Peter Musti ist von Konz bei Trier nach Mainz gereist, um vor der Staatskanzlei gegen den Entwurf zum Bundesteilhabegesetz zu protestieren. Der Mann im Elektro-Rollstuhl hofft auf die federführende Rolle von Rheinland-Pfalz bei den Beratungen über den Entwurf. Und auf den Einfluss der SPD-geführten Regierung Dreyer, die bislang in der Behindertenpolitik Avantgarde war.
"Weniger Selbstbestimmung durch Gemeinschaftslösungen bei Alltagshilfe?"
Musti fürchtet, dass ihm die neuen Paragrafen nicht mehr, sondern weniger Selbstbestimmung bringen. Unter anderem, weil er seine Alltagshelfer mit denen teilen muss, mit denen er zusammenwohnt. Der sogenannte "Assistenz-Pool" – ein Horrorszenario für alle, die wegen des knappen behindertengerechten Wohnraums in Gemeinschaften leben oder in eine ziehen wollen.
"Das heißt beispielsweise, ich kann meine Hilfe zum Toilette-Gehen nicht mehr selbst aussuchen, sondern die wird gestellt, weil sie in dem Pool ist. Das ist der qualitativ schwere Unterschied von dem neuen zu dem alten Gesetz. Und ich mit meinen 69 – im September werde ich 70 – sehe mich gezwungen, auf die Straße zu gehen und gegen diese Katastrophe - im Grund genommen - zu demonstrieren."
Bernhard Scholten vom rheinland-pfälzischen Sozialministerium stellt sich der Enttäuschung der Demonstranten. Seiner Kenntnis nach soll es aber gar nicht so schlimm kommen, wie sie befürchten.
"Der Gesetzentwurf im Augenblick sieht vor, dass Menschen, die gemeinsam in Räumlichkeiten leben, das sind die Einrichtungen oder Heime, die ja abgeschafft werden, und die Menschen leben dann weiterhin zusammen, dass die bestimmte Leistungen auch weiter zusammen enthalten, beispielsweise die Nachtwache. Die Sorge der behinderten Menschen, die jetzt nicht in Einrichtungen leben, ist ja, dass sie dann, wenn sie in Nachbarschaften leben, Assistenten gemeinsam in Anspruch nehmen sollten, das sieht aber der Gesetzentwurf schon heute nicht vor."
"Das beruhigt mich nicht, insofern nicht wirklich, weil wir den Gleichheitsansatz eigentlich gern hätten", so Stefan Heym.
Demonstranten fordern individuelle Assistenz für jeden
Der Geschäftsführer der rheinland-pfälzischen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Behinderter ist dagegen, dass sortiert wird in diejenigen, die im Heim gelebt haben und sich einen Alltagshelfer teilen sollen und diejenigen, die allein leben, mit weiterem Anrecht auf eine persönlich zugeordnete Assistenz. Heym selbst ist sehbehindert. Er trägt bei grauem Wetter eine dunkle Sonnenbrille, bewegt sich aber sicher übers holprige Gelände vor der Staatskanzlei.
Vielleicht gilt er nach dem neuen Gesetz als zu wenig eingeschränkt, um die Hilfe finanziert zu bekommen, die er braucht. Das würde bedeuten,
"dass ich - wenn sich mein Augenlicht zum Beispiel verschlechtert und ich neue Wege erkunden muss - normalerweise Mobilitätstraining beantragen würde, aber das nicht mehr bezahlt werden würde. Das heißt, ich gehe Wege ab, gucke, wie kann ich mich orientieren, um selbstbestimmt mobil zu sein. Diese Leistungen sind für mich wichtig, würden aber nach dem neuen Gesetz auch rausfallen."
Partnerschaft darf nicht arm machen
"Liebe macht arm" hat sich Peter Musti als Protestschild um den Hals gehängt.
Seine Partnerin soll nicht für seine Unterstützungsleistungen zur Kasse gebeten werden, steht als Forderung dahinter. Da habe sich beim Entwurf schon was bewegt, verkündet der Abteilungsleiter aus dem Mainzer Sozialministerium den Demonstranten:
"Partnervermögen wird nicht mehr angerechnet, eine ganz wichtige Forderung von Ihnen."
Auch die umstrittenen Einkommensgrenzen erhöhen sich deutlich, wenn das Bundesteilhabegesetz 2020 in Kraft tritt, betont Bernhard Scholten.
Wer 30.000 Euro oder weniger im Jahr verdient, müsse sich an den Leistungen finanziell gar nicht beteiligen.
"Das ist - glaube ich - für bis zu 90 Prozent der Menschen mit Behinderung eine Verbesserung zu heute. Es gibt einige, die relativ viel Geld verdienen, die trotzdem damit noch nicht zufrieden sind, was ich nachvollziehen kann. Also, Ziel muss natürlich sein, dass die Eingliederungshilfe komplett aus dem Fürsorgesystem heraus kommt. Aber das ist ein erster großer Schritt, denke ich."
Praktisch umzusetzen ist die erweiterte Teilhabe von den Kommunen, die dafür vom Bund Milliarden bekommen, aber ansonsten klamm sind.
Kommunaler Flickenteppich
Wie sie die Vorschriften handhaben werden – ein großer Unsicherheitsfaktor für Behinderte. Einen flächendeckenden Gleichstellungsschub erwarten die Betroffenen längst nicht mehr, eher einen Flickenteppich von Ungerechtigkeiten.