Die Corona-Pandemie beschäftigt uns seit Beginn des Jahres. Es gab und gibt viel Ungewissheit. Gerade am Anfang war unklar, welche Maßnahmen am besten gegen die Ausbreitung helfen. Es gab Proteste und Verschwörungsmythen haben immer noch Hochkonjunktur. All das ist für uns neu, aber die Geschichte kennt ähnliche Entwicklungen. Zum Beispiel bei einem Ausbruch der Pest in Südfrankreich vor knapp 300 Jahren.
André Krischer ist Historiker an der Universität Münster und hat sich mit dem Ausbruch damals beschäftigt – und dabei einige Parallelen zu heute entdeckt. Wir haben Ihn gefragt, was man damals schon zur Übertragung solcher Krankheiten wusste:
André Krischer ist Historiker an der Universität Münster und hat sich mit dem Ausbruch damals beschäftigt – und dabei einige Parallelen zu heute entdeckt. Wir haben Ihn gefragt, was man damals schon zur Übertragung solcher Krankheiten wusste:
André Krischer: Das ist genau der Punkt, weswegen diese Diskussion 1720 so aus dem Ruder gelaufen ist: Die wirklichen Ursachen für die Pest kannte man erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber um 1700 vertreten einige innovative Mediziner die Theorie, dass die Pest sich durch Ansteckung verbreitet. Was für uns total plausibel und naheliegend klingt, war für die Zeitgenossen aber durchaus etwas Neues. Die dominante Theorie ging davon aus – wir kennen dieses Sprichwort noch – dass es verpestete Luft ist, die die Pest im Land zirkulieren lässt, die sogenannte Miasmentheorie. Und wenn jetzt Mediziner sagen, das ist jetzt aber Ansteckung, die die Pest verbreitet, dann macht auch Quarantäne Sinn. Bei der Miasmentheorie, bei der Theorie der verpesteten Luft, spielt die Quarantäne ja keine Rolle, weil die Pest dann doch durch alles durchdringt.
Furcht vor Willkürregiment
Böddeker: Heute wissen wir mehr. Wir wissen, dass Bakterien und Viren Krankheiten übertragen, der Wissensstand ist heute ein anderer. Sie schreiben aber in dem Artikel zu dem Thema, dass es interessante Parallelen gibt zwischen damals und heute – oder zumindest auch ähnliche Muster. Welche sind das?
Krischer: Das Muster, das man hier entdecken kann, ist, dass so vollkommen rational erscheinende Maßnahmen, Quarantänemaßnahmen, von einem Teil der Bevölkerung so eingeschätzt wird, dass die Regierung hier versucht, eine Art Willkürregiment zu etablieren, dass sie diese Pandemie, Epidemie nur als Vorwand nützt, um massiv ihre Kompetenzen auszuweiten und Freiheitsrechte massiv einzuschränken. Und diese Parallele ist es, die den Fall 1720 mit dem, was wir im Mai vor allem in Deutschland erlebt haben, verbindet.
Pamphlete statt Tweets
Böddeker: Heute haben wir das Internet, aber wie haben sich damals im 18. Jahrhundert Falschnachrichten oder Verschwörungstheorien verbreitet?
Krischer: Man muss natürlich als Historiker aufpassen, dass man Dinge aus der Vergangenheit nicht mit heutigen Begriffen übersetzt. Aber der Zuspitzung halber kann man sagen: Was heute Tweets sind, das sind im 18. Jahrhundert Pamphlete, also Druckwerke, die anlassbezogen in großer Stückzahl gedruckt werden und unter die Bevölkerung gebracht werden. Auf der einen Seite zirkulieren also Falschnachrichten in diesen Pamphleten, aber auch die Regierung hat versucht, mithilfe von Pamphleten die Auswüchse des Diskurses wieder einzufangen und die schlimmsten Behauptungen zu kontern.
Erstmals medizinische Expertise in Politik umgewandelt
Böddeker: Vielleicht noch eine Parallele: Schon damals gab es Forscher, die sehr in der Öffentlichkeit standen. Inzwischen kennt jeder in Deutschland Christian Drosten von der Berliner Charité. Damals gab es Richard Mead, einen Arzt, der auch Empfehlungen gegeben hat, um die Krankheit einzudämmen, zum Beispiel dass man einlaufende Schiffe erst mal für eine Weile unter Quarantäne stellen sollte. Aber diese Maßnahmen sind offenbar nicht bei allen gut angekommen?
Krischer: Genau. Er steht für diese Theorie, dass die Pest sich durch Ansteckung verbreitet und insofern Quarantänemaßnahmen das Mittel der Wahl sind. Etwas, das eigentlich vollkommen einleuchtend erscheint, wird aber von großen Teilen der Bevölkerung damals als Ablenkungs-, als Täuschungsmanöver wahrgenommen. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Gründe. Einer ist, dass dieser Mead – den Begriff gab es damals noch nicht, aber heute würden wir sagen, zum Establishment zählte. Er ist unglaublich erfolgreich, er ist in den wichtigen Wissenschaftsinstitutionen des Landes, in der Royal Society ganz vorne dabei. Er ist jemand, der auch als Arzt Mitglieder der Königsfamilie und den ersten Premierminister zu seinen Patienten zählt und der jetzt zum ersten Mal in der Geschichte jemand ist, dessen medizinische Expertise im Grunde in Politik umgewandelt wurde.
Und genau an diesem Punkt machen sich ganz viele Gegner fest, die also einerseits behaupten, das, was Mead erzählt, das stimmt nicht, oder der hat nur persönliches Geltungsbedürfnis, was er dadurch befriedigen kann – hier steckt also die Elite unter einer Decke.
"Nicht alles, was kritisiert wurde, ist gleich eine Verschwörungstheorie"
Böddeker: Wir haben über Verschwörungsmythen gesprochen, die es damals schon gab, über falsche Theorien. Aber waren eigentlich alle Befürchtungen unbegründet? Manches war ja vielleicht damals nicht so abwegig, zum Beispiel wurde ja mit ansteckenden Kranken damals mitunter nicht so gut umgegangen, wie wir es heute machen.
Krischer: Das stimmt. Nicht alles, was kritisiert wurde, ist gleich eine Verschwörungstheorie. Und da haben wir natürlich eine weitere Parallele, sofern von Regierungsseite versucht wurde, auch dieser rationalen Kritik das Label einer Verschwörungstheorie anzuheften. Genau das haben wir auch. Aber Verschwörungstheorien entstehen an dem Punkt, wo man glaubt, dass bestimmte Maßnahmen nur Schein sind und dahinter sich etwas ganz anderes verbirgt – wo also im Dunklen Strippenzieher wirken und das Ganze nur nutzen, um einen Masterplan durchzusetzen. Und an dem Punkt scheidet sich dann rationale, berechtigte Kritik an überschießenden Maßnahmen von einem Verschwörungsglauben, der in England in dieser Zeit im Grunde auch schon Tradition ist, in das 16. Jahrhundert zurückreicht und die Gesellschaft sehr selbstverständlich dominiert.
Verschwörungstheorien ernster nehmen
Böddeker: Es gibt einige Unterschiede zu heute, aber auch viele Ähnlichkeiten. Was würden Sie sagen, was können wir für heute daraus lernen, wie das 1720 abgelaufen ist?
Krischer: Verschwörungstheorien ernster zu nehmen. Das ist nicht irgendetwas, was in abgelegenen Winkeln des Internets stattfindet, sondern das ist mittlerweile etwas, was in unserem gesellschaftlichen Diskurs angekommen ist. Wir müssen von politischer und gesellschaftlicher Seite darauf reagieren, da wird viel Bildungsarbeit notwendig sein. Aber wenn wir das Problem erst mal wirklich identifiziert haben, dann ist auch schon der erste Schritt zur Lösung unternommen worden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.