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Entwicklung der Corona-Zahlen
Modelliererin Priesemann: "Noch lohnt es sich, die Grenzen wirklich zuzumachen"

Sie könne sich relativ gut vorstellen, dass es wieder zu einem Anstieg der Corona-Infektionszahlen kommt, sagte die Physikerin Viola Priesemann im Dlf. Die Frage sei, wann das genau passiert. Wichtig sei es, die schnelle Ausbreitung der Delta-Variante zu verhindern. Dabei könnten geschlossene Grenzen helfen.

Viola Priesemann im Gespräch mit Sophie Stigler |
Dr. Viola Priesemann Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut fuer Dynamik und Selbstorganisation
Die Physikerin Viola Priesemann (imago-images/Eventprss, Stauffenberg)
Es sei aktuell eine ganz natürliche Art und Weise zu sagen, wir lockern so viel wie möglich, denn es gebe keinen Grund, den Lockdown beizubehalten, wenn er nicht notwendig ist, sagte die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation im Dlf. Die Tendenz werde sein, dass man wieder an den R-Wert von eins herankomme, und die die Fallzahlen damit konstant bleiben.
Entwicklung der Neuinfektionen nach Altersgruppen
"Dann ist die Frage, lockern wir noch weiter, sodass die Inzidenzen wieder steigen oder sind wir so vernünftig zu sagen, hier ist die Grenze. Solange nicht alle Personen ihr Impfangebot angenommen haben, solange wollen wir nicht riskieren, dass die Inzidenzen wieder hochgehen", sagte Priesemann. Diese Grenze zu finden sei schwierig.

Warnendes Beispiel Großbritannien

Sie könne sich gut vorstellen, so Priesemann, dass es wieder zu einem Anstieg der Infektionszahlen komme. Die Frage sei, wann genau das passieren könne. Die Physikerin führte als Beispiel England an, wo die Fallzahlen zuletzt "jede Woche um fast den Faktor zwei" nach oben gegangen seien. Angenommen das geschehe in Deutschland ebenfalls, wäre man hierzulande "in vier bis fünf Wochen von einer Inzidenz 20 wieder auf einem Inzidenzwert 200". Das sei durchaus "im Rahmen des Realistischen. Es ist ein breites Spektrum", so Priesemann.
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Das vollständige Interview:

Sophie Stigler: Woran liegt es, dass die Inzidenzzahlen so schnell nach unten gegangen sind?
Viola Priesemann: Ich hab da versucht, eine Art realistische Einschätzung zu machen. Es war ja auch zu einer Zeit, wo diese Prognosen noch sehr kritisiert worden sind, dass sie zu optimistisch oder zu pessimistisch sind, und ein Faktor, den ich da zum Beispiel unterschätzt habe, ist der Folgende: Menschen, die einen Impftermin haben, stecken sich schon vor ihrer Impfung ganz wenig an, weil man in den zwei, drei Wochen nicht jetzt auf die letzten Meter noch mal krank werden möchte. Und das ist ein Effekt, der die Fallzahlen auch zusätzlich noch mal runterbringt. Das ist in England sehr klar nachgewiesen, dieser Effekt, und bringt natürlich die Inzidenzen auch noch mal runter. Das ist ein Effekt, den ich nicht erwartet habe.

"Impfung wirkt vor der Impfung"

Stigler: Und das kommt dann noch dazu zu den immer mehr Impfungen, die wir haben, und eben den wärmeren Temperaturen, also den besseren Bedingungen, die wir aktuell haben.
Priesemann: Genau, die Impfung wirkt sozusagen schon vor der Impfung.
Stigler: Würden Sie denn sagen, wir können diesen Vorteil, den wir aktuell haben, auch durch die Impfungen noch verspielen? Mit niedrigen Zahlen wird ja auch der Druck für immer stärkere Lockerungen größer. Mit welcher Entwicklung würden Sie da rechnen?
Priesemann: Es ist, glaube ich, eine ganz natürliche Art und Weise, jetzt zu sagen, wir lockern so viel wie möglich. Es gibt ja keinen Grund, einen Lockdown beizubehalten, wenn der nicht mehr notwendig ist. Die Tendenz wird sein, so viel zu lockern, dass man wieder an den R-Wert von 1 kommt, dass die Fallzahlen dann also wieder etwa konstant sind. Und dann ist die Frage, lockern wir dann noch weiter. Lockern wir dann noch weiter, sodass die Inzidenzen dann wieder steigen, oder sind wir so vernünftig und sagen, okay, hier, das ist die Grenze, solange nicht alle Personen ihr Impfangebot wahrnehmen konnten, solange wollen wir nicht riskieren, dass die Inzidenzen wieder hochgehen.
Aber wo genau die Grenze ist, ist schwer abzuschätzen. Ganz grob gesagt könnte man sich vorstellen, keine Großveranstaltungen, AHA-Maßnahmen weiter nehmen, damit die Schulen offen bleiben können, damit wir privat mehr Treffen haben können, Restaurants und Geschäfte wieder offen bleiben können. Das könnte sein, dass das ein ganz guter Mittelweg ist, aber reicht uns das als Gesellschaft? Das ist die große Frage, die sich in den nächsten Wochen stellen wird.

Anstieg der Infektionszahlen - aber wann?

Stigler: Was glauben Sie denn, ob wir diesen Mittelweg hinbekommen? Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass wir im Sommer oder ein bisschen später doch noch einen stärkeren Anstieg der Infektionszahlen bekommen könnten?
Priesemann: Ich kann mir relativ gut vorstellen, dass es wieder zu einem Anstieg der Infektionszahlen kommt, die Frage ist, wann das genau passiert. Wenn die Infektionszahlen sehr niedrig sind, wird man ja eben lockern, und dann gibt’s ja auch das Argument, dass viele Menschen ja schon durch die Impfung geschützt sind und deswegen keinen schweren Verlauf mehr haben. Gleichzeitig haben auch viele Menschen kein großes Risiko mehr durch Covid, aber sie können möglicherweise das Virus noch weiterverbreiten. Diese Faktoren spielen natürlich eine Rolle. Das Virus hat also mehr und mehr Wege, wie sich’s ausbreiten kann, und das mag die Inzidenzen hochbringen, aber eine 200er-Inzidenz, wenn wir da wieder sind, wo wir im letzten Winter waren, sind ja trotzdem viel weniger Menschen möglicherweise auf der Intensivstation.
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Stigler: Aber denken Sie wirklich, dass wir zu einer 200er-Inzidenz noch mal kommen könnten?
Priesemann: In England, muss man sagen, steigen die Fallzahlen dieser neueren Variante jede Woche um fast den Faktor 2. Wenn die Fallzahlen jede Woche um fast den Faktor 2 steigen – angenommen das gilt genauso in Deutschland, das scheint da langsamer zu sein, aber angenommen, das würde genauso gelten, dann ist man in vier bis fünf Wochen von der Inzidenz 20 wieder auf einer Inzidenz 200.
Stigler: Aber ist das realistisch?
Priesemann: Also es ist im Rahmen des Realistischen, das ist einfach ein breites Spektrum. Die Impfungen helfen, aber es gibt einen bestimmten Anteil Leute, die sich nicht impfen lassen, und wir haben ja in Schulen lauter Menschen, die nicht geimpft sind, aber trotzdem das Virus weitergeben, wie so eine Art Herd, und das ist ein Kipppunkt. Entweder wir schaffen es, das Virus aus den Schulen und aus den Kindergärten rauszuhalten, dann springt es nicht von Haushalt zu Haushalt, oder es hat eben über die Schulen und Kindergärten auch viele freie Wege.

Fehler letzten Sommer

Stigler: Sie sagen ja schon lange, die Infektionszahlen sollten am besten niedrig sein, dann hat man’s auch leichter, sie eben auf einem niedrigen Niveau zu halten, aber wenn man jetzt den Sommer vergangenen Jahres anguckt, da hatten wir im Juli und im August auch Inzidenzen von unter zehn bundesweit, und im Oktober gab’s dann doch eben einen rasanten Anstieg. Kann man schon sagen, was da schiefgelaufen ist und woraus wir da vielleicht auch lernen können?
Priesemann: Da kamen im letzten Jahr mehrere Sachen zusammen. Das Erste ist, in den Nachbarländern waren diese Wellen und diese Anstiege schon einen Monat oder zwei vorher. Und da gibt es also neuen Influx von Fällen aus dem Ausland, die starten ja dann neue Infektionsketten. Wir haben über den Sommer Schritt für Schritt für Schritt gelockert, und dann kommt noch etwas hinzu, was wir viel erforscht haben: Dieser Kipppunkt, wenn die Gesundheitsämter mit der Kontaktnachverfolgung nicht mehr hinterherkommen, wenn wir nicht mehr genug Tests haben, dann wird die Dunkelziffer größer und größer. Und die echten Pandemietreiber, das sind die Menschen, die gar nicht wissen, dass sie das Virus verbreiten.
Die Situation wird relativ ähnlich sein. Ich denke, wir werden auch uns hoffentlich einpendeln auf einen R-Wert von eins etwa, also nicht so doll steigende oder fallende Inzidenzen, und dann, wenn die Saisonalität darauf kommt, man sich vermehrt wieder drinnen trifft – das ist ja auch ein Aspekt der Saisonalität –, dann kommt es dann möglicherweise zu vermehrten Ansteckungen, die Inzidenzen steigen.
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Die große Frage ist, welches Ziel als Gesellschaft wir haben: Wollen wir die Fallzahlen niedrig halten, dann würde es sich lohnen, die AHA-Maßnahmen, die die persönliche Freiheit nicht so sehr einschränken, beizubehalten, damit die Schulen auch im Herbst und Winter sicher offen bleiben können. Das Impfen ist ein ganz arg wichtiger Beitrag, also wenn die Inzidenz niedrig ist, hat man ja ein bisschen dieses Dilemma, dass sich vielleicht weniger Menschen impfen lassen oder weniger Motivation ist, sich zu impfen. Sich trotzdem impfen zu lassen, auch wenn die Inzidenz niedrig ist, einfach weil spätestens im Herbst diese Gefahr von steigender Inzidenz und auch stark steigender Inzidenz ansteht, das sollte man sicherlich weiter betonen.
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Zwei Optionen

Stigler: Jetzt ist ja gerade die Delta-Variante, die zuerst in Indien aufgetreten ist, schon in Deutschland angekommen. Könnte die uns noch eine neue Welle bescheren? Also nach ersten Erkenntnissen ist sie ja noch mal deutlich ansteckender als die Alpha-Variante, die in Großbritannien zuerst dokumentiert wurde.
Priesemann: In England steigen die Fallzahlen wieder. Es gibt fast keinen Grund anzunehmen, warum sie in Deutschland nicht steigen sollten. Warum wird es noch eine Weile dauern? Das liegt einfach daran, dass die absoluten Zahlen der Delta-Variante noch sehr niedrig sind, noch lohnt es sich also, die Grenzen wirklich zuzumachen und dafür zu sorgen, dass da nicht noch mehr Cluster der Delta-Variante sich ausbreiten. Wenn die erst mal überhand nimmt und wenn dann die Fallzahlen hochgehen und wir gleichzeitig lockern, dann erwartet man hier wahrscheinlich einen ähnlichen Anstieg.
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Erst-Impfschutz vor Deltavariante bei AstraZeneca schwächer?

Stigler: Es ist ja so, dass die Delta-Variante, wenn man nach Großbritannien schaut und die Entwicklung dort betrachtet, dann ist die dort deutlich steiler nach oben gegangen, anteilig an den Infektionen, als es jetzt in Deutschland der Fall ist. Da dümpelt sie noch irgendwie so bei zwei Prozent gerade vor sich hin, aber ist auf jeden Fall nicht so ein starker Anstieg zu beobachten.
Priesemann: Das sind zwei Aspekte, die da eine Rolle spielen können. Das eine ist, dass hier in Deutschland die Kontaktbeschränkungen noch strikter sind, als sie in England sind – ich hab gerade auch mit Kollegen gesprochen, und die sagen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel eigentlich wieder komplett voll sind in London. Das befeuert natürlich so einen Anstieg. Der andere Aspekt ist, dass England relativ viel AstraZeneca verimpft hat, während Deutschland ja mehr BioNTech im Verhältnis verimpft hat. Möglicherweise ist der Impfschutz durch AstraZeneca gerade bei einer Erstimpfung nicht besonders gut, gerade bei der Delta-Variante.
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Stigler: Wie optimistisch sind Sie jetzt für den Sommer und den Herbst?
Priesemann: Ich bin ganz arg optimistisch, dass das Impfen weiter vorangeht, dass wir zumindest in Sachen schwerer Verläufe durch das Impfen einen guten Schutz haben. Ich drücke beiden Daumen, dass wir von den zwei Optionen – nämlich die Inzidenzen gehen stetig wieder hoch oder wir schaffen es, die Inzidenzen gemeinsam unten zu halten – die zweite wählen und mit moderaten Einschränkungen, die wesentlich einfacher sind als letzten Sommer, dass wir es damit schaffen, die Inzidenz niedrig zu halten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)