"Das ist jetzt quasi die Südseite der Moritzburg, die also hier Ende des 15. Jahrhunderts begonnen wurde zu bauen. Jetzt nähern wir uns hier schon dieser Holztür, da sehen Sie auch diese Kellergewölbe. Das ist ein Raum, der ungefähr 600 Quadratmeter hat und wahrscheinlich acht Meter hoch ist. Und hier wurde dieses ganze Kunst- und Kulturgut hineingelagert. Und wenn man sich das jetzt vorstellt, damals gab es natürlich keine Klimatisierung. Sie haben hier eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit, Sie haben im Winter sehr niedrige Temperaturen. Also ist keine ideale Lagerstätte für Kunst- und Kulturgut."
So Jan Scheunemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt. Heute steht das gemauerte Gewölbe im Westflügel der Moritzburg, wenige Schritte vom Saale-Mühlgraben entfernt, wegen Umbauarbeiten leer. Kurz nach Kriegsende wurden hier Tausende von Gemälden und Möbelstücken sowie Kunsthandwerk eingelagert.
Entschädigungslose Enteignung
Am 3. September 1945 hatte die sowjetische Besatzungsmacht die Bodenreform beschlossen und Großgrundbesitzer entschädigungslos enteignet. Allein in Sachsen-Anhalt, der damaligen Provinz Sachsen, betraf dies mehr als 3.000 Güter, in über 2.000 Fällen gehörten dazu auch Burgen, Schlösser und Herrenhäuser.
"Das betrifft Plünderungen der Besatzungsmacht, das betrifft Plünderungen der einheimischen Bevölkerung, das betrifft die Abgabe von Kunst- und Kulturgut oder Gebrauchsgut an Flüchtlinge und Vertriebene. Und das betrifft natürlich auch – wie wir aus den Akten wissen – den Kunsthandel und den Antiquitätenhandel, der also hier sein Unwesen treibt."
Deshalb ordnete die Landesverwaltung der Provinz Sachsen bereits zehn Tage später, am 13. September 1945 an, Kunst- und Kulturgüter sicherzustellen, so der promovierte Museologe und Historiker - eine Rettungsaktion großen Ausmaßes, waren doch die meisten Gutsbesitzer vertrieben oder ausgewiesen worden.
"Und Kunst- und Kulturgut heißt eigentlich alles: Das sind Geschirre, das sind Bestecke, das sind Möbel, das sind Gemälde, das sind aber auch Geweihe beispielsweise oder Waffen. Also das ganze Spektrum ist davon betroffen. Und diese angeordnete Sicherstellung betrifft erstmal nur eine Konzentration dieser Kunst- und Kultgüter in den enteigneten Gütern. Das heißt, man nimmt einen Raum, da wird das alles reingestellt, da wird abgeschlossen und versiegelt. Einfach, um erstmal die Sachen vor einem Zugriff zu bewahren. Und im Laufe des Spätherbst oder Winter 45/46 beginnen tatsächlich auch Bergungsaktionen."
Dass in der DDR-Zeit Kunstwerke und Kulturgut von staatlicher Seite entzogen wurden, ist nicht neu. Seit dem Fall der Mauer beschäftigen die Anträge auf Rückgabe staatliche Behörden und nicht zuletzt die Museen, in denen die Objekte ausgestellt oder gelagert sind.
Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung
Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung hat allerdings erst in den letzten Jahren begonnen. Im Auftrag der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt untersucht Jan Scheunemann mit Hilfe der in diesem Bundesland gut erhaltenen Akten, was zu welcher Zeit und von welchen Gütern in das Hauptlager in der Moritzburg verbracht wurde – und was damit geschah, nachdem es ab 1950 in sogenannten Ortslisten erfasst worden war.
"Bei diesen Ortlisten für das Kunsthandwerk haben wir ungefähr 4.000 Stück, die hier in diesen beiden Aktenordnern erfasst sind. Und da heißt es hier zum Beispiel: ein Frühstücksteller, Rosenthal, 20. Jahrhundert, Durchmesser 20 Zentimeter, und dann kommt eben noch eine Beschreibung: gelblicher Teller mit leicht geschwungenem Rand, grünblauer Rand, viermal geflammt, in sich gemustert. Jetzt wissen wir natürlich, dass dieses Stück einmal im Tiefkeller der Moritzburg gelegen hat. Und die Frage, die wir jetzt stellen, ist es also tatsächlich in den Bestand der Moritzburg gekommen? Ist es noch da? Wurde es möglicherweise abgesetzt? Ist es verkauft worden, ist es getauscht worden?"
Derzeit kooperieren mehrere Forschungsprojekte mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg, das seit 2015 schon an einer Datenbank zu geraubten Kunstwerken und Kulturgütern der NS-Zeit arbeitet.
Das Zentrum soll nun ein Konzept für grundlegende Forschungen zur DDR-Zeit entwickeln, berichtet Prof. Gilbert Lupfer vom wissenschaftlichen Vorstand.
"Es geht um die Rolle von Institutionen, die eine überregionale Bedeutung hatten und die als Sammel- und Transferstelle fungierten, also wie das Deutsche Historische Museum beziehungsweise seine Vorgängerinstitution oder die Moritzburg in Halle. Und schließlich geht es, wie wir es mit den Museumsverbänden machen, um Modellstudien, zu sehen, wie hat es in einem gewissen Mikrokosmos funktioniert, in einem gewissen regionalen Bezug der Entzug und die Verteilung von Kulturgütern? Und daraus Erkenntnisse zu gewinnen möglicherweise, die man dann auf andere Regionen übertragen kann."
Eigentum von "Republikflüchtigen" veräußert
In Brandenburg ist Dr. Alexander Sachse in vier Museen der Herkunft von Objekten sogenannter kritischer Provenienz auf den Grund gegangen: im Museum Viadrina in Frankfurt/Oder sowie in den städtischen Museen Neuruppin, Eberswalde und Strausberg.
"Es war völlig überraschend für uns, wieviele Objekte das gewesen sind. In den vier untersuchten Museen wurden über 3.000 Objekte gefunden, die eine kritische Provenienz haben nach unserer Definition. Das heißt, Sachen, die in die Museumssammlung gekommen sind, ohne dass es eine selbstbestimmte Übergabe vom Eigentümer gegeben hat."
Der Historiker, der beim Museumsverband des Landes Brandenburg arbeitet, hat in den vier Häusern nur wenig enteignetes Kulturgut aus der Zeit der Bodenreform gefunden. Eine viel größere Rolle spiele hier das Thema Republikflucht, wie es zur DDR-Zeit hieß.
1958 etwa floh der Besitzer der Löwenapotheke in Eberswalde mit seiner Tochter in die Bundesrepublik. In einem Brief forderte er den Bürgermeister dazu auf, sein zurückgelassenes Eigentum zu respektieren. Nur wenige Tage später aber wurde seine Wohnung von Volkspolizisten und Vertretern des Rates der Stadt, Abteilung Finanzen und staatliches Eigentum, aufgeschlossen oder aufgebrochen und eine Inventarliste erstellt.
"Es wird gleich hingeschrieben, was passiert mit den Objekten. Einige verbleiben im Haus, weil sie fest verbaut sind. Andere werden offensichtlich sofort geschätzt und dann verauktioniert dort vor Ort an die Bevölkerung ringsrum. Und bei einigen Sachen steht hier zum Beispiel: Im Treppenflur befindet sich eine Vitrine mit Altertümern – in Klammern - Steine et ceter steht in der Liste, dann eine Stutzuhr, zwei Leuchter, lange Pfeifen, ein Bild, ein ausgestopfter Bussard und so weiter. Und das kommt alles ins Heimatmuseum."
Fast 900 Objekte, die ursprünglich DDR-Flüchtlingen gehörten, fand Alexander Sachse in den Museen, darunter ganze Bibliotheken und Buchsammlungen. Für sie war damals die jeweilige Finanzabteilung zuständig. Der Staat habe die treuhänderische Verwaltung des zurückgelassenen Vermögens übernommen, sagt der Historiker – und dieses gemäß Anordnung Nr. 2 von 1958, die bis kurz nach dem Mauerfall galt, teilweise verkauft.
"Die Eigentumsverhältnisse werden nicht verändert. Und weiter heißt es: Durch die Anordnung Nr. 2 soll erreicht werden: Jede mittelbare und unmittelbare Einwirkung der Republikflüchtigen auf die zurückgelassenen Vermögenswerte – die sollen nicht mehr darauf zugreifen können – und die Sicherstellung, dass alle Erträgnisse und Erlöse aus dem zurückgelassenen Vermögen dem Staatshaushalt zugeführt werden. Und planmäßige Einbeziehung dieser Vermögenswerte – ohne Enteignung der republikflüchtigen Personen - in den sozialistischen Aufbau."
Das Eigentum des Apothekers aus Eberswalde befindet sich heute noch im Museum. Die Rückgabe haben weder er noch seine Tochter beantragt. Das wäre nach dem Entschädigungs- und Latenausgleichsgesetz nur bis Mai 1995 möglich gewesen. Alexander Sachse:
"Aber dieses Gesetz hat vor allem den Fokus auf die Sachen gelegt, die kurz nach dem Krieg, also in der SBZ-Zeit entzogen worden sind, im Zuge der Bodenreform zum Beispiel. Also die Mobilien. Da wurden auch viele Anträge gestellt, und da wurde auch einiges restituiert. Bei den Republikflüchtlingen ist es ganz oft so, dass die gar nicht wissen, dass ihre Sachen im Museum gelandet sind. Also in den Museen, die ich untersucht habe, habe ich das festgestellt, dass es so gut wie keine Anträge gegeben hat, um die Sachen zu restituieren – ich gehe davon aus, dass die überhaupt nicht wissen, dass die Sachen im Museum gelandet sind."
Mehrfacher Besitzwechsel
Enteignete oder eingezogene Kunstwerke und Kulturgüter wechselten teilweise mehrfach den Besitzer, wie das Beispiel "Museum für Deutsche Geschichte" zeigt, das 1952 in Ost-Berlin gegründet wurde. Es war der Vorläufer des heutigen Deutschen Historischen Museums.
Dort ist Dr. Brigitte Reineke Provenienzforscherin und untersucht in einem neuen Forschungsprojekt, über welche Netzwerke und Akteure das Museum an neue Exponate gelangte. Sie geht davon aus, dass viele davon aus regionalen Museen kamen – und teilweise aus den Schlossbergungen und dem Besitz der Republikflüchtigen stammen könnten. Mehr als 50.000 Objekte seien mit dem Begriff "Übergabe" ins Inventarbuch eingetragen worden.
"Die wurden dann eben dorthin überwiesen, ohne dass man davon ausgehen kann, dass die kleinen Museen das so toll fanden. Man hat dann auch mit neuen Strukturen des Staates gearbeitet, sprich mit dem Finanzministerium, mit der Partei, die viele Sachen übergeben hat. Eine total interessante Quelle von Objekten: der Zoll, andere Museen, Kreise, Räte der Städte und so weiter. Also es ist eine vielfältige Struktur, die man da erkennen kann."
Staatssicherheit öffnete Schließfächer und Tresore
Auch die DDR-Staatssicherheit hatte beim Zugriff auf privates Eigentum ihre Finger im Spiel, wie Forschungen am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden zeigen. Im Januar 1962 öffnete das MfS bei der "Aktion Licht" mehrere Tausend Schließfächer und Tresore von Banken in der gesamten DDR – eine Aktion, die unter strenger Geheimhaltung zeitgleich in allen 217 DDR-Bezirken stattfand, erzählt der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Thomas Widera.
"Es ging darum, dass die DDR-Behörden jetzt erstmals nach dem Mauerbau 1961 die Möglichkeit hatten, auf Banktresore zuzugreifen. Es galt das Bankgeheimnis, aber man wusste natürlich, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Banktresore oder Schließfächer von Personen nicht mehr bedient worden waren. Man wollte zum einen Zugriff darauf haben, weil man davon ausging, das sind republikflüchtige Personen. Man ging auch davon aus, dass ehemalige Nationalsozialisten nicht in das Territorium der DDR zurückgekehrt sind."
Intern begründete das MfS die Aktion damit, dass der Besitz von Staatsfeinden als Volkseigentum sichergestellt werden sollte. Eines der wenigen erhaltenen Dokumente, ein einhundertseitiges Protokoll, listet rund 1.000 Positionen auf, die in den Schließfächern gefunden wurden: Kuchengabeln und Geschirrteile, aber auch einzelne wertvolle Schmuckstücke, Gemälde und Radierungen, Briefmarkensammlungen und Porzellan.
Der Wert sei auf 3,6 bis 4,1 Millionen Mark geschätzt worden, erzählt der Historiker. Der Plan, durch einen Verkauf Devisen zu erwirtschaften, zerschlug sich zwar, sei aber letzten Endes doch nachrangig gewesen.
"Das MfS beabsichtigte, eine erweiterte Kontrolle über den Finanzsektor zu erlangen, zum zweiten sollten Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus gefunden werden. Und man wollte natürlich auch das Eigentum von Republikflüchtigen."
Von Kunstraub will Thomas Widera nicht sprechen. Dieser Begriff werde eindeutig für die NS-Zeit verwendet und sei nicht ohne weiteres auf den DDR-Kontext übertragbar.
Von Kunstraub nur im NS-Kontext sprechen
"Insofern ist es aus der Sicht des Historikers angemessener, zumindest exakter auch (…) die Aktion Licht als Entzug von Eigentum auf dem Verordnungsweg durch Behörden und Institionen der DDR zu bezeichnen. Denn das MfS hat sich ja auch auf eine rechtliche Grundlage berufen, das ist die Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen und die Enteignung. Man ist hier von einem Selbstverständnis ausgegangen, dass die Feinde des Sozialismus auch jedes Recht an ihrem Eigentum verwirkt haben."
Nach dem Mauerbau hat sich der Umgang mit dem staatlich entzogenen Kulturgut verändert, stellen die Experten fest. Wer offiziell aus der DDR ausreiste, musste von der Kulturverwaltung begutachten und genehmigen lassen, was er mitnehmen wollte. Wichtiges Kulturgut – wie zum Beispiel eine Liebermann-Zeichnung - durfte die DDR nicht verlassen.
War es vor dem Mauerbau darum gegangen, Kunst und Kulturgut zu retten und auszustellen, standen nun pragmatische Aspekte und die finanzielle Verwertbarkeit im Vordergrund.
Nach dem Mauerbau stand die Verwertung im Vordergrund
Jan Scheunemann: "Der Mauerbau am 13. August 1961 ist so der Schnittpunkt, wo man sagt, jetzt besteht nicht die Gefahr, dass jemand nochmal kommt und das zurückhaben will. Und dann beginnt tatsächlich diese großen Absetzungsaktionen. Das ist eine Sache, die ich in dem Forschungsprojekt beleuchte: Dahinten sind ja ausgebreitet diese Absetzungs- und Vernichtungsprotokolle. Die bisher auch noch nicht untersucht wurden, gerade die Verkäufe in den Westen gegen Devisen. Das ist ein Aspekt, der das Thema sehr interessant macht, weil es dadurch ein deutsch-deutsches Thema wird."
Absetzung, das zeigen alte Unterlagen, konnte vielerlei bedeuten: die Abgabe von 122 Möbelstücken ins Museum nach Zeitz oder der Verkauf von 17 Gemälden an den Volkseigenen Handelsbetrieb Moderne Kunst, Abteilung Antiquitäten in Ost-Berlin. Kunstwerke und Kulturgüter wurden aber auch getauscht oder - weil es in der Moritzburg nicht genug Platz gab, die alten Ahnengemälde schlecht erhalten und politisch ungewollt waren - sogar vernichtet, wie Protokolle belegen.
1992 wurden Hunderte dieser Gemälde bei Dacharbeiten im sogenannten Talamt der Moritzburg wieder entdeckt, auch wenn sie auf den ersten Blick kaum noch zu erkennen waren, berichtet Albrecht Pohlmann, Leiter der Restaurierungswerkstatt.
"Und da haben wir uns das angeguckt und festgestellt, dass große Mengen von Leinwänden aus den Keilrahmen rausgeschnitten waren, in Stapeln oder Rollen unter den Dachschrägen lagen, zum Teil auch direkt unter das Dach gepinnt waren quasi so als Nässeschutz (…) in einem ganz schlechtem Zustand natürlich, weil das Dach undicht war, jede Menge Feuchtigkeit, Dreck, Taubendreck und so weiter – also in einem erbärmlichen Zustand diese Gemälde, zum Teil überhaupt nicht mehr zu erkennen, welche Darstellungen darauf waren."