Osteuropa ist ein integraler Bestandteil des gesamten Kontinents, und dennoch wissen wir im Westen kaum etwas darüber – dieser innere Widerspruch ist es, der den Klagenfurter Verleger Lojze Wieser antreibt. Vor gut fünfzehn Jahren gründete er den Wieser Verlag, in dem jetzt ein erster Band der auf zwanzig Bände angelegten "Wiesers Enzyklopädie des europäischen Ostens" – kurz WEEO – erschienen ist. Es handelt sich um das Herz- und Scharnierstück dieses kulturpolitischen Mammutprojekts, den Band 10, das "Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens".
Wiesers Ziel, für einen Kleinverleger mit anderthalb Mitarbeitern durchaus vermessen, aber in seiner Konsequenz und Zielstrebigkeit auch faszinierend und Respekt einflößend: Einen Beitrag zur Vereinigung Europas zu leisten, einer Vereinigung, die seiner Überzeugung nach im Westen wie im Osten nur dann gelingen kann, wenn sich alle Europäer in diesem Europa zu Hause fühlen können, wenn also die Kulturen und die Sprachen der vielen Minderheiten geachtet werden und nicht den im 18. und 19. Jahrhundert künstlich geschaffenen, wie er sagt, "bereinigten" Nationen und Nationalismen geopfert werden.
Da im Westen ein Konstrukt von Osteuropa vorherrscht, dass von der Vorstellung des "Anderen", des "Fremden" und manchmal auch "Unheimlichen", vor allem aber von Unwissen geprägt ist, setzt er an zu einem Marathonlauf, hier Abhilfe zu schaffen. Der Startblock steht im Zentrum Europas, dort, wo West und Ost aufeinandertreffen, wo der achtundvierzigjährigen Verleger geboren wurde. Wieser:
Ich hatte das Glück, in der slowenischen Sprache aufzuwachsen, in Kärnten, in einem Dorf, in dem bis zu meinem sechsten Lebensjahr ausschließlich Slowenisch gesprochen wurde und ich habe in der Volksschule dann Deutsch gelernt . Aber ich habe erfahren, dass der Tisch, ein und derselbe Tisch, er heißt "Miza" und er heißt Tisch. Also habe ich gewollt oder ungewollt mitbekommen, es gibt nicht eine Wahrheit, es gibt zumindest zwei Wahrheiten. Und die Tatsache, dass wir im Grunde genommen nichts gewusst haben voneinander, hat mich schon immer sehr geplagt. Als damals der Krieg in Ex-Jugoslawien ausgebrochen ist, wurde uns das noch schmerzhafter bekannt, dass nur über den Krieg und über die Brutalität gesprochen wurde, nicht aber über die schönen Töne in der Poesie und in der Literatur, die diese Menschen mit sich tragen.
Die Idee zu Wieses Enzyklopädie stand damals noch in den Sternen, aber immerhin hatten und haben Autoren aus dem südosteuropäischen Raum einen beachtlichen Stellenwert im Programm des Verlags. Die ethnischen Konflikte, die Eruptionen eines bis dahin so nicht virulenten Nationalismus, der Krieg und die dramatischen Folgen für die Menschen haben Wieser dann veranlasst, verschiedene Initiativen zu ergreifen:
Und das war der Grund, warum ich dann 1993 Verleger aus Süd-Ost-Europa eingeladen habe zu kommen und darüber nachzudenken, was wir gemeinsam als Menschen der Kultur und des Buches tun könnten. Wir haben dann zwei Sachen beschlossen: Wir haben eine bosnische Bibliothek beschlossen, in der dann in weiterer Folge sechzehn Bücher für die zur Flucht gezwungenen Menschen produziert wurden und an die auch verteilt wurden. Und wir haben beschlossen, zumindest einmal etwas zu beginnen. Wir wollen nicht klagen, dass wir nichts wissen, wir müssen es selber überwinden helfen und beginnen wir doch zusammenzutragen ein Lexikon von Autorinnen und Autoren.
Eine bosnische Bibliothek, Bücher, die an Vertriebene verschenkt werden. Man fühlt sich an Walter Mehrings "Emigrantenchoral" aus dem Jahr 1933 erinnert: "Die ganze Heimat und das bisschen Vaterland", heißt es da, "das trägt der Emigrant, von Mensch zu Mensch, von Ort zu Ort, an seinen Sohlen, in seinem Sacktuch mit sich fort." Nun also auch ein Buch in der Muttersprache mit im Sacktuch. Die Muttersprache, so zitiert die Einleitung des Sprachenlexikons einen Schriftsteller aus Bosnien, ist oft "das einzige Ruhebett" für jene, die quer durch Europa unterwegs sind. Eine ebenfalls geplante Edition "Hotel Europa" kam nicht zustande, weil der Verlag durch ein Briefbombenattentat aus der Bahn geworfen wurde, aber immerhin über 50 Lesungen unter dem Motto "Ein Abend im Hotel Europa", in allen Sprachen der Flüchtlinge, in über 50 Flüchtlingslagern von Aachen bis Sarajewo hat Wieser organisiert und durchgeführt. Während einer der Lesungen geschah dann ein kleines Wunder, alle Zuhörer schauten wie gebannt auf eine in sich versunken da stehende Frau. Später erklärten ihm die Leute, was geschehen war:
Wir haben in diesem Raum bei uns eine Frau gesehen, die seit vier Monaten, seit sie hier ist, ihr Zimmer nicht verlassen hat. Und deine Lesung in ihrer Sprache übers Mikrophon übertragen hat sie erstmals aus ihrem Zimmer herausgeholt. Das heißt, das hat ihr Heimat gegeben, das hat ihr die Zuversicht gegeben, ich werde geachtet, ich werde doch auch wahrgenommen, obwohl ich entwurzelt, obwohl ich weit weg bin, obwohl ich alles verloren habe, aber ich habe auch hier meine Sprache gehört und ich habe hier meine Melodie gehört. Und das ist auch der Grund, der mich noch mehr bestärkt hat, so ein Projekt zu forcieren und hinter so einem Projekt auch einigermaßen stur für die nächsten Jahre zu stehen.
Aus dem Plan, ein Lexikon osteuropäischer Autoren zu erstellen, wucherte die Idee zu der Enzyklopädie des europäischen Ostens, zur WEEO. Die Universitäten aus Graz und Klagenfurt begeisterten sich dafür, Wissenschaftler aus ganz Europa konnten gewonnen werden, auf mehreren wissenschaftlichen Tagungen nahm sie Gestalt an, wurde ein Gerüst erstellt, wurden Zeitpläne entwickelt. Drei Abteilungen soll die WEEO einmal umfassen: Ein klassischer lexikalischer Teil, nach etwa 50.000 Stichworten geordnet, umfasst die Bände 1 – 9 und wird dann mit dem jetzt vorliegenden Sprachenlexikon abgeschlossen. Darauf folgt eine sechsbändige thematische Abteilung, in der Titel wie "Europa und die Grenzen im Kopf" von der Antike bis in die Gegenwart oder "Der geographische Rahmen Europas" geplant sind. Abgeschlossen wird die Edition von drei Dokumentenbänden, ergänzt wird sie außer der Reihe um eine "Handbibliothek der WEEO", in der kaum noch zugängliche historische Monographien nachgedruckt werden.
Auf den ersten Blick macht einen dieses Projekt bange: Wie viele Bände werden wohl erscheinen, wann bricht die Finanzierung zusammen, wie lange hält ein so kleiner Verlag das durch? Doch der irgendwie gemächlich und stabil in sich ruhend wirkende Wieser nimmt solchen Bedenken den Wind aus den Segeln. Die Planung ist generalstabsmäßig – alle halbe Jahre wird jetzt ein Band erscheinen. Die Finanzierung ist sogar über österreichische politische Wandlungen hinweg stabil: Es engagieren sich staatliche Institutionen und – nicht nur österreichische – Parteien, aber auch Sponsoren aus der Wirtschaft, vor allem Banken und Versicherungen, die im Osten das große Geschäfte wittern.
Mit dem ersten vorliegenden Band wirbt der Verlag außerdem für Subskriptionen, besonders günstig bei Vorauskasse für das ganze Projekt, um so flüssige Mittel zu erlangen. 700 Subskribenten gibt es schon, 1500 sollen es werden, Privatpersonen, Bibliotheken, Institute. Die Auflage je band soll bei 3000 liegen. Das Projekt, so Wieser, steht einfach auf der Tagesordnung, entwickelt eine gewissen Zwangsläufigkeit, die durch jeden ethnischen Konflikt, durch jeden Bürgerkrieg, durch jede Fluchtbewegung unterstrichen wird:
Diese Menschen wollen doch in erster Linie auf ihre Wurzeln aufmerksam machen, weil Sprache bedeutet auch immer Rückgrat. Und wenn man diesen Menschen das Rückgrat nehmen will oder diesem Rückgrat nicht genügend Gehör schenkt, dann kommt es zu Verhärtungen, dann kommt es zu Chauvinismen und Überhöhungen all dieser Mythen und Legenden. Wir müssen nicht immer auf Serbien oder auf Russland oder auf Osteuropa schauen um zu sagen, hier wird ein Mythos überhöht. Mittlerweile erleben wir tagtäglich in Westeuropa diese Überhöhung dieser Mythen mit. Das heißt, wir müssen eigentlich neu denken, wie geht man mit der Vielzahl der Kulturen im europäischen Gesamtraum um, die sich aber nur in 48 Staaten organisiert haben, wie schenken wir Menschen Achtung, ohne ihnen eine Lingua Franca aufzuzwingen und ihnen gleichzeitig eine Lingua Franca als Kommunikationsmöglichkeit zu schenken.
Einem solchen neuen Denken will der Verleger Grundlagen und Futter liefern. Doch nimmt man den Ausgangspunkt des Projekts ernst, kann man von dieser Enzyklopädie keine abgeschlossenen Wahrheiten erwarten. Die Artikel sollen also den Raum für Fragen öffnen, diskursiv und auch kontrovers sein, sie sollen Erkenntnisse liefern und Debatten anstoßen. Mal abgesehen davon, das Wieser über die zwanzig Bände der WEEO hinaus als Brücke zum Westen schon ein Lexikon der Sprachen Westeuropas projektiert hat, legt das Lexikon der osteuropäischen Sprachen von einer solchen Lebendigkeit beindruckend Zeugnis ab. Auf knapp 1000 Seiten werden über 100 Sprachen vorgestellt. Es sind Sprachen dabei, die kaum noch gesprochen werden, über die seit Jahrzehnten nicht mehr geforscht wird. Sie werden einerseits linguistisch dargestellt und in ihre "Familien" eingeordnet, in die Albanischen, Romanuschen, Slwawischen, in die Baltischen, Finnourgischen oder auch Turksprachen.
Doch belässt es das Lexikon nicht bei einer linguistischen Darstellung. Sie Sprachen werden auch im historischen Kontext der Ethnien dargestellt, denen sie Heimat und Identität verliehen und verleihen. So lesen sich die Einträge in ihrer Summe auch wie eine kleine Geschichte von Völkerwanderungen, Kriegen und Vertreibungen, von Eroberungen und Untergang. Wer sich dagegen einem Europa jenseits nationaler Grenzen, einem Europa der Regionen und der fließenden Übergänge, in literarischen Texten nähern will, wird bei Wiesers anderem Flagschiff fündig, bei der mittlerweile auf 65 Bände angewachsenen Reihe "Europa erlesen". Von Amsterdam bis Zürich, von Athos bis Zagreb, von Barcelona bis Wien werden hier Regionen in literarischen Zeugnissen ganz unterschiedlicher Herkunft vorgestellt.
Ich denke, das verzahnt sich sehr gut, denn Sie haben in "Europa erlesen" die literarischen Beispiele, sie können durch das Eintauchen in die Literatur den Ort erlesen, ergehen, erriechen, eressen und Sie bekommen eine plastische Vorstellung von der Gegend, auch wenn Sie nicht dort waren. Und in der Enzyklopädie haben Sie dann die Möglichkeit, dieses Wissen zu vertiefen und es in einer Art und Weise aufzubereiten, wo Sie dann für sich und die anderen Menschen das Gefühl bekommen, hier etwas Zusätzliches, Neues erfahren zu haben.
Wiesers Ziel, für einen Kleinverleger mit anderthalb Mitarbeitern durchaus vermessen, aber in seiner Konsequenz und Zielstrebigkeit auch faszinierend und Respekt einflößend: Einen Beitrag zur Vereinigung Europas zu leisten, einer Vereinigung, die seiner Überzeugung nach im Westen wie im Osten nur dann gelingen kann, wenn sich alle Europäer in diesem Europa zu Hause fühlen können, wenn also die Kulturen und die Sprachen der vielen Minderheiten geachtet werden und nicht den im 18. und 19. Jahrhundert künstlich geschaffenen, wie er sagt, "bereinigten" Nationen und Nationalismen geopfert werden.
Da im Westen ein Konstrukt von Osteuropa vorherrscht, dass von der Vorstellung des "Anderen", des "Fremden" und manchmal auch "Unheimlichen", vor allem aber von Unwissen geprägt ist, setzt er an zu einem Marathonlauf, hier Abhilfe zu schaffen. Der Startblock steht im Zentrum Europas, dort, wo West und Ost aufeinandertreffen, wo der achtundvierzigjährigen Verleger geboren wurde. Wieser:
Ich hatte das Glück, in der slowenischen Sprache aufzuwachsen, in Kärnten, in einem Dorf, in dem bis zu meinem sechsten Lebensjahr ausschließlich Slowenisch gesprochen wurde und ich habe in der Volksschule dann Deutsch gelernt . Aber ich habe erfahren, dass der Tisch, ein und derselbe Tisch, er heißt "Miza" und er heißt Tisch. Also habe ich gewollt oder ungewollt mitbekommen, es gibt nicht eine Wahrheit, es gibt zumindest zwei Wahrheiten. Und die Tatsache, dass wir im Grunde genommen nichts gewusst haben voneinander, hat mich schon immer sehr geplagt. Als damals der Krieg in Ex-Jugoslawien ausgebrochen ist, wurde uns das noch schmerzhafter bekannt, dass nur über den Krieg und über die Brutalität gesprochen wurde, nicht aber über die schönen Töne in der Poesie und in der Literatur, die diese Menschen mit sich tragen.
Die Idee zu Wieses Enzyklopädie stand damals noch in den Sternen, aber immerhin hatten und haben Autoren aus dem südosteuropäischen Raum einen beachtlichen Stellenwert im Programm des Verlags. Die ethnischen Konflikte, die Eruptionen eines bis dahin so nicht virulenten Nationalismus, der Krieg und die dramatischen Folgen für die Menschen haben Wieser dann veranlasst, verschiedene Initiativen zu ergreifen:
Und das war der Grund, warum ich dann 1993 Verleger aus Süd-Ost-Europa eingeladen habe zu kommen und darüber nachzudenken, was wir gemeinsam als Menschen der Kultur und des Buches tun könnten. Wir haben dann zwei Sachen beschlossen: Wir haben eine bosnische Bibliothek beschlossen, in der dann in weiterer Folge sechzehn Bücher für die zur Flucht gezwungenen Menschen produziert wurden und an die auch verteilt wurden. Und wir haben beschlossen, zumindest einmal etwas zu beginnen. Wir wollen nicht klagen, dass wir nichts wissen, wir müssen es selber überwinden helfen und beginnen wir doch zusammenzutragen ein Lexikon von Autorinnen und Autoren.
Eine bosnische Bibliothek, Bücher, die an Vertriebene verschenkt werden. Man fühlt sich an Walter Mehrings "Emigrantenchoral" aus dem Jahr 1933 erinnert: "Die ganze Heimat und das bisschen Vaterland", heißt es da, "das trägt der Emigrant, von Mensch zu Mensch, von Ort zu Ort, an seinen Sohlen, in seinem Sacktuch mit sich fort." Nun also auch ein Buch in der Muttersprache mit im Sacktuch. Die Muttersprache, so zitiert die Einleitung des Sprachenlexikons einen Schriftsteller aus Bosnien, ist oft "das einzige Ruhebett" für jene, die quer durch Europa unterwegs sind. Eine ebenfalls geplante Edition "Hotel Europa" kam nicht zustande, weil der Verlag durch ein Briefbombenattentat aus der Bahn geworfen wurde, aber immerhin über 50 Lesungen unter dem Motto "Ein Abend im Hotel Europa", in allen Sprachen der Flüchtlinge, in über 50 Flüchtlingslagern von Aachen bis Sarajewo hat Wieser organisiert und durchgeführt. Während einer der Lesungen geschah dann ein kleines Wunder, alle Zuhörer schauten wie gebannt auf eine in sich versunken da stehende Frau. Später erklärten ihm die Leute, was geschehen war:
Wir haben in diesem Raum bei uns eine Frau gesehen, die seit vier Monaten, seit sie hier ist, ihr Zimmer nicht verlassen hat. Und deine Lesung in ihrer Sprache übers Mikrophon übertragen hat sie erstmals aus ihrem Zimmer herausgeholt. Das heißt, das hat ihr Heimat gegeben, das hat ihr die Zuversicht gegeben, ich werde geachtet, ich werde doch auch wahrgenommen, obwohl ich entwurzelt, obwohl ich weit weg bin, obwohl ich alles verloren habe, aber ich habe auch hier meine Sprache gehört und ich habe hier meine Melodie gehört. Und das ist auch der Grund, der mich noch mehr bestärkt hat, so ein Projekt zu forcieren und hinter so einem Projekt auch einigermaßen stur für die nächsten Jahre zu stehen.
Aus dem Plan, ein Lexikon osteuropäischer Autoren zu erstellen, wucherte die Idee zu der Enzyklopädie des europäischen Ostens, zur WEEO. Die Universitäten aus Graz und Klagenfurt begeisterten sich dafür, Wissenschaftler aus ganz Europa konnten gewonnen werden, auf mehreren wissenschaftlichen Tagungen nahm sie Gestalt an, wurde ein Gerüst erstellt, wurden Zeitpläne entwickelt. Drei Abteilungen soll die WEEO einmal umfassen: Ein klassischer lexikalischer Teil, nach etwa 50.000 Stichworten geordnet, umfasst die Bände 1 – 9 und wird dann mit dem jetzt vorliegenden Sprachenlexikon abgeschlossen. Darauf folgt eine sechsbändige thematische Abteilung, in der Titel wie "Europa und die Grenzen im Kopf" von der Antike bis in die Gegenwart oder "Der geographische Rahmen Europas" geplant sind. Abgeschlossen wird die Edition von drei Dokumentenbänden, ergänzt wird sie außer der Reihe um eine "Handbibliothek der WEEO", in der kaum noch zugängliche historische Monographien nachgedruckt werden.
Auf den ersten Blick macht einen dieses Projekt bange: Wie viele Bände werden wohl erscheinen, wann bricht die Finanzierung zusammen, wie lange hält ein so kleiner Verlag das durch? Doch der irgendwie gemächlich und stabil in sich ruhend wirkende Wieser nimmt solchen Bedenken den Wind aus den Segeln. Die Planung ist generalstabsmäßig – alle halbe Jahre wird jetzt ein Band erscheinen. Die Finanzierung ist sogar über österreichische politische Wandlungen hinweg stabil: Es engagieren sich staatliche Institutionen und – nicht nur österreichische – Parteien, aber auch Sponsoren aus der Wirtschaft, vor allem Banken und Versicherungen, die im Osten das große Geschäfte wittern.
Mit dem ersten vorliegenden Band wirbt der Verlag außerdem für Subskriptionen, besonders günstig bei Vorauskasse für das ganze Projekt, um so flüssige Mittel zu erlangen. 700 Subskribenten gibt es schon, 1500 sollen es werden, Privatpersonen, Bibliotheken, Institute. Die Auflage je band soll bei 3000 liegen. Das Projekt, so Wieser, steht einfach auf der Tagesordnung, entwickelt eine gewissen Zwangsläufigkeit, die durch jeden ethnischen Konflikt, durch jeden Bürgerkrieg, durch jede Fluchtbewegung unterstrichen wird:
Diese Menschen wollen doch in erster Linie auf ihre Wurzeln aufmerksam machen, weil Sprache bedeutet auch immer Rückgrat. Und wenn man diesen Menschen das Rückgrat nehmen will oder diesem Rückgrat nicht genügend Gehör schenkt, dann kommt es zu Verhärtungen, dann kommt es zu Chauvinismen und Überhöhungen all dieser Mythen und Legenden. Wir müssen nicht immer auf Serbien oder auf Russland oder auf Osteuropa schauen um zu sagen, hier wird ein Mythos überhöht. Mittlerweile erleben wir tagtäglich in Westeuropa diese Überhöhung dieser Mythen mit. Das heißt, wir müssen eigentlich neu denken, wie geht man mit der Vielzahl der Kulturen im europäischen Gesamtraum um, die sich aber nur in 48 Staaten organisiert haben, wie schenken wir Menschen Achtung, ohne ihnen eine Lingua Franca aufzuzwingen und ihnen gleichzeitig eine Lingua Franca als Kommunikationsmöglichkeit zu schenken.
Einem solchen neuen Denken will der Verleger Grundlagen und Futter liefern. Doch nimmt man den Ausgangspunkt des Projekts ernst, kann man von dieser Enzyklopädie keine abgeschlossenen Wahrheiten erwarten. Die Artikel sollen also den Raum für Fragen öffnen, diskursiv und auch kontrovers sein, sie sollen Erkenntnisse liefern und Debatten anstoßen. Mal abgesehen davon, das Wieser über die zwanzig Bände der WEEO hinaus als Brücke zum Westen schon ein Lexikon der Sprachen Westeuropas projektiert hat, legt das Lexikon der osteuropäischen Sprachen von einer solchen Lebendigkeit beindruckend Zeugnis ab. Auf knapp 1000 Seiten werden über 100 Sprachen vorgestellt. Es sind Sprachen dabei, die kaum noch gesprochen werden, über die seit Jahrzehnten nicht mehr geforscht wird. Sie werden einerseits linguistisch dargestellt und in ihre "Familien" eingeordnet, in die Albanischen, Romanuschen, Slwawischen, in die Baltischen, Finnourgischen oder auch Turksprachen.
Doch belässt es das Lexikon nicht bei einer linguistischen Darstellung. Sie Sprachen werden auch im historischen Kontext der Ethnien dargestellt, denen sie Heimat und Identität verliehen und verleihen. So lesen sich die Einträge in ihrer Summe auch wie eine kleine Geschichte von Völkerwanderungen, Kriegen und Vertreibungen, von Eroberungen und Untergang. Wer sich dagegen einem Europa jenseits nationaler Grenzen, einem Europa der Regionen und der fließenden Übergänge, in literarischen Texten nähern will, wird bei Wiesers anderem Flagschiff fündig, bei der mittlerweile auf 65 Bände angewachsenen Reihe "Europa erlesen". Von Amsterdam bis Zürich, von Athos bis Zagreb, von Barcelona bis Wien werden hier Regionen in literarischen Zeugnissen ganz unterschiedlicher Herkunft vorgestellt.
Ich denke, das verzahnt sich sehr gut, denn Sie haben in "Europa erlesen" die literarischen Beispiele, sie können durch das Eintauchen in die Literatur den Ort erlesen, ergehen, erriechen, eressen und Sie bekommen eine plastische Vorstellung von der Gegend, auch wenn Sie nicht dort waren. Und in der Enzyklopädie haben Sie dann die Möglichkeit, dieses Wissen zu vertiefen und es in einer Art und Weise aufzubereiten, wo Sie dann für sich und die anderen Menschen das Gefühl bekommen, hier etwas Zusätzliches, Neues erfahren zu haben.