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Enttäuschte Erwartungen

Nachdem Martin Luther es nicht schaffte, die Juden mit seinen sogenannten "Judenschriften" zu missionieren, schlug seine Enttäuschung in offenen Judenhass um. Den Versuch, daraus eine "Von-Luther-zu-Hitler-Formel" abzuleiten, halten Historiker jedoch nicht für statthaft.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
    Zur Zeit Martin Luthers, im 16. Jahrhundert, prägte der christliche Antijudaismus bereits seit mehr als 1000 Jahren die Geschichte Europas. In seinen so genannten "Judenschriften" machte der Reformator deutlich, dass er die Juden auf freundliche Weise bekehren wollte. Als ihm dies misslang, schlug seine Enttäuschung schließlich in offenen Judenhass um.

    "Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen."

    "Das ist das, was man von Luther sagen muss. Er ist ein schwieriger Reformator, weil er es heute den Menschen nicht leicht macht, ihn zu mögen. Es steckt zu vieles drin, was nicht gemocht werden kann."

    Martin Luther und die Juden. Ein kompliziertes, ein schwieriges Verhältnis, sagt Johannes Heil, Erster Prorektor der "Hochschule für Jüdische Studien" in Heidelberg. Es ist das "schwierige Erbe der Reformation", denn im Hintergrund lauert immer wieder der Schatten der bedrückendsten Hypothek evangelischer Glaubenstradition: Martin Luthers Judenfeindschaft.

    Die Haltung des Reformators zu Juden und Judentum ist seit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus, vor allem aber nach 1945 immer wieder diskutiert worden. Im Mittelpunkt der Debatten steht dabei Luthers 1543 entstandene Schrift "Von den Juden und ihren Lügen".

    Drei "große Judenschriften" gibt es von Martin Luther: die 1523 entstandene Abhandlung "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei", den 1538 erschienenen Brief "Wider die Sabbather" und seine 1543 verfasste, boshafteste und gehässigste Schrift "Von den Juden und ihren Lügen".

    Keine dieser Schriften ist an jüdische Adressaten gerichtet. Es handelt sich nicht um einen Dialog, sondern Luther wendet sich mit seinen Ermahnungen und Belehrungen ausschließlich an christliche Leser. Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann:

    "Die Schriften sind allesamt darum bemüht, nicht im Gespräch mit den Juden, im Gegenüber zu den Juden zu demonstrieren und den exegetischen Nachweis zu führen, dass alttestamentliche Passagen auf Jesus von Nazareth deuten und in Jesus erfüllt wurden. Das Ziel der Schriften besteht also im Grunde darin, das Alte Testament als Buch der Christen in Anspruch zu nehmen und den Nachweis zu führen, dass in Christus die Verheißungen des Alten Testaments erfüllt sind."

    Martin Luther lebt in einer judenfeindlichen Zeit:

    "Wir haben das Ende des Aufblühens jüdischen Lebens in Aschkenas am Ende des 13. Jahrhundert und man kann sagen, von da an geht es bergab. Es gehen extreme Verfolgungen los. Dann die große Pestwelle in der Mitte des 14. Jahrhunderts mit den Pogromen, die vor allem die kleinen jüdischen Gemeinden ausgelöscht haben, aber ebenso die großen Städte."

    Als der Reformator die Bühne der Geschichte betritt, hat er kaum Kenntnisse über das Judentum. Das Wenige aber, das er weiß, so schreibt der Berliner Historiker und Lutherbiograf Heinz Schilling, stammt aus recht trüber Quelle:

    "Die Kenntnisse über Kultus und Kultur der Juden bezog Luther nicht von den Juden selbst oder aus ihren Schriften, sondern von dem jüdischen Konvertiten Antonius Margaritha, der nach Renegatenart besonders abfällig über seine ehemaligen Glaubensgenossen schrieb."

    Und doch – in diesem dumpfen Klima aus Unwissenheit und Vorurteilen geschieht in den Frühjahrstagen 1523 etwas Überraschendes: Luther verfasst eine Abhandlung mit dem Titel "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei". Es ist seine erste "Judenschrift".

    Er ruft dazu auf, die Juden freundlich zu behandeln, sie in die Gesellschaft aufzunehmen. Scharf geißelt er die Gräuel-Propaganda von Ritualmord- und Brunnenvergiftungsvorwürfen und die daraus resultierenden Verfolgungen und Vertreibungen:

    "Was können wir Gutes an den Juden schaffen, wenn wir sie nur mit Gewalt behandeln, ihnen Übles nachsagen und sie für Hunde halten? Wenn man ihnen verbietet zu arbeiten und sie zum Wucher treibt – wie sollten sie das bessern? Man muss nicht des Papsts, sondern christlicher Liebe Gesetz an ihnen üben."

    Bei den Juden weckt die Schrift hochgesteckte Erwartungen: Sie hoffen auf Befreiung von Bedrückung, Verfolgung und Knechtschaft, auf eine respektvolle Akzeptanz durch die Vorkämpfer der Reformation. In Luthers Konfrontationskurs gegen die römische Kirche sehen sie einen Riss im Gefüge des römischen Machtapparates.

    So mag die jüdische Gemeinschaft gehofft haben, dass die Unruhe, die durch die neue Lehre innerhalb der Christenheit entstanden ist, zu größerer Duldsamkeit gegenüber anderen Heilswegen führen könne.
    Ein verhängnisvoller Irrtum. Denn Luthers eigentliche Absicht ist etwas ganz anderes:

    "So ist die Hoffnung vorhanden, es werden viele unter den Juden ernstlicher und redlicherweise bekehrt werden und sich so aus der Welt zu Christo ziehen lassen."

    "Was sie vom wahren Glauben abhalte, das sei das Korrumpierte der Kirche. Wenn das von allen Fehlern gereinigt sei, dann, natürlich, werde sich die christliche Wahrheit den Juden voll erschließen."

    In dieser Zeit der noch jungen Reformation glaubt Luther, die Juden hätten sich dem christlichen Glauben verschlossen, weil er unter dem Papsttum falsch dargestellt worden sei. Von einem wahrhaft "reformierten" Christentum dagegen müssten sie überzeugt sein.
    Für die Haltung der Juden gegenüber der "alten" Kirche zeigt Luther Verständnis, als aber die Reformation eine Alternative bietet, sieht er die Zeit zur Bekehrung gekommen:

    "In Bezug auf Luthers Entwicklung im Hinblick auf seine judenpolitische Haltung, muss man vor allem im Blick haben, dass er mit seiner Schrift von 1523 die fantastische Erwartung verbunden hat, dass nun erstmals den Juden eine nachdrückliche Offenbarung im Hinblick auf den Christusgehalt des Alten Testaments präsentiert wird und die Juden nun, nachdem ihnen der Sinn ihrer Heiligen Schriften eröffnet wird, in Scharen zum Christentum sich hinwenden werden."

    Als Luther die Fruchtlosigkeit seiner Bekehrungsversuche erkennen muss, entwickelt er sich vom eifrigen zum verbittert-bösartigen Judenmissionar. Sein Ton wird schärfer, schlägt in Anklage und Diffamierung um:

    "Diese hochgeschraubte Bekehrungserwartung, mit der Luther 1523 startet und die von einer ganzen Reihe Zeitgenossen geteilt wird, hat dann natürlich die ausbleibende positive Resonanz der Judenheit als umso finstere Verstockung erscheinen lassen."

    1538 verfasst er den Brief "Wider die Sabbather". Der soll einem anonymen Adressaten als theologische Argumentationshilfe dienen. Darin führt er die "Verstocktheit" der Juden gegenüber der Messianität Jesu als Grund an, warum das jüdische Volk schon seit 1500 Jahren im Exil leben und immer noch auf den Messias warten müsse:

    "Sage doch, lieber Jude: wie heißt die Sünde, um welcher willen Gott so lange über euch zürnet und seinen Messias nicht sendet."

    Es ist Martin Luthers zweite "Judenschrift". Die Wende zum offenen Judenhass vollzieht Martin Luther 1543 mit seiner dritten Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Es ist das zentrale Dokument von Luthers Judenfeindschaft, seine härteste, kompromissloseste Schrift.

    "Das ist auf gewisse Weise auch ein Wittenberger Radikalismus. Das ist nicht reformationstypisch. Das finden Sie in der Intensität nicht bei Melanchthon. Man hat nicht dieses Haaresträuben – wenn er über die Juden spricht."

    Luther gibt auch Ratschläge, wie man mit den Juden umgehen soll:

    "Dass man ihre Synagogen mit Feuer anstecke… dass man auch ihre Häusser desgleichen zerstöre… dass man ihnen nehme soll all ihre Gebetbücher… Dass man den Rabbinern verbiete, weiterhin zu lehren… dass man ihnen nehme alle Barschaft und Silber und Gold und gebe ihnen Axt und Spaten in die Hand und lasse sie ihr Brot im Schweiße verdienen..."

    Zwischen dieser Schrift und Luthers im Ansatz eher "versöhnlicher" Abhandlung von 1523 liegen 20 Jahre. Und doch gibt es – allem Anschein zum Trotz – keinen Bruch in seinen Anschauungen, sondern eine Kontinuität:

    "In seiner theologischen Haltung gegenüber den Juden ist er immer konstant geblieben. Die sind als Juden verworfen – daran hat sich nie etwas geändert."

    Welche Erblast hat Martin Luther also mit seinen judenfeindlichen Äußerungen hinterlassen? Welche Rolle spielen sie bei der Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus der Neuzeit? Gibt es, wie immer wieder behauptet wird, eine direkte Verbindung von Martin Luthers Schriften zu den Gaskammern von Auschwitz?

    Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann:

    "An der Stelle ist die Frage unausweichlich, ob Luther die Ermordung von Juden für eine angemessene Umgangsweise hielt."

    Dafür, so Kaufmann, gibt es keinerlei Quellenbelege. Auch Heinz Schilling findet die verkürzte "Von-Luther-zu-Hitler-Formel" nicht statthaft und vor allem unhistorisch:

    "Weil sie dem Reformator persönlich in einem historischen Kausalzusammenhang Entscheidungen zurechnet, die erst spätere Generationen trafen. Wer Luther zum Vorfahren Hitlers erklärt, lenkt von entscheidenden kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ab, die zwischen Reformation und Nationalsozialismus liegen und für die andere als der Reformator die Verantwortung tragen."