Karin Fischer: Die Bühnen leiden schwer unter der Corona-Krise: Sie spielen nicht mehr, haben Festivals abgesagt und Aufführungen, die vor mehr als 1.000 Besucherinnen und Besuchern stattfinden. Gestern waren das die Wiener Burg und das Nürnberger Staatstheater. Heute kam die Absage des FIND, des "Festivals für Internationale Dramatik", dazu.
Was dann?, lautet jetzt die Frage. Und neben dem wirtschaftlichen Schaden im Kulturbetrieb könnte das natürlich auch eine Zeit sein, in der man sich auf das Wesentliche besinnt. Statt zur lit.cologne zu gehen, könnte man beispielsweise selber lesen. Einer, der das ohnehin ständig tut, ist der Literaturwissenschaftler und Komparatist Jürgen Wertheimer. Er leitet an der Universität Tübingen auch das "Projekt Cassandra - Krisenfrüherkennung durch Literaturauswertung". Er hat in diesen Tagen Albert Camus' "Die Pest" wiedergelesen, was zunächst nach einer sehr makabren Lektüre klingt. Der DLF ist ja immer gegen Hysterisierung; was lernen Sie, habe ich Jürgen Wertheimer gefragt, aus diesem Buch für heute?
Jürgen Wertheimer: Speziell "Die Pest" von Camus ist ein Kompendium rationalen und rationalisierenden Umgangs. Also das ist keine Schwärmerei, kein pathetisches Sich-Hineindelirieren in die Krankheit, sondern Doktor Rieux ist ein Musterbeispiel für einen kontrollierten, pflichtbewussten, von einer gewissen Haltung ohne Brimborium, ohne Pathos, getragenen Grundeinstellung. Der bleibt, erfüllt seine Pflicht, arbeitet, riskiert eine Menge, aber spricht nicht sehr viel drüber.
Wie ein Kollektiv erkrankt
Karin Fischer: Wir sprechen vom Jahr 1947. Was war damals ähnlich wie heute und was anders?
Jürgen Wertheimer: Ähnlich sind sicherlich die Abläufe, strukturellerweise ganz interessant: die gleiche Manie des Verschweigens eine Zeitlang, des Herunterspielens. Dann die allmähliche Ausweitung der Kampf- und Bekämpfungszone und schließlich der Schritt - wenn das Wort Pest fällt -, der Schritt in die Vergesellschaftung der Krankheit. Camus sagt an einer Stelle: In dem Moment, in dem die Tore geschlossen werden, kann man sagen, dass von diesem Moment an die Pest uns alle betrifft. Dieser allmähliche Prozess ist eine Gemeinsamkeit. Eine Gemeinsamkeit ist auch die Art und Weise, wie verschiedene Menschen mit dieser Geschichte verschieden umgehen: vom Heroismus zum Pathetischen, zur Flucht in irgendwelche stilistische Nebenangelegenheiten, zur Flucht in erotische Abenteuer; weil das hier eine kondensierte Lebenssituation ist, aber das alles nur angedeutet. Und doch betrachtet vor dem Blickwinkel einer vergesellschafteten Be-Wirtschaftung, möchte ich fast sagen, des Phänomens der Erkrankung eines Kollektivs.
Karin Fischer: Kontamination ist ja immer ein Thema gewesen in der Literatur und in der Literaturgeschichte. Allerdings steckt die Ansteckung da symbolisch meist für was ganz anderes...
Jürgen Wertheimer: Na ja, die Krankheit ist schon ein wesentliches Phänomen, weil es - ob "Im Tod in Venedig" oder im "Zauberberg" oder im "Decamerone" von Boccaccio oder bei Márquez in diesem wunderbaren fantasieberstenden Gebilde "Liebe in Zeiten der Cholera" -, weil sie immer auch die biologische Seite des Lebewesens Mensch ins Zentrum rückt. Also, er wird sich plötzlich seiner Existenz, auch der Limitiertheit dieser Existenz, bewusst und riskiert - auch erotisch, aber nicht nur - mehr. Und er kann sich in diesen Zustand sogar verlieben, auf eine ganz gefährliche Art. Ich finde das einen wichtigen Aspekt, dass sowohl im "Tod in Venedig" wie auch im "Zauberberg" die Protagonisten eine Art Russisches Roulette mit der Krankheit spielen und alles auf eine Karte setzen. Warum? Weil, es einen dämonischeren Zugriff aufs Leben, einen interessanteren, einen faszinierenden, eine den Grenzen überschreitenden beinhaltet - und dämonisch wird. Jetzt haben wir etwas ganz anderes. Es ist eher eine Pan-Dämonie als eine Dämonie. Wir sind sehr viel rationaler, nüchterner, ernüchterter im Umgang mit dem Phänomen der Kontamination.
"Börsen sind Fieberthermometer"
Karin Fischer: Wir haben natürlich auch deutlich mehr wissenschaftliche Erklärungsmuster als damals. Was macht, wäre meine letzte Frage, Jürgen Wertheimer, die Globalisierung heute mit den Menschen während einer solchen Epidemie, die uns gleichzeitig als Pandemie durch die sozialen Netzwerke eben auch stärker ins Bewusstsein rückt?
Jürgen Wertheimer: Ein enormer Unterschied, vielleicht sogar der größte. "Tod in Venedig", "Zauberberg" - all diese sind im Grunde Privatereignisse und Erlebnisse weniger. Und auch in der "Pest" von Camus bleibt es im Grunde auf den Umkreis einer Stadt Oran konzentriert. Was wir jetzt erleben, ist etwas ganz anderes. Innerhalb weniger Wochen wird eine pan-dämonische Situation zum einen Kommunikationsgegenstand der Welt bis hin zu den Börsen. Zum anderen aber auch ein mediales und faktisches Ereignis. Und es greift in den innersten Mechanismus - auch das kommt bei Camus kaum vor - in den innersten Mechanismus unseres Allerheiligsten, nämlich der Wirtschaft. Die Börsen zucken, die Börsen sind krank, sie sind unser eigentliches Fieberthermometer. Und da die Börsen zum großen Teil mittlerweile von der künstlichen Intelligenz gesteuert werden, also den Kollektoren unserer gesammelten Irrtümer, verbreitet sich möglicherweise die Hysterisierung rapide exponentiell, so exponentiell wie die Fallzahlen.
"Wir sind wieder Konsumenten"
Und dieses Nebeneinander von Steigerungen, von Fallzahlen der wirklichen Infektion und Steigerung des viralen Elements, das uns eine zweite Dämonie beschert, die der Kommunikation der Medien: Das bringt uns in eine völlig andere Situation. Wir sind hamsternde Follower allenfalls, wir sind wieder Konsumenten. Und ich finde es ganz wichtig, sich an - es ist nicht makaber meine Lektüre von Camus, eher didaktisch -, sich zu schulen an dieser pragmatischen, nüchternen, vernunftgeprägten und doch leidenschaftlichen Haltung; es zu betrachten als ein Phänomen, das die Gesellschaft im ganzen halbwegs und mit großen Opfern sicherlich in den Griff zu kriegen versuchen muss - mit allen Mitteln.