Es ist laut an diesem Vormittag im Slum von Embu, 130 Kilometer nordöstlich von Nairobi. Es wird gebaut und gekocht, vor den Wellblechhütten stehen Menschen und unterhalten sich, grüßen im Vorbeigehen. Vor ein paar Tagen hat die Regenzeit eingesetzt. Die unbefestigten Wege zwischen den Hütten haben sich in tiefen Morast verwandelt. Peter Njeru Nhaga führt an heruntergekommenen Plumpsklos vorbei an den Rand des Slums bis zu einem blauen Kioskhäuschen aus Beton. Auf dem Dach steht ein riesiger schwarzer Wassertank, "Embu water and sanitation" steht darauf zu lesen.
"Ich betreibe den Kiosk. Er ist einer von mehreren hier im Slum und sorgt dafür, dass die Leute Zugang zu sauberem Wasser bekommen."
Für zwei kenianische Schilling – umgerechnet weniger als zwei Eurocent pro Kanister – können die Bewohner des Slums das saubere Trinkwasser an Peter Njeru Nhagas Kiosk an den Hähnen vor der kleinen Ladentheke abzapfen. Vom örtlichen Wasserwerk aus führen Leitungen zu dem Betonhäuschen. 600 solcher Wasserkioske gibt es mittlerweile in ganz Kenia, mit denen rund 1,4 Millionen Menschen in den städtischen Slums versorgt werden. Finanziert wird das Projekt aus staatlichen Mitteln, aus Stiftungsgeldern und internationaler Entwicklungszusammenarbeit.
"Früher haben die Leute das Wasser aus einem ungeschützten Brunnen geholt. Das Wasser war zwar umsonst, aber es hatte doch seinen Preis: Es war nicht sicher. Und wenn es dich krank gemacht hat, waren die Medikamente teurer als das saubere Wasser, das sie hier nun bekommen."
Sauberes Wasser und gute Sanitärversorgung beugen Krankheiten vor
80 Prozent der Krankheiten in Kenia lassen sich Schätzungen zufolge auf unreines Wasser und schlechte Sanitärversorgung zurückführen. Noch immer sind mehr als die Hälfte der städtischen Haushalte nicht adäquat versorgt. Auf dem Land ist die Lage noch gravierender. Und wer, wie in manchen Gebieten notwendig, den ganzen Tag damit beschäftigt ist, zu einem kilometerweit entfernten Brunnen oder Wasserloch zu laufen, der kann nicht viel anderes machen. Die Mechanismen, die bei fehlender Wasserversorgung wirken, sind so einfach wie niederschmetternd und kein ausschließlich kenianisches Problem.
Wasser gilt weltweit, genau wie Bildung, als Schlüsselelement für eine bessere Zukunft. Auch in den Millenniumszielen der Vereinten Nationen, den Millennium Development Goals - oder kurz MDG - kommt Wasser deshalb eine tragende Rolle zu. 2015 ist ihr Stichjahr – das Jahr, in dem nach 15 Jahren Bilanz gezogen werden soll, welchen Fortschritt der Maßnahmenkatalog gebracht hat. Und in dem sich die Ziele, trotz aller positiven Effekte, die sie zweifellos hatten, einmal mehr dem Vorwurf aussetzen müssen, im Detail an der Sache vorbeizugehen.
"Das, was heute in den MDG gemessen wird, ist viel zu unkonkret und viel zu vage, weil das, was heute gemessen wird, beispielsweise keine Berücksichtigung der Wasserqualität vornimmt. Es berücksichtigt auch nicht die Zugänglichkeit."
Sagt Dirk Schäfer, der für die GIZ, der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, das Wasserkioskprojekt in Embu mitbetreut.
"Es geht lediglich darum: Was für eine Art von Wasserquelle habe ich? Technisch gesprochen heißt das, wenn jemand in so einem Gebiet wie hier ein Loch im Boden hat mit Wasser drin und einem Deckel drauf, hat er im Sinne der MDG Zugang, weil die Quelle, die er hat, geschützt ist.
Das reicht nicht aus. Wir müssen gerade im städtischen Bereich auf Wasserqualität gucken können. Wir müssen schauen, ob es saisonale Schwankungen gibt, also ob es das ganze Jahr verfügbar ist. Wir argumentieren auch auf internationaler Ebene, dass zukünftige mögliche Wasserziele auch die wesentlichen Kriterien, die für einen Konsumenten wichtig sind, erfüllen. Also insbesondere, wie viel Wasser habe ich, ist es regelmäßig, habe ich eine adäquate Wasserqualität und ist der Preis sozialverträglich. Das ist heute nicht berücksichtigt beim Monitoring der MDG."
Das reicht nicht aus. Wir müssen gerade im städtischen Bereich auf Wasserqualität gucken können. Wir müssen schauen, ob es saisonale Schwankungen gibt, also ob es das ganze Jahr verfügbar ist. Wir argumentieren auch auf internationaler Ebene, dass zukünftige mögliche Wasserziele auch die wesentlichen Kriterien, die für einen Konsumenten wichtig sind, erfüllen. Also insbesondere, wie viel Wasser habe ich, ist es regelmäßig, habe ich eine adäquate Wasserqualität und ist der Preis sozialverträglich. Das ist heute nicht berücksichtigt beim Monitoring der MDG."
Milleniumsziele sind nicht konkret genug
Zu vage, nicht konkret genug, oft kaum messbar – schon kurz nach ihrer Einführung hatten die Millenniumsziele mit solcher Kritik zu kämpfen. Auch der Vorwurf, die acht Ziele seien vor allem eine Geberagenda, wurde bald laut: Eine Reihe von Forderungen, die den Entwicklungsländern übergestülpt worden seien, ohne dass diese maßgeblich an der Gestaltung des Maßnahmenkatalogs, der ja gerade sie betrifft, beteiligt gewesen wären. Die jeweiligen nationalen Realitäten seien aber gerade das, worauf es ankomme, wenn es um die Akzeptanz der Ziele gehe, sagt Dirk Schäfer. Das sehe man auch am kenianischen Wassersektor:
"Kenia hat sich von Anfang an eigene Ziele gesetzt. Ich kann mich an den Auftritt eines Mitarbeiters des Wasserministeriums in Stockholm 2006 erinnern, der gesagt hat, das, was berichtet wird bezüglich der MDG im Wassersektor, hat mit der Realität nichts zu tun. Wir müssen daran arbeiten, wie wir ein realistisches Bild bekommen, um dann zu überlegen, wie wir den Sektor entwickeln. Die MDG waren für Kenia im Wassersektor eigentlich schon seit 2006 nicht mehr die Leitlinie."
Die Leitlinie in Kenia heißt Vision 2030 - eine Agenda, von der überall im Land zu hören ist und die teilweise noch über die Forderungen der Millenniumsziele hinausgeht. Doch für sie muss erst in 15 Jahren Bilanz gezogen werden. Die meisten der acht Millenniumsziele jedenfalls, das zeichnet sich ab, wird Kenia trotz aller Anstrengungen nicht erreichen – eine Prognose, die für einen großen Teil der Entwicklungsländer gilt.
Doch insbesondere am Beispiel Kenia stellt sich die Frage, wie realistisch die Millenniumsziele überhaupt waren, wenn selbst eines der stabilsten Länder Ostafrikas sie nicht erreicht, anders als viele seiner Nachbarländer verschont von Bürgerkriegen, mit ordentlichem Wirtschaftswachstum, natürlichen Ressourcen und einer der modernsten Verfassungen des Kontinents? Ob sich Entwicklungsfortschritte mit den MDG adäquat messen lassen. Und ob die Stärke der Millenniumsziele – wenige prägnante Zielmarken, leicht verständlich und vermittelbar - nicht gleichzeitig ihre größte Schwäche ist.
Kofi Annan: "Never before have the leaders of so many nations come together in a single assembly. This is a unique event. A unique opportunity. And therefore a unique responsibility."
Im September 2000 treffen sich die Vertreter aller damals 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in New York zum sogenannten Millenniumsgipfel. Es sei eine einzigartige Veranstaltung, betont der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Eröffnungsrede. Eine einzigartige Möglichkeit. Und daher auch eine einzigartige Verantwortung. Destillat des Treffens ist die Millenniumserklärung – die schriftliche Bekundung der Länder, der Armut in der Welt geschlossen begegnen zu wollen. Die Millenniumsziele sollen dieser Erklärung Nachdruck verleihen und ihr das Schicksal vieler früherer Absichtserklärungen ersparen: in Vergessenheit zu geraten.
Armut der Welt halbieren
Die Armut in der Welt bis zum Jahr 2015 zu halbieren ist das erste und prominenteste der acht Ziele. Daneben fordern sie, eine Primärschulbildung für alle sicherzustellen, die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen, die Kindersterblichkeit zu senken, die Gesundheitsversorgung der Mütter zu verbessern, schwere Krankheiten wie AIDS und Malaria zu bekämpfen, die ökologische Nachhaltigkeit zu fördern und eine globale Partnerschaft für Entwicklung aufzubauen. Kofi Annan in seiner Rede zum Abschluss des Gipfels:
"Sie selbst sind die Vereinten Nationen. Es liegt in Ihrer Macht und deshalb auch in Ihrer Verantwortung, die Ziele zu erreichen, die Sie festgelegt haben."
Zwar wird es noch einige Jahre dauern bis die Massen an Daten ausgewertet sind und ein abschließendes Fazit der Millenniumsziele gezogen werden kann. Eine ihrer Ursprungsideen aber, das lässt sich schon jetzt mit Sicherheit sagen, ist aufgegangen: Das weltweite Bewusstsein zu schärfen für die Notwendigkeit, die Armut zu bekämpfen.
Die Gründe, warum so viele Länder die Ziele dennoch nicht erreichen, sind so vielfältig wie die 189 Länder selbst, die vor 15 Jahren die Ziele verabschiedet haben. In Kenia ist es neben vielen anderen Faktoren eine Verquickung aus wachsender Ungleichheit, jahrzehntelanger Korruption, Nachwirkungen der kolonialen Vergangenheit, Misswirtschaft, Umweltverschmutzung, Dürren, Hungerkatastrophen, ethnischen Konflikten. Rasantes Bevölkerungswachstum, erste Folgen des Klimawandels, Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Lage in vielen Ländern zusätzlich verschärft, auch in Kenia. Insgesamt aber, sagt Ken Osinde, bis vergangenen Oktober kenianischer Botschafter in Deutschland, sei das Land auf einem guten Weg.
"Manche Dinge waren eben unvorhersehbar. Ich bin sicher, dass wir das, was wir in der Vision 2030 festgelegt haben, erreichen werden, bis dahin ein industrialisiertes Land sind und dann auch die Millenniumsziele erreichen. Das alles ist keine leichte Aufgabe für eine so junge Wirtschaft und für ein Land mit so großem Bevölkerungswachstum. Die einzelnen Herausforderungen müssen also erledigt werden."
Viele Faktoren werden gar nicht erfasst
Eine der größten Herausforderungen aber, die Ungleichheit, wird von den Millenniumszielen kaum erfasst. Ökonomischer Fortschritt wird insgesamt gemessen – auch, wenn möglicherweise allein der wachsende Wohlstand der ohnehin schon Wohlhabenden den Wert hebt, ohne dass eine Verbesserung der ärmeren Gesellschaftsschichten erreicht wäre. Der Vorschlag, ein Ziel sollte erst dann als erreicht gelten, wenn es auch in ärmeren Bevölkerungsschichten erreicht wird, hat keinen Platz in den Millenniumszielen gefunden.
In Nairobi lässt sich in komprimierter Form betrachten, welche Auswirkungen eine solche Messweise haben muss. Hier liegen riesige moderne Shoppingmalls und der größte Slum des Landes nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Eine Widersprüchlichkeit, wie sie sich überall in Kenia findet. Doch die riesigen Rosenfarmen in dem wasserarmen Land, die Gemüseexporte nach Europa, obwohl es in trockenen Gebieten immer wieder zu Hungerkatastrophen kommt, sind auch der Versuch, am Weltmarktgeschehen teilzuhaben. Für den früheren Ministerpräsidenten und jetzigen Oppositionsführer Raila Odinga ein Schlüssel zum Erreichen der Ziele.
"Die Ziele wären erreichbar gewesen, wenn man früh genug angefangen und eine Regierung gehabt hätte, die sich darauf fokussiert hätte, die Ziele zu erreichen. Das sehen Sie ja daran, wie viel wir allein in der kurzen Periode von zehn Jahren getan haben. Hätten wir ein stetes Wirtschaftswachstum seit dem Startjahr 1990 bis zum Stichjahr 2015 gehabt, dann bin ich sicher, dass die meisten Ziele – sicherlich nicht alle, aber viele – erreichbar gewesen wären. Es wurde viel Zeit verschwendet."
Doch die acht Millenniumsziele waren gerade der Versuch, das Entwicklungsnarrativ über wirtschaftliche Überlegungen hinaus zu betrachten – und zwar global. Ursprünglich hatte man die Millenniumsziele nicht als nationale Ziele entworfen. Die Armut sollte über alle Länder hinweg halbiert, die Müttersterblichkeit global gesenkt, der Zugang zu sauberem Trinkwasser transnational sichergestellt werden.
Basisjahr 1990 sorgte automatisch für Erfolge
Zugute kam den Zielen das gewählte Basisjahr: 1990. Zum Zeitpunkt des Millenniumsgipfels waren damit schon zehn Jahre vergangen. Das hatte den praktischen wie fragwürdigen Vorteil, dass die erheblichen Verbesserungen vieler lateinamerikanischer Länder in den 90er-Jahren automatisch schon als Erfolg verbucht werden konnten.
2008 schließlich, auf halber Strecke, war Entwicklungsziel 1 erreicht: Die Halbierung der Armut in der Welt. Als maßgeblich verantwortlich für den Etappensieg gelten allerdings die Fortschritte in den bevölkerungsreichsten Ländern wie Indien und China, während in vielen anderen Ländern keine nennenswerten Verbesserungen zu verzeichnen waren.
Erst im Nachhinein, sagt Nicole Rippin vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, habe man beschlossen, die Entwicklungsziele auch auf nationale Ebene herunterzuholen.
"Das hat dann die ganzen Probleme aufgeworfen, weil die MDG gar nicht auf nationaler Ebene konzipiert waren. Dass man ganz unterschiedliche Startvoraussetzungen in den Ländern hatte, die die Länder vor unterschiedlich starke Aufgaben gestellt haben. Es gab ganz viele Berichte darüber, dass die MDG unfair zu vielen Ländern Sub-Sahara-Afrikas waren. Diese Länder hatten die schwierigsten Startbedingungen, aber die gleichen Zielvorgaben bekommen. Zum Beispiel die Reduzierung der Müttersterblichkeit um Zweidrittel ist natürlich viel schwerer zu erreichen, wenn ich von Anfang an ein hohes Level an Müttersterblichkeit habe als wenn ich mit einem geringeren Level starte. Diese Länder waren also von Anfang an völlig benachteiligt."
Von den zehn Ländern, die sich am besten hinsichtlich der MDG schlagen, kommen mittlerweile acht aus Afrika. Trotzdem hat der relativ gesehen ungerechte Ansatz der Entwicklungsziele den auf Geberseite grassierenden Afropessimusmus noch verstärkt - die pauschale Sichtweise also, ein ganzer Kontinent sei unfähig, seine Lage zu verbessern. Die jeweiligen Gegebenheiten und Möglichkeiten von so unterschiedlichen Ländern wie Kenia, Somalia, Uganda, Südafrika oder Burkina Faso werden in einer solch undifferenzierten Geber-Nehmer-Perspektive verwischt.
"Dreiviertel der Entwicklungsinvestitionen werden von Kenianern selbst erbracht. Das ist etwas, was man nicht vergessen darf, wenn man Länder in ihrer Abhängigkeit, aber auch in ihrer Bereitschaft, ihre Entwicklung voranzubringen, beurteilt."
Achim Steiner ist Exekutivdirektor der UNEP und lebt selbst seit mehr als acht Jahren in Kenia. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen hat sein Hauptquartier in Nairobi.
"Die Kenianer haben ein Besteuerungssystem, das es ihnen ermöglicht, und eine Volkswirtschaft, die es ihnen ermöglicht, diese Investitionen zu großem Teil selbst zu tätigen. Entwicklungshilfe ist hier nicht die Nummer eins, sondern vielleicht drei oder vier. Denn es ist Regierung, Privatwirtschaft und dann letztlich internationale Zusammenarbeit, die das Entwicklungsbudget in diesem Land ausmachen."
Entwicklungsbudget sagt wenig über Lebenswirklichkeit aus
Doch auch in Kenia heißt Entwicklungsbudget nicht gleich Entwicklung. Und dass ein Millenniumsziel auf dem Papier erreicht wird, sagt oft genug wenig über die Lebenswirklichkeit aus. Das liegt nicht zuletzt an der Wahl der Indikatoren, mit denen der Fortschritt hinsichtlich der Ziele gemessen wird.
Eine Grundschulausbildung für alle – für Jungen wie für Mädchen - Ziel 2: Auf dem Papier wird Kenia es höchstwahrscheinlich erreichen, denn das Land hat unzählige neue Schulen gebaut. Doch die Qualität der Ausbildung erfassen die Indikatoren nicht. 130 Millionen Kinder weltweit, so heißt es in einem UNESCO-Bericht aus dem Jahr 2012, konnten trotz abgeschlossener Grundschule weder lesen noch schreiben.
Andere Entwicklungsfortschritte könnten allein deshalb nicht gemessen werden, weil die entsprechenden Daten nicht zur Verfügung stehen, sagt Nicole Rippin vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik:
Andere Entwicklungsfortschritte könnten allein deshalb nicht gemessen werden, weil die entsprechenden Daten nicht zur Verfügung stehen, sagt Nicole Rippin vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik:
"Man hat bei den MDG dann oft gesagt, wenn wir die Daten nicht haben, dann nehmen wir eben die Daten, die zur Verfügung stehen. Das war in vielen Fällen eine ganz schlechte Entscheidung."
Weil etwa die Daten fehlten, um zu erfassen, wie viele Menschen Zugang zu einer sicheren Unterkunft haben, wurde kurzerhand der Indikator umformuliert – zugeschnitten auf Daten, die tatsächlich vorhanden waren. Als Maßstab gilt seitdem die Menge der städtischen Bevölkerung, die in Slums lebt. Eine hochproblematische Umformulierung, denn sie führte dazu, dass in manchen Ländern kurzerhand die informellen Siedlungen geräumt wurden, um dem Ziel einen Schritt näher zu kommen.
"Das ist natürlich eine unglaubliche Verletzung der Menschenrechte. Es hat aber dazu geführt, dass es durchgeführt wurde aufgrund der falschen Anreize, die durch die MDG gesetzt wurden. Das ist natürlich etwas, was wir absolut nicht wollen. Dass absolute Menschenrechtsverletzungen umdefiniert werden zu großen Anstrengungen der MDG. Das zeigt, was für fatale Folgen es haben kann, wenn man Indikatoren benutzt, die einfach schlecht sind."
Die Wahl der Indikatoren, die Zahl der Ziele, ihre Messbarkeit und Aussagekraft – all das wird nun erneut diskutiert, mit den Erfahrungen aus 15 Jahren Millenniumszielen im Rücken. Denn wenn sie Ende des Jahres auslaufen, stehen ihre Nachfolger schon bereit. Die Nachhaltigen Entwicklungsziele, die Sustainable Development Goals, sollen im September 2015 verabschiedet werden, und dann – eine Lehre aus den MDG - für alle Länder gelten, mit ihren jeweiligen speziellen Gegebenheiten. Auch Deutschland müsste dann seine Armut wirksamer bekämpfen.
Nationale Kontexte werden nicht einbezogen
Deswegen werden die Ziele auch national interpretiert, werden die nationalen Kontexte mit einbezogen, weil man nicht sagen kann, die Armut in Deutschland ist vergleichbar mit der Armut in Kenia. Aber wir haben auch Armutsprobleme in unserem Kontext und wir müssen uns diesen Problemen widmen.
Dieser Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass eine simple Einteilung in Arm und Reich – falls sie es je gab – nicht mehr möglich ist. Eine Reise durch Kenia zeigt deutlich: Armut ist längst kein Problem armer Länder mehr, sondern armer Menschen. Das Problem aller Länder lautet Ungleichheit und löst die starre Geber-Nehmer-Perspektive zunehmend auf. Eine im besten Sinn unangenehme Entwicklung, in der das wohlige Gefühl des Helfens der Frage nach einer möglichen Unverhältnismäßigkeit des eigenen Besitzes weichen muss. Und eine Entwicklung, die helfen könnte, andere Länder und ihre Defizite nicht nur anhand des eigenen Rasters zu betrachten, innerhalb dessen viele Entwicklungsländer und auch Kenia hoffnungslos scheinen, sagt Achim Steiner von der UNEP.
"Vieles in Kenia ist weiter – für die Kenianer genau wie für die internationale Gemeinschaft – schwer nachvollziehbar, kritisierbar. Man muss auch immer wieder schauen: Wo ist der Ausgangspunkt der Menschen, die hier versuchen, etwas zu schaffen? Der Ausgangspunkt ist der, dass der, der heute der Chef einer Baubehörde ist, dessen Mutter und Vater konnten noch nicht mal schreiben. Das heißt, der Generationensprung, der hier stattfindet im Sinne der Bildung, ist wirklich faszinierend. Man kann natürlich ein Land immer am Defizit und man kann schauen: Was haben Menschen unter unglaublich schwierigen Gesichtspunkten oder Realitäten schon geschafft und wie kann man ihnen auf diesem Weg zur Seite stehen."
Die Nachhaltigen Entwicklungsziele sind der Versuch, die Erfolge der Millenniumsziele fortzuführen und einige ihrer Fehler auszumerzen. Doch die Sorge, auch diese Ziele könnten in wichtigen Punkten an der Sache vorbeigehen, schwingt mit. Der wachsenden Ungleichheit in der Welt, die viele Experten als Hauptgrund sehen, warum die MDG in zahlreichen Ländern nicht erreicht werden, wird wohl wieder kein prominenter Platz zukommen. Erst ab 2030, so sieht es derzeit aus, soll das Wirtschaftswachstum auch ärmere Bevölkerungsgruppen einbeziehen müssen. 2030. Es ist das Jahr, in dem die Nachhaltigen Entwicklungsziele auslaufen.