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Entwicklungsminister Müller (CSU) zu Moria
"Nirgendwo herrschen solche unterirdischen Zustände"

Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) drängt nach dem Brand im griechischen Flüchtlingscamp Moria auf schnelle Hilfe. Im Lager herrschten inakzeptable humanitäre Standards, sagte Müller im Deutschlandfunk. Die Menschen müssen verteilt werden. Deutschland könne dabei ein Zeichen setzen.

Gerd Müller im Gespräch mit Frank Capellan |
09.09.2020, Berlin: Gerd Müller (CSU), Entwicklungsminister, äußert sich zur Unterzeichnung einer Absichtserklärung durch die Diakonie und den Caritasverband mit dem Ziel, die Beschaffung von Textilien nachhaltiger zu gestalten und damit zu einer Verbesserung der Menschenrechts-, Sozial- und Umweltstandards entlang globaler Lieferketten und in den Produktionsländern beizutragen. Das Textilsiegel "Grüner Knopf" ist vor einem Jahr an den Start gegangen. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa | Verwendung weltweit
Die Menschen lebten in Moria unter inakzeptablen Verhältnissen, so Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschlandfunk (picture alliance/Bernd von Jutrczenka/dpa)
Beim Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos wurden über 12.000 Menschen obdachlos. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben angekündigt, dass Frankreich und Deutschland zusammen mit anderen EU-Ländern 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen wollen. Bundesinnenminister Seehofer hat inzwischen erklärt, dass Deutschland bis zu 150 minderjährige Flüchtlinge und Migranten aufnimmt.
Weckruf für europäische Flüchtlingspolitik
Diese Feuerkatastrophe sei ein Weckruf für die europäische Flüchtlingspolitik, sagte Gerd Müller (CSU), Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Deutschlandfunk. Er selbst sei schockiert gewesen, als er bei einem Besuch die Zustände im Lager Moria gesehen habe. Die humanitären Standards seien inakzeptabel. Nun müsse sofort geholfen und die Menschen verteilt werden.
Gleichzeitig müsse die Corona-Pandemie und deren Folgen weltweit bekämpft werden, so Entwicklungsminister Müller. Die EU habe zwar 2.000 Milliarden an Recovery-Hilfsprogrammen für die europäische Wirtschaft beschlossen, doch keinen einzigen Euro-Cent zusätzlich an Hilfen für Afrika, Indien und die Entwicklungsländer, kritisierte Müller.
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Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, hat sich im Dlf entsetzt gezeigt über die Zustände auf der griechischen Insel Lesbos nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria. Sie forderte die Bundesregierung auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und geflüchtete Menschen aufzunehmen.
Druck auf Putin – Müller gegen Stopp von Nord Stream 2
Der CSU-Minister sprach sich dagegen aus, wegen der Vergiftung des russischen Regimekritikers Navalny und mit Blick auf den Einfluss Russlands in Belarus die Fertigstellung der Gas-Pipeline "Nord Stream 2" zu stoppen. "Das jetzt politisch zu verbinden, das ist nicht mein Ansatz", betonte Müller. Das werde nicht zum Erfolg führen. "Jubeln würde dann Donald Trump, der uns ja sein Gas liefern möchte – zu teuren Preisen!"
Lieferkettengesetz – Haftungsfrage bleibt zentral
Während in Europa das Vorzeigemodell der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft herrsche, könne man im Zeitalter der Globalisierung keine Sklavenarbeit und Kinderarbeit in den Lieferketten akzeptieren. Hier setze das Lieferkettengesetz an, das Firmen verpflichte, Menschenrechtsstandards in den Produktionslinien einzuhalten.
Zentral bleibt für Gerd Müller dabei die Haftungsfrage: Unternehmen, die bei der Produktion im Ausland Sozial- und Menschenrechtsstandards vernachlässigen, sollen dafür zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. "Das ist der zentrale Punkt, das Gesetz hat natürlich nur Wirkung, wenn auch die Haftungsfrage wirkt!"
Das Interview im Wortlaut:
Frank Capellan: Herr Müller, seit dieser Woche steht ganz plötzlich die Flüchtlingspolitik wieder im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Das Lager Moria auf der Insel Lesbos ist abgebrannt. Möglicherweise haben Corona-Fälle in einem völlig überfüllten Flüchtlingslager – dort leben ja fast 13.000 Menschen, obwohl es im Grunde nur für eine Zahl von 3.000 Menschen ausgelegt ist – möglicherweise haben diese Corona-Fälle dazu geführt, dass es zu diesen Bränden, zu Unruhen gekommen ist. Sie haben schon vorher gesagt: Ich habe viele Flüchtlingslager in der Welt gesehen, aber Moria ist eine Schande für Europa. Muss man nun sagen, dieser Brand ist ein Symbol für das Scheitern der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik?
Gerd Müller: Ja, das kann man sagen. Zugleich muss es ein Weckruf sein. So darf es nicht weitergehen. Wer in diesem Lager einmal war, der wird nicht von Flüchtlingslager sprechen, sondern das ist ein Gefängnis.
Capellan: Das würde dann aber bedeuten, man verstößt gegen europäische Standards, gegen Menschenrechtskonventionen, die ja gerade von der Europäischen Union eigentlich immer sehr hochgehalten werden.
Müller: Eindeutig. Das kann ich voll unterstreichen. Ich war schockiert, als ich vor zwei Jahren mit den Flüchtlingen zusammengetroffen bin. Und mir als Minister zeigt man ja auch nur die besseren Ecken. Und da habe ich eine Ecke gesehen, die fürchterlich war. Zehn schwangere Frauen aus Afrika in einer Ecke. Bin ich hin, habe mit ihnen gesprochen, wo sie herkommen. Aus Nigeria. Schwanger auf der Flucht geworden. Das waren vergewaltigte Frauen. Wer hilft denen? Wie und wo gebären sie ihre Kinder? Ohne ärztlichen Beistand. Die Menschen leben dort unter inakzeptablen Verhältnissen. Jetzt ist Corona ausgebrochen und damit natürlich auch die Panik. Es war vorhersehbar und ich bin ziemlich empört – aber das ist keine Kategorie in der Politik –, dass nichts passiert ist.
Capellan: Ist das denn gewollt, möglicherweise auch von vielen Staaten in der Europäischen Union, dass man ganz einfach abschrecken will, dass man gar kein Interesse daran hat, diese Menschen da auf andere europäische Staaten zu verteilen?
Müller: Ich unterstelle dies keinem bewusst, aber das ist die Wirkung. In den Gesprächen damals mit den Verantwortlichen im Camp, die sagten mir, diese Menschen warten fünf Jahre auf einen Stempel, auf ein Dokument, ob sie hierbleiben dürfen oder nicht. Das ist das eine. Man muss doch in fünf Jahren feststellen können, ob die Flüchtlinge einen Aufenthaltsstatus haben oder nicht. Nein, sie werden mit Bürokratie festgehalten. Und das Zweite sind die humanitären Standards, die inakzeptabel sind. Frau von der Leyen ist ja über das Camp geflogen. In Brüssel weiß man, welche Zustände dort herrschen. Und ich sage es noch mal: Ich war im Südsudan, Nordirak, im Dadaab, dem größten afrikanischen Flüchtlings-Camp. Nirgendwo herrschen solche unterirdischen Zustände. Das heißt, jetzt muss sofort geholfen werden. Die Menschen müssen verteilt werden.
Capellan: Und da haben Sie jetzt gesagt – Pardon, wenn ich unterbreche – Deutschland könnte jetzt sofort 2.000 Menschen aufnehmen. Das würde aber bedeuten, Deutschland würde allein, im Alleingang vorausgehen, obwohl ja Ihr Parteifreund, der Innenminister von der CSU, Horst Seehofer, bis zuletzt sich ja dagegen wehrt.
Müller: Horst Seehofer hat sofort Hilfe eingeleitet über das Technische Hilfswerk. Das ist zentral wichtig. Die Menschen liegen im Wald auf dem Boden. Viele Kinder. Das ist aber nur der erste Schritt.
Capellan: Ja, genau. Denn er möchte ja nicht, dass die Menschen nach Deutschland kommen. Er drängt auf eine europäische Lösung, obwohl beispielsweise auch der bayrische Ministerpräsident, auch ein CSU-Mann, Markus Söder, gesagt hat: Wir könnten Menschen aufnehmen. Die Oberbürgermeisterin von Augsburg habe ich so vernommen. Da sind ganz viele, die in Deutschland sagen: Wir könnten sofort helfen. Es scheitert aber bisher am Bundesinnenminister.
Müller: Horst Seehofer hat ja recht, dass wenn alle Europäer sagen würden, wir lösen das Problem, dann wären die Flüchtlinge in drei Tagen verteilt und ordentlich behandelt. Aber es kann nicht sein, dass wir jetzt wieder wochenlang diskutieren, sondern wir sollten das Angebot der deutschen Länder und Kommunen aufgreifen und zeigen: Deutschland handelt sofort. Das ist eine humanitäre Katastrophe.
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Nach dem Großbrand im griechischen Flüchtlingscamp Moria wollen zehn EU-Staaten zusammen 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen.Das sei eine sehr ernüchternde Zahl, so der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn im Dlf. Neben dem Schicksal der Menschen gehe es doch auch um europäische Solidarität.

Capellan: Auch im Alleingang?
Müller: Was heißt Alleingang? Wir können doch jetzt nicht darüber diskutieren: Lassen wir die Menschen auf der Straße verhungern oder sterben? Das ist eine Brandkatastrophe, die sie obdachlos gemacht hat. Wir können das auch nicht den Griechen jetzt überlassen. Es sind europäische Flüchtlinge. Und Deutschland könnte hier ein Zeichen setzen jetzt. Das ist der letzte Weckruf Richtung Brüssel, an die Untätigkeit in der Brüsseler Kommission, mit den Griechen dieses Problem zu lösen. Wie nehmen 2.000 auf und fordern alle anderen Länder, Frankreich, Niederlande und andere, auf, dem guten Beispiel zu folgen.
Capellan: Haben Sie da Hoffnung, dass das passiert?
Müller: Und dann sollen ein paar Böse oder Bösewichte zurückbleiben, die sagen, das interessiert mich nicht, wenn die Kinder auf der Straße liegen.
Capellan: Ungarn, Polen – daran denken Sie?
Müller: Ja, aber das können wir doch – fünf, sechs, acht große Länder – lösen. Und der zweite Schritt muss sein: Das war das letzte Signal. Nach fünf Jahren Flüchtlingsdebatte, Hin- und Herschieben von Lösungen oder Nicht-Lösungen, Blockade, wir können nicht bei 27 Ländern noch mal fünf Jahre auf Einstimmigkeit warten. Es gibt die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit in Europa. Einstimmigkeit, bis Polen, Ungarn und andere, da warten wir noch mal zehn Jahre. Und es werden weitere Katastrophen folgen.
Capellan: Noch mal kurz nachgefragt, wenn Sie von 2.000 Menschen sprechen, die Deutschland aufnehmen könnte, wie schnell kann das gehen?
Müller: Wenn ich den Auftrag bekomme als Deutscher Entwicklungsminister, lösen wir das innerhalb von drei Tagen.
Capellan: Wir haben die Corona-Problematik auch angesprochen. Befürchten Sie, dass diese Pandemie auch dazu führen wird, dass immer mehr Flüchtlinge auch nach Europa drängen?
Müller: Corona zeigt: Wir leben in einer Welt, in China ausgebrochen, zwischenzeitlich sind 185 Länder betroffen und die Ärmsten der Armen am härtesten. Das müssen wir in Deutschland, in Europa uns auch einmal zu Gemüte führen. In Indien ist die Wirtschaft nicht um fünf oder zehn, sondern um 23 Prozent eingebrochen. Wir haben 25 Staaten Afrikas, die vor dem Kollaps stehen. Und daraus entwickelt sich eine dramatische Hunger- und Armutskrise in diesen Ländern. Transportwege sind blockiert. Keine Medikamentenlieferungen.
Ich will es mal an einem Beispiel sagen. Derzeit können 1,3 Milliarden Kinder nicht zur Schule gehen in diesen Ländern und Kontinenten. Die Hälfte der Kinder bekommt ein Essen am Tag, nämlich in der Schule. Und jetzt keines mehr: Folgen von fehlenden Medikamentenlieferungen. Die prognostizierten Zahlen: An Tuberkulose werden alleine in diesem Jahr zusätzlich 500.000 bis 800.000 Menschen sterben, an Aids zusätzlich 500.000, weil die Medikamente nicht mehr ankommen.
Capellan: Was kann, was müsste Europa da tun? Was würden Sie tun, wenn Sie Kommissionspräsident wären?
Müller: Also, erstmal: Deutschland geht voran. Und deshalb können wir das auch bei Moria im Inneren von Europa. Wir gehen voran durch ein Corona-Sofort-Programm. Ich bin dem Finanzminister, der Bundeskanzlerin sehr dankbar. Innerhalb von drei Wochen wurde ja ein Drei-Milliarden-Programm beschlossen, das ich jetzt umsetze in diesen Ländern. Und wir sind sehr wirkungsvoll unterwegs.
Capellan: Und genau so was bräuchten wir Ihrer Ansicht nach auf europäischer Ebene? Da tut Europa Ihrer Meinung nach zu wenig?
Müller: Die Europäische Union hat 2.000 Milliarden an Recovery-Hilfsprogrammen für die europäische Wirtschaft beschlossen. Das ist die Hilfe nach innen. Die Europäische Union – ich war vergangene Woche in Brüssel – hat keinen einzigen Euro-Cent zusätzlich an Hilfen für Afrika, Indien und die Entwicklungsländer beschlossen. Man schaut nur auf sich selber. Aber wir müssen doch alle verstehen: Die Pandemie bekämpfen und besiegen wir nur weltweit. Wenn wir dort nicht stabilisieren, dann werden die Menschen zu uns kommen. Sie haben keine andere Perspektive.
Capellan: Dass man so sehr, wie Sie das beschreiben, nach innen nur schaut, wird das auch bedeuten, sehen Sie da auch die Gefahr, wenn wir denn einen Impfstoff haben, dass der in den ärmsten Staaten der Welt erst viel zu spät ankommen wird?
Müller: Ein möglicher Impfstoff ist ein globales Gut und muss dort eingesetzt werden, wo er am dringendsten, am notwendigsten ist. Darauf müssen wir uns in der Welt verständigen. Da bin ich optimistischer. Da hat auch Deutschland, aber auch die WHO und die internationale Staatengemeinschaft zwischenzeitlich Vorsorge getroffen. Es gibt eine Organisation. Die nennt sich Covax. Dort werden Gelder eingezahlt, um zwei Milliarden Impfdosen, so sie vorhanden sind, zur Verfügung zu stellen, weltweit, auch den Entwicklungsländern.
Capellan: Europa ist zerstritten in der Flüchtlingsfrage. Ist aber auch uneins in der Frage – das sehen wir gerade in den vergangenen Wochen – wie man mit Vladimir Putin umgeht. Stichwort Nawalny, Stichwort Nord Stream 2. Und auch der Einfluss Russlands auf Weißrussland, das wir heute ja Belarus nennen, ist erheblich. Ihr Entwicklungsministerium pflegt Partnerschaften mit ehemaligen Sowjetrepubliken, engagiert sich beispielsweise in der Ost-Ukraine. Da geht es darum, Menschen, die vertrieben wurden infolge des Krieges zu unterstützen. Es gab auch Versuche, die Zivilgesellschaft in Belarus zu stützen. Wünschen Sie sich von Europa, von Deutschland ein klares Votum gegen Putin? Wünschen Sie sich Sanktionen? Wünschen Sie sich möglicherweise auch den Stopp der Pipeline?
Müller: Ich wünsche mir den friedlichen Wechsel in Belarus. Ich habe größten Respekt. Wenn man von Mut spricht, dann denke ich an die Frauen in Belarus. Das muss man sich vorstellen, welchen Mut und welches Risiko die eingehen. Fotografiert, gefilmt von einem solchen totalitären System. Sie nehmen alle Konsequenzen im beruflichen und familiären Bereich in Kauf.
Capellan: Aber Putin steht bereit, um Soldaten, um Geheimdienstleute, bewaffnete Truppen, Elitekommandos nach Weißrussland zu schicken. Wie kann Europa das verhindern?
Müller: Ich glaube, wenn der Druck weiter anhält, dieser mutigen Bevölkerung in Belarus, dann wird es zu einem Wechsel kommen, ohne dass die Russen das verhindern werden. Und das Volk in Belarus, diese Demonstrationen wenden sich nicht direkt gegen Russland. Sie wollen einen Regime-Wechsel im eigenen Land.
Der französische Parlamentsabgeordnete Jean-Louis Bourlanges lächelt freundlich in die Kamera.
Französischer Politiker Bourlanges - "Putin kämpft für den Erhalt seines Systems"
Der französische Parlamentsabgeordnete Jean-Louis Bourlanges hat eine einheitliche deutsch-französische Reaktion auf die mutmaßliche Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny gefordert. Auch das Projekt der Gasleitung Nord Stream 2 gehöre auf den Tisch. Russland müsse seine Haltung ändern.

Capellan: Aber zweifelsohne spielt ja Putin da auch eine Schlüsselrolle. Er kann Einfluss ausüben auf Lukaschenko. Müsste man den Druck erhöhen? Wären Sie auch dafür, die Pipeline infrage zu stellen? Weil viele ja sagen: Nur diese Sprache wird Putin verstehen!
Müller: Ich gehöre nicht zu diesen, die jetzt die Pipeline infrage stellen. Bei Nord Stream 2 handelt es sich um ein Projekt, das über zehn Jahr hinweg konzipiert und jetzt 95 Prozent in der Endphase umgesetzt ist. Das jetzt politisch zu verbinden, das ist nicht mein Ansatz. Wird auch nicht zum Erfolg führen. Jubeln würde dann Donald Trump, der uns ja sein Gas liefern möchte zu teuren Preisen. Ich unterstütze alles, was auch von Seiten des Bundesaußenministers Maas und der Europäische Union an Sanktionen vorbereitet wird. Das wird eine Wirkung erzielen. Mit Nord Stream das zu verbinden, ist nicht mein Weg.
Capellan: Haben die Sanktionen gewirkt mit Blick auf die Ukraine?
Müller: Ja, das ist eine gute Frage. Nein, bisher nicht.
Capellan: Also, dann stellt sich die Frage: Warum sollte sich Putin von weiteren Sanktionen überhaupt beeindrucken lassen?
Müller: Ich bin als Entwicklungsminister natürlich ständig mit der Frage konfrontiert: Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit totalitären Regimen. Wir dürfen dann nicht nur auf Russland blicken. Dann stellt sich ebenso die Frage mit China. Der Menschenrechtsbeauftragte Michael Brand darf nicht einreisen, weil er die Zustände kritisiert hat. Dann stellt sich natürlich die Frage mit vielen afrikanischen Ländern: Dürfen wir dort zusammenarbeiten, wo es zweifelsohne keine Demokratie gibt und schwierige Menschenrechtslage?
"Das kann nicht unser Wohlstandsmodell sein"
Capellan: Lassen Sie uns über ein Projekt Ihres Hauses sprechen, das in der vergangenen Woche ein Jubiläum feierte: der Grüne Knopf, das Siegel für fair gehandelte Textilien. Das gibt es nun seit genau einem Jahr. Ein Label, das insofern über diese Branche hinaus von Bedeutung sein könnte, weil es vielen als Blaupause gilt für ein Projekt, über das die Koalition gerade streitet: das Lieferkettengesetz. Da sollen deutsche Unternehmen per Gesetz dazu gezwungen werden, ihre Produktionsbedingungen im Ausland zu kontrollieren. Menschenrechtsstandards, soziale Standards müssen eben auch bei der Produktion im Ausland eingehalten werden. Der Grüne Knopf hingegen im Textilbereich setzt auf freiwillige Selbstkontrolle. Warum reicht das eigentlich nicht?
Müller: Wenn wir in der Früh eine Tasse Kaffee trinken, dann kommen die Kaffeebohnen aus Westafrika oder aus Äthiopien. Die Menschen dort leben in Armut, denn sie bekommen für ein Kilo Kaffee Rohbohnen 50 Cent bezahlt. Wir ziehen dann unsere Jeans an. Die Jeans wird in Bangladesch produziert von Frauen, die 15 Cent in der Stunde Arbeitslohn bekommen, die zwölf bis 14 Stunden arbeiten, Sechs-Tage-Woche. So, wie im 19. Jahrhundert in Deutschland. Große Industriezweige haben die Produktion ausgelagert in Länder, in Entwicklungsländer, wo es billiger produziert, keine gesetzlichen Rahmenbedingungen für Arbeitsschutz, Schwangerenschutz … das wird alles unterlaufen. Ebenso die ökologischen, die Umweltstandards. Das kann nicht unser Wohlstandsmodell sein.
"Gemeinwohlorientierte, gerechte Globalisierung"
Capellan: Aber im Textilbereich ist es Ihnen ja zumindest gelungen, 50 Unternehmen zu gewinnen, die sagen: Wir schauen freiwillig, ohne gesetzgeberischen Druck darauf, dass wir ordentlich, anständig produzieren können.
Müller: Ja. Nun, meine Vision – und die muss Realität werden – ist eine gemeinwohlorientierte, gerechte Globalisierung. Die Märkte haben sich befreit von Regeln und Standards. Wir haben in Europa das Vorzeigemodell der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Wir haben diese Regeln: sozial und ökologisch. Und es darf und kann nicht sein, dass im Zeitalter der Globalisierung eben externalisiert wird, die Produktion verlagert und wir Sklavenarbeit, Kinderarbeit akzeptieren in unseren Lieferketten. Und hier setzt nun das neue Gesetz an. Ein Lieferkettengesetz, das die Firmen verpflichtet, Menschenrechtsstandards in den Produktionslinien einzuhalten.
Nun kommt das erste Argument: Das geht nicht. Der Müller ist ein Idealist. Wir stimmen dem zwar zu, aber das können wir nicht kontrollieren. Und deshalb habe ich das Textilbündnis und den Grünen Knopf kreiert. Die Firmen, die den Grünen Knopf jetzt bekommen, haben sich verpflichtet, sind zertifiziert, halten Menschenrechtsstandards ein, zahlen existenzsichernde Löhne in Bangladesch, in Äthiopien, in der ganzen Welt. Da gibt es Kläranlagen in der Produktion. Da wird fair produziert. Und die Quintessenz ist: Es geht. Wenn es bei Textil geht, dann geht es auch bei Coltan und bei anderen Bereichen.
Capellan: Allerdings sagen auch viele Kritiker, der Grüne Knopf, das sind vor allen Dingen große Ketten, große Unternehmen, Tchibo, Lidl, Aldi, Kaufland, die sind dabei. Und die mittelständischen Betriebe haben viel größere Probleme, ihre Lieferketten nachzuvollziehen. Das ist viel zu aufwendig für die. Da stellt sich die Frage, ob Sie da möglicherweise zu viel der Last der Kontrolle auf die mittelständischen Betriebe legen.
Müller: Das sind die Argumente der Verbände. Die Verbandssprecher sollten ihren Widerstand aufgeben. Denn auch hier ist der Beweis erbracht, ich habe vor wenigen Tagen Vaude, diese Vorzeigetextilfirma Outdoor, besucht,da darf man auch mal Werbung machen, für solche Firmen, das ist ein Mittelständler. Genau das habe ich bewiesen. Kleine und Mittelständler können es. Dann können es auch Große.
"Kaufen Sie Produkte mit Grünem Knopf!"
Capellan: Aber lassen Sie mich mal ein Beispiel nennen. Es wurde immer wieder das Beispiel der Hemdenproduktion genommen. So, in Zeiten der Geschlechtergerechtigkeit würde ich jetzt mal die Produktion eines BHs als Beispiel nennen wollen. Der hat 20 Komponenten, sagen mir die Experten. Und da sind bis zu, ich kann es gar nicht glauben, bis zu 1.000 Zuliefererfirmen beteiligt, um einen solchen BH zu produzieren. Und dann stellt sich die Frage für das kleine, mittelständische Unternehmen in Schwaben, ob das überhaupt nachvollziehen kann, ob all diese Zulieferer wirklich die sozialen und Menschenrechtsstandards einhalten. Geht das?
Müller: Ja, das geht. Das ist möglich und das zeigen viele Produktlinien, die den Grünen Knopf tragen. Ich glaube, dass keine Frau, die jetzt zuhört, einen BH tragen will, der durch Kinderarbeit entstanden ist und durch Ausbeutung von Näherinnen, durch sklavenähnliche Löhne. Und deshalb kann ich nur empfehlen, auch in der BH-Produktion, auf Grünen Knopf umzustellen. Und ein Erfolgsmodell wird das dann, wenn auch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die jetzt zuhören, sagen: Der Müller hat recht, ich will nicht, dass Kinderarbeit in meinem Produkt steckt. Und dann kann ich nur sagen: Dann kaufen Sie Produkte mit Grünem Knopf!
"Nur Wirkung, wenn auch die Haftungsfrage wirkt"
Capellan: Aber dann kommt der Bundeswirtschaftsminister von der CDU, Peter Altmaier, und der sagt: Der Müller hat nicht recht, weil ich dem Mittelstand mit diesem Lieferkettengesetz zu viel zumute. Denn in diesem Gesetzentwurf soll ja auch stehen, dass die Betriebe, die sich nicht an Standards halten, dass die haftbar gemacht werden, dass die verklagt werden können. Und da sagen viele Leute: Das geht nicht. Wir können höchstens ein Bußgeld verhängen. Wie zentral ist diese Frage der Haftbarmachung, der zivilrechtlichen Klagemöglichkeit gegen solche Unternehmen, die dann eben doch einen Zulieferer in der Kette haben, der meinetwegen Kinder beschäftigt hat? Wie wichtig ist diese Haftungsfrage für Sie?
Müller: Das ist der zentrale Punkt. Das Gesetz hat natürlich nur Wirkung, wenn auch die Haftungsfrage wirkt. Da muss ich sagen, wir haben jetzt im BGB die Regelung, dass Unternehmen haften in Schadensfällen, wenn grobe Fahrlässigkeit vorherrscht. Wir hatten den Fall Ali Enterprise, ein Unternehmen, das in Pakistan produziert hat. Dort gab es einen Brand, keine Brandschutzvorrichtung, alle Türen versperrt, viele Menschen gestorben. Da kam es zu einem solchen Haftungsfall. Wir haben das jetzt schon. Wir haben beste Beispiele. Ich habe Textil genannt. Ich könnte jetzt Autoreifen, Conti, nennen, die mit uns ein Modell umgesetzt haben von der Kautschukproduktion bis zur Reifenproduktion. Und die großen Unternehmen machen das sowieso.
Ein Blick in eine Textilfabrik in Bangladesch. Ein Gang befindet sich zwischen einer Reihe von Tischen mit Nähmaschinen an denen Frauen sitzen und Kleidung herstellen. 
Lieferkettengesetz - Ein Gesetz gegen Auswüchse der Globalisierung
Kritiker sprechen von Neokolonialismus, wenn Unternehmen ihre Gewinne nach den Regeln der Globalisierung maximieren. Denn gleich verteilt ist die Macht zwischen armen Ländern und großen Konzernen nicht. Um Firmen an die Menschenrechte zu binden, plädieren Politiker für ein Lieferkettengesetz.

Capellan: Sie wollen das Lieferkettengesetz für Betriebe ab 500 Beschäftigten vorschreiben. Der Bundeswirtschaftsminister, Peter Altmaier, denkt da an eher eine Größenordnung von 2.000 Beschäftigten. Wenn wir nach Frankreich schauen, da gilt es ab 5.000 Beschäftigten. Ist das eine Kompromisslinie, wo Sie sagen würden, okay, um die etwas kleineren Betriebe doch zu schonen, können wir diese Grenze anheben auf etwa 2.000 Beschäftigte?
Müller: Da werden wir uns einigen. Vielleicht in einem Stufenmodell. Aber wenn jetzt kleine, Mittelständler zuhören, die diese Standards längst umsetzen, dann bitte schreiben Sie mir doch mal, dass ich dem Bundeswirtschaftsminister 100 Unternehmen auf den Tisch lege, kleine, Mittelständler, die sogar kleiner als 500 sind, die das längst umsetzen.
"Ein Dollar für Menschenrechte"
Capellan: Ich hatte schon vor Ausbruch der Pandemie eine Einladung zu einer Pressekonferenz mit Ihnen und dem Bundesarbeitsminister, Hubertus Heil, von der SPD zur Vorstellung des Lieferkettengesetzes. Wurde dann abgesagt, wohl, weil es da noch Klärungsbedarf sprich Streit gab in der Koalition. Wann endlich kommt das Gesetz? Es steht im Koalitionsvertrag, muss man dazusagen. Und es gibt auch einen Parteitagsbeschluss der CDU, dass es ein solches Gesetz geben soll.
Müller: Ja, und es freut mich. Die Kanzlerin hat ja auch gesagt, das Gesetz kommt. Und wir sind jetzt auf dem Weg, in dieser Legislaturperiode das Gesetz zu verabschieden. Und wir werden dies auch mit einer europäischen Initiative abstimmen. Und ich muss auch den Wirtschaftsleuten sagen: Zur Made-in-Germany-Qualität gehören auch die ethischen Ansprüche. Das ist auch eine Frage von Reputation. Das ist auch ein Verkaufsargument.
Wir müssen Wertschöpfung von reich zu arm in der Welt über die Lieferketten umsetzen. Und das heißt eben bei Textil, dass die Näherinnen dann nicht 15, sondern 25 Cent in der Stunde verdienen. Und damit wird die Jeans im Einkauf in Bangladesch einen Dollar teurer. Sie haben richtig gehört: ein Dollar für Menschenrechte, für existenzsichernde Löhne in Bangladesch. Und die Jeans verteuert sich auf sechs Dollar. Dann kann der Handel die immer noch mit 50 oder 100 Euro in Berlin verkaufen. Deshalb verstehe ich nicht, dass zum Beispiel gerade "Textil und Mode", Verbände, hier dagegen opponieren.
Capellan: Herr Müller, zum Schluss möchte ich gern noch auf Ihre Partei, die CSU, zu sprechen kommen, aber auch auf die Koalition. Was die CSU in dieser Koalition und die drei Minister angeht, da steht Horst Seehofer unter Druck. Wieder einmal aktuell auch wegen der Flüchtlingspolitik. Der Verkehrsminister, Andreas Scheuer, gilt als angezählt wegen des Mautdebakels. Sind Sie da der Fels in der Brandung der CSU?
Müller: Ach, ich habe einen klaren Kurs. Ich habe noch viel zu tun. Ich freue mich, dass ich dieses Amt habe, das mich so erfüllt und das mir aber auch diese vielen, vielen Möglichkeiten gibt, für Deutschland als Repräsentant in der Welt viel Gutes zu tun. Das ist auch ein Stück Außenpolitik.
"Gehe davon aus, dass die CDU den Kanzlerkandidaten der Union stellen wird"
Capellan: Und Sie würden unter einem Bundeskanzler Markus Söder auch gerne weitermachen?
Müller: Das wird so nicht eintreten.
Capellan: Warum nicht?
Müller: Ich gehe mal davon aus, dass die CDU den Kanzlerkandidaten der Union stellen wird. Und dann hoffen wir, dass wir auch den Kanzler wieder stellen.
Capellan: Angela Merkel hat ja gezeigt, 2002, da hatte sie sich mit dem damaligen CSU-Vorsitzenden, Edmund Stoiber, darauf verständigt, ihm die Kanzlerkandidatur zu überlassen. Warum sollte das nicht möglich sein, wenn auch die Christdemokraten sehen, mit einem CSU-Mann haben wir die besten Chancen?
Müller: Ja, wenn das die Situation, das Angebot der CDU ist, aber das glaube ich nicht, dann kämpfe ich da natürlich voll mit.
Capellan: Sie glauben nicht, dass Markus Söder Kanzlerkandidat der Union werden könnte? Er sagt immer wieder: Mein Platz ist in Bayern. Dabei wird er bleiben.
Müller: Ja, ich glaube ihm, klar. Er sagt es so mit voller Überzeugung, dass ich ihm einfach glaube. Und wir brauchen ihn auch in Bayern.
"Wir haben große Schnittmengen mit den Grünen"
Capellan: Er hat ja dort auch eine erstaunliche Nähe zu den Grünen entwickelt. Sie selber werden bezeichnet als jemand, der kein strammer Konservativer ist, sondern auch grüne Attitüden hat mit Blick auf die Entwicklungspolitik. Da gibt es viele Berührungspunkte. Würden Sie ein schwarz-grünes Bündnis befürworten?
Müller: Ich bin Christ in der Politik. Und das heißt: Gerechtigkeit. Der Starke hilft dem Schwachen, zu Hause, aber auch zwischen den Völkern. Und wir sind angetreten, die Schöpfung zu erhalten. Und es war ein großer Fehler der FDP, nachts um 24 Uhr aus den Koalitionsverhandlungen vor drei Jahren auszusteigen. Union, FDP und Grün. Wir haben große Schnittmengen mit den Grünen.
Capellan: Abschließende Frage, Herr Müller: Sie sind dann im kommenden Jahr wieder dabei? Sie haben ein überzeugendes Wahlergebnis im Allgäu, in Ihrer Heimat, eingefahren, ein überdurchschnittliches beim letzten Mal. Sie werden wieder antreten?
Müller: Also, jetzt habe ich noch eine Menge vor mir und viel Tatendrang.
Capellan: Also, Sie überlegen noch?
Müller: Diese Entscheidung treffe ich mit meinen Parteifreunden. Und da treffe ich mich demnächst.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.