noch mal darüber reden, was das im Moment für eine Branche heißt, die Sie ja auch gut kennen. Die gesamte Kulturbranche liegt im Moment darnieder oder liegt wieder darnieder, weil mit einem Mal irgendwelche Maßnahmen gemacht werden von denen die Betroffenen sagen, wir sind aber gar nicht diejenigen, die dazu beitragen, dass hier Infektionsgeschehen hochgeht. Haben Sie so was auch im Blick?
"Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft sind in hohem Maße systemrelevant"
Roth: Ja, natürlich. Ich glaube, gerade die Kulturbranche ist ja eine der Branchen, die am allermeisten betroffen ist, und de facto liegt sie in großen Breiten wie in einer Art künstliches Koma. Viele Künstler und Künstlerinnen haben de facto Berufsverbot. Mir sagen viele Veranstalter, dass sie Konzepte erarbeitet haben, dass keine Infektionen von ihnen ausgegangen sind und dass trotzdem sie jetzt möglicherweise einen weiteren Lockdown zu befürchten haben. Da hängen Hunderttausende Menschen dran, und ich glaube, das ist auch etwas, wo wir sehr, sehr, sehr intensiv drangehen müssen, denn ich glaube, Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft sind in hohem Maße systemrelevant, weil sie demokratierelevant sind. Es kann nicht sein, dass wir in eine Situation geraten, wo man sagt, na ja, das ging jetzt auch ohne Theater, ohne Konzerte, ohne Literatur, wir machen das einfach zu. Dann würden wir so unfassbar viel verlieren, wir brauchen im Gegenteil eine Diskussion, was sind für Vorschläge vorgelegt worden, sind sie von Gesundheits-, Sicherheitsperspektive aus vertretbar. Auch dafür braucht es ein viel stärkeres Parlament und eine viel intensivere Auseinandersetzung bei uns im Parlament und nicht klandestin in den Kammern der Landesregierungen und der Bundesregierung.
Zurheide: Hätten Sie jetzt bei Fußball auch so plädiert?
Roth: Fußball hatte eine starke Lobby, ja, muss man sagen, Fußball hat intensiv Vorschläge erarbeitet, Fußball hat Sprecher gehabt, die ihre Vorschläge vorgebracht haben, das wünsche ich mir für andere Bereiche auch. Ich kann nur sagen, es geht nicht nur um den Schutz von Möbelhäusern und Autohäusern, es geht darum, dass eine riesengroße Branche, wo über zwei Millionen Menschen beschäftigt sind … Es geht ja nicht nur um die Künstler und Künstlerinnen, es geht um die Gewerke, um die Techniker, um die Lichtleute, um die Tonleute, es geht um den ganzen Riesenbereich, und auch dafür bräuchte es eine viel heftigere und intensivere Auseinandersetzung im Bundestag als Repräsentanz und stellvertretend für eine Debatte in unserer Bevölkerung.
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