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Entwicklung der Kirchensteuern
Die Kassen bleiben gut gefüllt

Steigende Austrittszahlen und die Coronakrise wirken sich auf die Kirchensteuereinnahmen aus. Schaut man sich die Entwicklung genauer an, bleibt die finanzielle Situation der Kirchen aber komfortabel. Vermögende Mitglieder sind eher konservativ und denken nicht an Austritt.

Von Michael Hollenbach |
Symbolbild Steuererklärung, Steuerbescheid mit Euro-Münzen und -Scheinen
Einer Studie zufolge könnten sich mit schwindenden Mitgliederzahlen die Kirchensteuereinnahmen bis 2060 halbieren (Andreas Gora)
Ein Rückgang der Kirchenmitgliedschaft bedeutet nicht automatisch, dass die Kirchen auch weniger Steuern einnehmen. Als Beleg dafür verweist der Berliner Sozialwissenschaftler Hermann Lührs auf die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte:
Lührs: "Wir haben sogar einen paradoxen Zusammenhang. Wenn man die Kirchenmitgliederentwicklung der letzten 30 Jahre betrachtet und die Entwicklung des Kirchensteueraufkommens untersucht, dann stellt man fest, dass zum Beispiel im evangelischen Bereich 1991 bis 2019 die evangelische Kirche etwa 9 Millionen Mitglieder verloren hat und gleichzeitig die Kirchensteuer aber von 3,9 Milliarden in 1991 auf 5,8 Milliarden in 2019 gestiegen ist."

Weniger Mitglieder, mehr Kirchensteuer

In der katholischen Kirche sieht es ähnlich aus: Hier ging der Mitgliederbestand im Vergleich zu 1991 um mehr als ein Fünftel zurück, gleichzeitig stieg die Kirchensteuer um rund 70 Prozent. Die paradoxe Entwicklung kennt auch David Guttmann. Er ist Mitarbeiter des Freiburger "Forschungszentrum Generationenverträge" und einer der Autoren der "Projektion 2060".
Guttmann: "Wenn wir uns die letzten 20 Jahre anschauen, hatten wir natürlich klar das Wirtschaftswachstum - viele Monate und Jahre einer tollen Entwicklung. Das ist einer der Gründe, warum wir die Dinge so für die Zukunft nicht erwarten, warum es eben nicht so weiter geht. Wir hatten einen Anstieg der Erwerbstätigenquote, wir hatten überdurchschnittliche Lohn- und Gehaltssteigerungen."
Allerdings: eine "tolle wirtschaftliche Entwicklung", die nicht allen zu Gute kam. Die Gruppe mit einem jährlichen Einkommen von mehr als 50.000 Euro ist von 2005 bis 2016 von 5,4 Millionen auf 9,7 Millionen gestiegen; die Zahl der Personen mit einem Einkommen von über 100.000 hat sich sogar mehr als verdoppelt. In der gleichen Zeit ist aber auch der Niedriglohnsektor massiv angestiegen. Im Jahr 2017 war fast ein Viertel aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig. Dieses Auseinanderdriften ist auch für die Kirchensteuer relevant, denn Kirchensteuer fällt nur bei denjenigen an, die Einkommen aus Erwerbsarbeit oder Kapitalerträgen erzielen oder hohe Renten beziehen.

Einkommenszuwächse der Reicheren

Guttmann: "Insofern haben wir dann herausgefunden, dass tatsächlich nur die Hälfte der Kirchenmitglieder Kirchensteuer zahlen. Und dann haben wir etwa 15 Prozent der Kirchenmitglieder, ich rede immer für katholisch und evangelisch, für beide sozusagen, zahlen etwa 77 Prozent des Kirchensteueraufkommens."
Das bedeutet: Die Kirchen haben überproportional von den Einkommenszuwächsen der Reicheren profitiert.Wenn Menschen aus finanziellen Erwägungen aus der Kirche austreten, dann gilt dies im stärkeren Maße für die untere Mittelschicht als für die Reicheren.
Kirchensteuer in Corona-Zeiten: Rettungsschirm in Gottes Namen
Die Kirchensteuer ist abhängig von der Einkommenssteuer. Das heißt: Auch die Kirchen werden die Wirtschaftskrise finanziell zu spüren bekommen, die Zeit der Rekordeinnahmen scheint vorbei. Wie richten Sie sich darauf ein?
"Es gibt eine Detailstudie, die das Kirchensteueraufkommen der Jahre 2010 und 2015 vergleicht und die kommt zu Ergebnissen, die anzeigen, dass die Kirchenbindung bei den Personen mit höheren Einkommen stabiler ist als bei Personen mit niedrigeren Einkommen", sagt der Berliner Sozialwissenschaftler Hermann Lührs. Und David Guttmann vom Freiburger "Forschungszentrum Generationenverträge" merkt zu den hohen Einkommen an:
Guttmann: "Ökonomen kennen ja den abnehmenden Grenznutzen von Geld, also je höher das verfügbare Einkommen, desto geringer fällt der Nutzen aus, der durch noch mehr Geld generiert wird. Das könnte ein Grund sein, dass dann da weniger ausgetreten wird."

Kirchensteuereinnahmen könnten stark sinken

David Gutmann nennt einen anderen Grund, warum die Kirchensteuereinnahmen mittelfristig stark sinken könnten: "Wenn die geburtenstarken Jahrgänge etwa so um den Geburtsjahrgang 1960, wenn die jetzt in den Ruhestand treten in den nächsten fünf bis zehn Jahren, dann wird es natürlich deutlich weniger sein. Und gerade bei den Kirchenmitgliedern wachsen dann - eben auch wegen der Austritte - nicht so viele Jahrgänge nach und dementsprechend erwarten wir eine negativere Entwicklung, als wir in der Vergangenheit erlebt haben."
Allerdings könnte ein Teil dieser Verluste dadurch kompensiert werden, dass in den kommenden Jahren auch die Renten stärker besteuert werden. Jedenfalls geht Sozialwissenschaftler Lührs davon aus, dass die Prognose der Freiburger Ökonomen sehr gewagt ist: "Bezogen auf die Kirchensteuer ist es ganz unplausibel zu sagen, im Jahr 2060 sind die Kirchenmitglieder nur noch die Hälfte und also ist das Kirchensteueraufkommen nur die Hälfte."

Gescheiterte Strukturreformen

Zumal die Höhe der Kirchensteuer auch von finanzpolitischen Entscheidungen abhängt. Würde beispielsweise die Bundesregierung auf die Einkommenssteuer eine Art "Corona-Soli" aufschlagen, würde davon auch die Kirchensteuer profitieren. Lührs vermutet hinten den Kassandrarufen der Kirchenleitungen vor finanziell mageren Jahrzehnten ein Kalkül, um Reformen durchzusetzen:
Lührs: "Immer dann, wenn das Kirchensteueraufkommen steigt, dann erscheinen solche Strukturreformen nicht mehr so notwendig. Und ich würde den Alarmismus, den man heute hat, nicht so sehr mit der Dramatik der Situation erklären, sondern mit den bisher gescheiterten Bemühungen um Strukturreformen."
Das sieht auch Pastor Volker Matthaei so. Er ist Vorsitzender der Pfarrvertretung der badischen Landeskirche: "Der eine Grund, warum die Situation so dramatisch dargestellt wird, ist in meinen Augen, dass eine dramatische Situation die Landeskirchen dazu bewegen soll, unter dem Dach der EKD mehr zusammenzurücken. Nach dem Motto: Wir haben viele Parallelstrukturen, das können wir ändern, wir sollten mehr zentral organisieren. Da sind natürlich auch Machtfragen mit angesprochen."

"Ohne finanzielle Bedrängnis Reformen nur schwer umzusetzen"

Und in der Tat spricht der Cheftheologe der EKD, Thies Gundlach, in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Zeitzeichen" von einer neuen Epoche der evangelischen Kirche. Man müsse unter dem Dach der EKD enger zusammenrücken. Gundlach beklagt:
"Die misstrauische Haltung gegen ‚die da oben‘ erschwere nicht nur sinnvolle Zusammenarbeit und zwingend nötige gemeinsame Kommunikation, sondern koste auch sehr viel Geld und Lebenszeit, weil sie zu einer völlig überdimensionierten, von Misstrauen geprägten Gremien(un)kultur führe."
Und er fügt die Erkenntnis an:
"Ohne finanzielle Bedrängnis sind Reformen nur sehr schwer umzusetzen."
Der evangelische Theologe Thies Gundlach.
EKD-Cheftheologe Thies Gundlach spricht von einer neuen Epoche der evangelischen Kirche. Man müsse unter dem Dach der EKD enger zusammenrücken. (imago / epd)
Die schlechten Finanzprognosen schlagen in den Kirchen auf alle Ebenen durch, meint Pfarrer Volker Matthaei: "In den Landeskirchen läuft das im Moment so, dass die prognostizierten Verluste bis 2060 runtergebrochen werden auf Doppelhaushalte, die dann anteilig zu dem prognostizierten Rückgang umgerechnet werden."
Und das bedeute konkret: "In der badischen Landeskirche, aus der ich stamme, wird bis Ende des nächsten Jahres darüber beschlossen, wo 30 Prozent aller Pfarrstellen eingespart werden sollen. Und das heißt, dass jetzt in allen Kirchenbezirken Überlegungen stattfinden müssen, wo es möglich ist, diese Stellen zu sparen. Dass das natürlich Konfliktpotenzial beinhaltet, dass das nicht gut für die Stimmung ist, das liegt auf der Hand", so Matthaei.

"Prognosen geben Denkrichtung vor"

In dem EKD-Papier "Kirche der Freiheit" von 2006 wurden die Pfarrerinnen und Pfarrer unter Druck gesetzt, dass die Gemeinden "gegen den Trend" wachsen sollten. Jetzt laufe es in die andere Richtung, sagt Volker Matthaei.
"Das, was jetzt passiert, ist natürlich ganz schön entmutigend, vor allem weil die Studie sehr indikativisch argumentiert: Wir werden so und so viele Mitglieder verlieren und nicht, wenn die momentane Entwicklung sich noch über Jahrzehnte fortsetzt, dann würden wir bei so und so viel Prozent landen. Das ist schlicht entmutigend", sagt Matthaei.
Staatsleistungen an die Kirchen: Schwierige Ablösung
Schon in der Weimarer Verfassung stand der Auftrag: Die Zahlungen, die der Staat an die Kirchen leistet, sollen abgelöst werden. Doch bis heute überweisen die Bundesländer eine halbe Milliarde Euro jährlich an die großen Kirchen. Die Kritik nimmt zu.
Die Prognose der Freiburger Studie bis 2060 sei eigentlich nur Kaffeesatzleserei, meint Matthaei. Und auch der Finanzchef der hannoverschen Landeskirche, Rolf Krämer, relativiert:
"Diese Prognosen, die wir bis 2030, erst recht bis 2060 haben, sind nicht in Stein gemeißelt, sondern sie verändern sich. Und diese Prognosen dienen ja auch nicht dazu, dass wir genau prognostizieren, wieviel Kirchenmitglieder wir in 50 Jahren haben, das können wir nicht und wollen wir auch nicht, sondern es gibt eine gewissen Denkrichtung vor, wie wir unsern Apparat verändern müssen."

Massiver Sparkurs

Und diese Denkrichtung, nämlich massiv zu sparen, fühlt sich durch die mutmaßlichen finanziellen Folgen der Corona-Pandemie nochmal bestätigt. Wobei auch hier der gleiche Reflex zu beobachten ist: düstere Prognosen werden relativiert. Astrid Kreil-Sauer ist Finanzdirektorin im katholischen Bistum Osnabrück:
"Zum Glück haben sich die schlimmsten Erwartungen, die wir im Sommer noch hatten, in der Gestalt nicht bewahrheitet. Man merkt, dass jetzt doch auch die ganzen Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern greifen. Wir haben den Einbruch aus den Lockdowns und den anderen Folgen, die wir jetzt langfristig auch aus der Corona-Pandemie erwarten müssen, in 2020 in einem Einbruch gesehen, aber nicht so stark, wie wir den noch in den Planungen erwartet hatten."
Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass sich die Einnahmen in 2020 um rund elf Prozent reduzieren würden. Nun geht man eher von fünf Prozent aus. Und spätestens in zwei Jahren sei man wohl auf dem Niveau von 2019.