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Pandemien vorbeugen
Wie schneller auf neue Infektionen reagiert werden kann

Der WHO Hub in Berlin entwickelt Möglichkeiten, wie weltweit schneller auf kleinere Ausbrüche gefährlicher Krankheiten reagiert werden kann, um Pandemien zu verhindern. Hub-Leiter Chikwe Ihekweazu erklärt, wie Prävention funktionieren kann.

Chikwe Ihekweazu im Gespräch mit Lennart Pyritz |
Illustration: Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen steht vor einer großen Tafel, auf der ein Virus abgebildert ist.
Der Epidemiologe Chikwe Ihekweazu meint: "Eine der wichtigsten Lehren aus der Pandemie ist, dass das Auftreten und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten von vielen Faktoren abhängen, die wir bisher nicht gut messen konnten." (Imago / fStop Images / Malte Müller)
Epidemien und Pandemien frühzeitig erkennen – das ist der Auftrag des „Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence“ in Berlin. Als eine Art Frühwarnsystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde es im September 2021 eröffnet. Es soll helfen, Daten aus aller Welt – über Erreger, tierische Reservoirs und das menschliche Verhalten – zu verknüpfen und zu interpretieren, um Bedrohungen durch Infektionskrankheiten möglichst früh zu erkennen und Ausbrüche an der Quelle zu stoppen.
Chikwe Ihekweazu bei der Eröffnung des WHO Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence
Chikwe Ihekweazu bei der Eröffnung des WHO Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence (imago images / Eventpress / Eventpress SK)
Der Epidemiologe Chikwe Ihekweazu war Leiter der nigerianischen Seuchenschutzbehörde und ist nun Direktor des Zentrums. Er sieht das Ziel des Zentrums nicht darin, weltweit Daten für Berlin zu sammeln und Entscheidungen für Länder zu treffen. Sondern er erklärt im Deutschlandfunk, es sei das Ziel, jedes Land in die Lage zu versetzen, seine eigenen Daten zu sammeln, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und Ausbrüche an der Quelle zu stoppen.
Lennart Pyritz: Hätte die Corona-Pandemie mit den damals, 2019, vorhandenen, internationalen Präventionsstrategien vermieden werden können?

Chikwe Ihekweazu: Ich denke, das Auftreten neuer Infektionen ist sehr schwer zu verhindern. Weil es zwischen dem Erreger, der menschlichen Bevölkerung und der Umwelt so viele Faktoren gibt, die zu diesem Auftreten führen, dass es fast unmöglich ist, es vorherzusagen. Was wir auf jeden Fall besser machen können, ist die Reaktion auf kleine Ausbrüche und Epidemien, um zu verhindern, dass sie zu großen Pandemien werden. Und ja, wenn ein paar Umstände anders gewesen wären, hätten wir es vielleicht bei Corona geschafft, aber das kann niemand mit Sicherheit sagen.

Viele unbekannte Faktoren

Pyritz: Der WHO Hub in Berlin soll jetzt solche Strategien entwickeln, um in Zukunft besser auf neue Epidemien oder Pandemien reagieren zu können. Wenn wir mal Schritt für Schritt vorgehen: Wie könnten Ausbrüche oder potenzielle Ausbrüche in Zukunft schneller erkannt und eingedämmt werden, bevor sie zur großen Epidemie werden?
Ihekweazu: Eine der wichtigsten Lehren aus der Pandemie ist, dass das Auftreten und die Ausbreitung von Infektionskrankheiten von vielen Faktoren abhängen, die wir bisher nicht gut messen konnten. Wir erfassen zwar schon seit vielen Jahren die Fallzahlen, wie viele Menschen sterben und wie krank sie sind. Aber es gibt noch viele andere Faktoren, einige davon innerhalb des Erregers selbst, andere betreffen das menschliche Verhalten.
Wie können wir dieses Verhalten messen? Wie beeinflusst es unsere Interaktionen und letztlich die Übertragung? Wie treffen Mensch und Tier in unterschiedlichen Teilen der Welt aufeinander? Und wie können wir all dies konsequent messen, um neue Infektionsmuster zu verstehen? In gewisser Weise ist nichts davon neu, aber wir versuchen, die Informationen besser miteinander zu verknüpfen, um Vorhersagen treffen und somit besser auf diese Ereignisse reagieren zu können. Es ist schwierig, einige dieser Dinge zu messen: das menschliche Verhalten, die Mobilität, den Verkehr. Aber zum Vergleich: Anfangs war es auch nicht leicht, Wettermuster zu messen. Aber im Laufe der Zeit wurden die Methoden verbessert, und die Zuverlässigkeit immer größer. Wir glauben also nicht, dass wir alle Probleme an einem Tag lösen können, aber wir denken, dass es wichtig ist, jetzt damit anzufangen, um das nötige Fachwissen für die Zukunft aufzubauen.
Pyritz: Ja, aber wenn wir das konkretisieren, wie könnten diese Daten international gesammelt und ausgetauscht werden - und von wem?
Ihekweazu: Die primären Entscheidungsträger sind auf nationaler Ebene. Unser Ziel ist es also nicht, weltweit Daten für Berlin zu sammeln und Entscheidungen für Länder zu treffen. Unser Ziel ist es, jedes Land in die Lage zu versetzen, seine eigenen Daten zu sammeln, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und Ausbrüche an der Quelle zu stoppen. Dann werden wir auch immer mehr Daten austauschen können.
Pyritz: Wie können zum Beispiel ärmere Länder bei der Erhebung dieser Daten und der Schließung von Datenlücken unterstützt werden?
Ihekweazu: Ich denke, was die Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen wirklich wollen, ist die Gewissheit, dass die Vorteile des Austauschs auch bei ihnen ankommen. Dass sie, wenn sie also Informationen über neue Krankheitserreger weitergeben, ebenso wie der Rest der Welt Zugang zu Medikamenten, Diagnostika oder Impfstoffen erhalten - und zwar zur gleichen Zeit wie der Rest der Welt. Wir können das eine nicht ohne das andere tun. Wir können von den armen Ländern nicht erwarten, dass sie sich beteiligen, ohne ihnen auch den Zugang zu Gegenmaßnahmen zu sichern. Aus diesem Grund ist unsere Arbeit nur Teil einer viel größeren neuen Architektur für Gesundheit und Notfallvorsorge, die die WHO derzeit entwirft.

"Viele lokale Zentren miteinander verbinden"

Pyritz: Wie und wo sollen diese umfangreichen Daten dann regelmäßig überwacht und analysiert werden?
Ihekweazu: Das ist eine sehr wichtige Frage. Unsere Idee ist es nicht, ein Zentrum zu haben, das alle Daten sammelt und auswertet. Vielmehr wollen wir viele lokale Zentren miteinander verbinden, die diese Daten sammeln, analysieren und für die tägliche Entscheidungsfindung nutzen – und sie dann zum Nutzen der gesamten Welt weitergeben. Anstatt zu sammeln, verbinden wir also einzelne Zentren miteinander.
Pyritz: Soll das letztendlich zu einer Art interaktiver Risikokarte führen? Eine weltweite Risikokarte für mögliche zukünftige Epidemien?
Ihekweazu: Ja, so eine Risikokarte wird aus vielen lokalen Risikokarten hervorgehen. (...) Einige Länder sind dabei schon weiter als andere. Wir werden das Fachwissen in einem Land nutzen, um andere zu unterstützen, und andersherum. Es ist ein bisschen wie ein Puzzle. Mit der Zeit verbinden sich die Punkte, und das Bild entsteht.
Pyritz: Wie lange, glauben Sie, wird dieser Prozess dauern?

"Corona-Pandemie hat Schwachstellen aufgezeigt"

Ihekweazu: Ich denke, es wird ehrlich gesagt ein nie endender Prozess sein. Wir werden nie den Punkt erreichen, an dem wir sagen können, dass wir völlig sicher sind, weil sich die Viren und die Menschen verändern, und die Mobilität verändert sich. Das ist etwas, in das wir fortlaufend investieren müssen.
Pyritz: Das bringt mich zu den Affenpocken. Die Corona-Pandemie hat uns in den letzten Jahren viele Schwachstellen im internationalen Kampf gegen den Ausbruch von Infektionskrankheiten aufgezeigt. Jetzt haben wir diesen Affenpockenausbruch in Europa und Amerika und die Diskussion darüber, wie man ihn eindämmen kann. Was meinen Sie dazu? Hat die Welt etwas aus der Corona-Erfahrung gelernt? Oder gehen wir gerade das Risiko ein, dass die Affenpocken die nächste neue globale Epidemie werden?
Ihekweazu: Ich denke, die wichtigste Lehre, die wir aus dem Auftreten der Affenpocken ziehen können, ist die, dass wir auf das Auftreten einer Bedrohung reagieren müssen, egal wo sie auftritt. Der erste signifikante Ausbruch von Affenpocken begann 2017/18 irgendwo in Afrika, in Nigeria, in der Demokratischen Republik Kongo. Und die Welt hat dem nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, weil man dachte: Das ist zu weit weg. Das wird uns nicht betreffen.
Wir lernen es wieder auf die harte Tour. Ja, die Affenpocken führen zu einer ziemlich beängstigenden Situation, und es ist eine sehr schlimme Krankheit für diejenigen, die sie bekommen, aber zum Glück führt sie nicht zu so vielen Todesfällen. Aber wir müssen daraus lernen, wie schnell sich eine neue Bedrohung ausbreiten kann. Und wenn es sich um eine Krankheit handeln würde, die zu schwereren Fällen und mehr Toten führen würde, wären wir in einer sehr schwierigen Lage. Aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wir diese Krankheit noch in den Griff bekommen können, wenn wir die Gegenmaßnahmen ergreifen, die uns zur Verfügung stehen. Wir haben das Glück, dass wir bereits einen Impfstoff auf dem Markt haben, der recht gut funktioniert. Wir haben das Glück, die Gemeinschaften, in denen sich die Krankheit ausbreitet, zu kennen, so dass wir unsere Maßnahmen gezielt einsetzen können. Jetzt müssen wir aggressiv vorgehen und sehen, ob wir die Krankheit noch in den Griff bekommen, bevor sie noch schlimmer wird, als sie jetzt schon ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.