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Epidemie am Wendepunkt

In der mexikanischen Gesellschaft war Aids und der Schutz vor dem Virus lange Zeit ein Tabu-Thema. Jetzt wird in der Öffentlichkeit darüber gesprochen: Eine Telenova mit kurzen Aufklärungsspots lockt jeden Abend rund acht Millionen Mexikaner vor den Fernseher. In etwa 3000 E-Mails und Briefen pro Woche fragen die Zuschauer um Rat.

Von Martin Winkelheide | 03.08.2008
    Im Norden der Innenstadt von Mexiko City. Santander 9. Der Sitz der Internationalen Aids-Gesellschaft. Hier laufen die letzten Vorbereitungen für die erste Welt-Aids-Konferenz in Lateinamerika.

    "Etwa zwei Millionen Menschen mit HIV/Aids leben in Lateinamerika und der Karibik. Allein in Indien leben mehr HIV-Infizierte als hier in Lateinamerika. Die Situation ist also deutlich weniger dramatisch als in Afrika oder in Asien."

    Dr. Luis Soto-Ramirez arbeitet als Facharzt für Infektiologie an einer großen Klinik in Mexiko City, und er ist einer der beiden Präsidenten der Welt-Aids-Konferenz.

    "Zu Beginn traf die Aids-Epidemie in Lateinamerika und auch hier in Mexiko zunächst Männer, die Sex mit Männern haben. Jetzt breitet sich das Virus in andere Kreise der Bevölkerung aus. Seit drei Jahren sehen wir, dass sich mehr Menschen nach heterosexuellen Kontakten anstecken als nach homosexuellen. Das Muster der Epidemie wandelt sich - in Brasilien übrigens auch."

    Und damit könnte die Aids-Epidemie eine ganz neue Dynamik gewinnen, fürchtet Luis Soto. Besonders gefährdet sind seiner Ansicht nach Jugendliche und junge Erwachsene.

    Denn einerseits hat die mexikanische Gesellschaft in den letzen Jahren einen gewaltigen Modernisierungsschub erlebt. Andererseits ist sie nach wie vor christlich geprägt. 85 Prozent der Menschen sind katholisch getauft.
    "Über Sex spricht man nicht offen. Was erlebt ein Jugendlicher hier in Mexiko? Du kommst nach Hause und Dein Vater sagt Dir: Kein Sex. Deine Mutter sagt: Kein Sex. Du gehst sonntags in die Kirche und der Pfarrer sagt: Kein Sex - und Kondome sowieso nicht. Und dann triffst Du
    Deine Freundin und die sagt: Sex? Ja, bitte. Das ist ein riesiges Problem für die Jugendlichen hier."

    Jugendliche in Mexiko wissen wenig darüber, dass und wie sie sich vor dem Virus schützen können. Und wenn sie es wissen, setzen sie es oft nicht um, sagt Luis Soto.

    "Im Prinzip gibt es Kondome für jedermann. Die nationale Aids-Agentur hat überall Kondome verteilt. Aber sie sind nicht sehr beliebt. Die jungen Leute können in den Gesundheitsstationen und den kleinen Krankenhäusern in den Stadtvierteln so viele Kondome bekommen wie sie wollen. Kistenweise. Aber sie gehen nicht dorthin. Denn, wenn man sie dort sehen würde, dann würden die Leute sagen: Hey, guck Dir mal das Kind an. Das Kind hat schon Sex."

    Jeden Abend zur zweitbesten Sendzeit, zwischen 20 und 21 Uhr. Im Programm von "Canal Dos" läuft eine Telenovela, die in Mexiko für Gesprächsstoff sorgt: "Las Tontas no van al Cielo" - was so viel bedeutet wie: "Dumme Mädchen kommen nicht in den Himmel".

    Die Zentralgeschichte: Eine junge Frau, Candy, entdeckt am Hochzeitstag, dass ihr Bräutigam ein Verhältnis hat - ausgerechnet mit ihrer eigenen Schwester. Candy verlässt Mann und Stadt. Am Ende wird Candy eine neue Liebe finden - darauf dürfen die Zuschauer vertrauen.

    "Las Tontas no van al Cielo" erzählt - in einem Nebenstrang - auch die Geschichte von Charly. Charly, 18 Jahre jung, geht erst in die Diskothek und dann mit einem Mädchen ins Bett. Eine Nacht mit Folgen, wie der spätere Aids-Test beweist.

    "Er durchlebt alle typischen Phasen - ein Wechselbad der Gefühle: Verleugnung, Verzweiflung, Trübsal. Dann wird für ihn die Infektion ein Stück weit Normalität. Und er beginnt mit einer Kampagne. Um jedem, den er trifft, die Botschaft mit auf den Weg zu geben: Einmal Sex ohne Kondom kann ausreichen, um sich zu infizieren."

    José Raúl Estrada hat die Geschichte der Telenovela entwickelt und recherchiert. Er arbeitet für Televisa, den größten Medienkonzern der Spanisch sprechenden Welt.

    "In dieser Szene redet Candy, die Hauptperson mit Santiago. Santiago ist Arzt. Als Arzt benutzt er medizinische Fachbegriffe. Diese Figur macht es uns möglich, diese Begriffe bekannter zu machen. Wir können die Zuschauer informieren und ein Stück weit mit den Mythen aufräumen, die sich um das Thema HIV und Aids ranken."

    "Las Tontas no van al Cielo" ist als Telenovela für die ganz Familie angelegt.
    Rund acht Millionen Mexikaner sehen sie jeden Abend - und damit auch die kurzen Aufkärungs-Spots. Sie verweisen auf den Telefondienst "TelSida" der staatlichen Aids-Agentur: für alle, die mehr wissen wollen.

    Jede Woche gehen 3000 Mails und Briefe bei Televisa ein, die offiziell von der Hauptfigur Candy – inoffiziell von Psychologen beantwortet werden. Und das Rezept für den Erfolg gerade dieser Telenovela? José Raúl Estrada zögert nicht lange:

    "Weil sie das Leben zeigt."