Archiv

Vierte Corona-Welle
Epidemiologe Kekulé: Lockdownähnliche Maßnahmen sind unumgänglich

Der von den Ampel-Parteien vorgeschlagene Corona-Krisenstab entspreche den seit langem vorliegenden Pandemie-Plänen, sagte der Epidemiologe Alexander Kekulé im Dlf. Es sei jedoch kein Instrument, um die akute Lage zu beherrschen. Dazu seien unter anderem lockdownähnliche Maßnahmen unumgänglich.

Alexander Kekulé im Gespräch mit Friedbert Meurer |
Polizisten laufen am Abend in der Dresdner Altstadt an Restaurants entlang. Die Polizeidirektion Dresden kontrolliert die Einhaltung der neuen Corona-Regeln täglich mit 50 Beamtinnen und Beamten. Im Fokus stehen demnach Kontrollen der FFP2-Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr sowie die Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte in Hotspot-Gebieten.
Nach Ansicht das Epidemiologen Alexander Kekulé kann die vierte Corona-Welle nur mit lockdownähnlichen Maßnahmen gebrochen werden (dpa/picture alliance)
Die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigt ungebremst weiter, die bundesweite Sieben-Tag-Inzidenz ist so hoch wie nie zuvor in der Pandemie. Um die Lage in den Griff zu bekommen, will die potenzielle künftige Ampel-Koalition das Krisenmanagement der Bundesregierung neu ordnen - so steht es im Entwurf für den Koalitionsvertrag. Unter anderem soll ein ständiger Bund-Länder-Krisenstab im Kanzleramt eingerichtet und ein interdisziplinär besetzter wissenschaftlicher Pandemierat beim Bundesministerium für Gesundheit geschaffen werden.
Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle, begrüßte die Pläne der Ampel-Parteien. Die Einrichtung einer Pandemie-Kommission sei die erste Maßnahme, die in den von ihm und anderen Experten seit Jahrzehnten ausgearbeiteten Pandemie-Plänen stünden. Diese Pläne seien jedoch bisher nie aktiviert worden. "Das war sicherlich ein Fehler, weil man damit Fehler gemacht hat, die schon vorher in den Plänen antizipiert waren", sagte der Epidemiologe.

Mehr zum Thema Coronamaßnahmen, Impfpflicht und Impfungen


Zugleich warnte er davor den Krisenstab "als Instrument zu sehen, unsere akute Lage zu beherrschen". Um die aktuelle Lage wieder in den Griff zu bekommen, sind nach Ansicht von Kekulé drei Maßnahmen notwendig: Neben täglichen Tests und priorisierten Auffrischungsimpfungen seien vor allem auch wieder lockdownähnliche Maßnahmen notwendig. "Weil für alle anderen Optionen, die vorher möglich gewesen wären, da ist jeweils das Zeitfenster zugefallen", so Kekulé.

Das komplette Interview im Wortlaut:
Friedbert Meurer: Wenn die Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), den Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder von fünf bis zwölf Jahren für die Zulassung durch die EU-Kommission empfiehlt, würden Sie Eltern sagen, macht es, ihr könnt es tun?
Alexander Kekulé: Ich würde auf jeden Fall abwarten, was die Ständige Impfkommission dazu empfiehlt. Es ist jetzt nicht sinnvoll, dass ein einzelner Wissenschaftler das macht. Ganz klar ist, dass das Risiko bei jüngeren Menschen, an Covid schwer zu erkranken, geringer ist, und die Stiko hat sich ja schon sehr schwergetan bei den Zwölf- bis 17-Jährigen. Da ist die Empfehlung ja ausgesprochen worden nicht ausschließlich aufgrund der medizinischen Überlegungen, weil sich sonst zwischen Nutzen und Risiken die Waage halten würde.
Sondern man hat gesagt, wir müssen auch berücksichtigen, dass die Kinder dadurch mehr Freiheit haben, weniger soziale und psychologische Schäden.  Wenn man das mitberücksichtigt, dann haben sie gesagt, dann empfehlen wir die Impfung bei Zwölf- bis 17-Jährigen. Da wird man jetzt abwarten müssen, ob die gleichen Überlegungen für die Fünf- bis Elfjährigen auch gelten. Weil je jünger ein Mensch ist, desto mehr ist das Immunsystem noch in der Entwicklung, und die Frage, wie groß die Schäden wären im Falle einer Infektion. Aber ich bin sicher, dass die Stiko hier eine abgemessene und vernünftige Entscheidung treffen wird.

"Völlige Nachlässigkeit bei der Öffnung der Schulen"

Meurer: Es gibt ja offenbar immer mehr Fälle von Kindern in Kindertagesstätten, Grundschulen, weiterführenden Schulen, die sich die Infektion holen. Haben wir das epidemiologisch unterschätzt, wie oft sich Kinder anstecken und dann andere weiter anstecken können?
Kekulé: Nein, das haben wir nicht unterschätzt. Es ist ja so gewesen: Im letzten Jahr hatten wir eine andere Virusvariante. Da war es tatsächlich so, dass in den Schulen zum Teil einzelne Kinder sich infiziert hatten, aber erstaunlicherweise die ganze Klasse gar nicht angesteckt haben. Aus dieser Zeit hat man leider die Überlegungen ins neue Jahr mitgenommen und einige Bundesländer haben gesagt, wenn ein Kind krank ist, dann dürfen die anderen in der Klasse bleiben. Da haben sie aber die Rechnung ohne Delta gemacht.
Das Delta-Virus ist so ansteckend, dass dann selbstverständlich es zu Ausbrüchen kommt, und zusätzlich ist das die Gruppe, die schlecht geimpft ist in Deutschland, und deshalb haben wir einen ganz massiven Ausbruch durch diese völlige Nachlässigkeit bei der Öffnung der Schulen. Da sind ja die Masken weggelassen worden, da gibt es keine Quarantäne mehr für Kontaktpersonen und all diese Dinge. Neben den 2G-Regelungen, die leider ein Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind, weil 2G-Menschen ja auch weiterhin noch das Virus verbreiten, sind das die zwei Hauptgründe, warum wir jetzt diese hohe Inzidenz haben.

Auswahl von Experten war "völlig erratischer Prozess"

Meurer: Über die 2G-Regelung können wir gleich noch reden. Der Vorschlag, im Kanzleramt einen Krisenstab einzurichten, Herr Kekulé, ist das, sagen wir mal, ein bisschen eine Demonstration, wir tun etwas, oder macht das Sinn?
Kekulé: Grundsätzlich macht das Sinn. Die Pandemie-Pläne - da ist, glaube ich, bekannt, dass ich an denen seit Jahrzehnten ja mitgeschrieben habe -, die sind nie aktiviert worden in dem Sinne, und da steht drin, erste Maßnahme, richte eine Pandemie-Kommission ein, wo Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammensitzen und die Regierung beraten.
Das muss ein strukturierter und offener Prozess sein. Es muss schon mal klar werden, aufgrund welcher Kriterien die Leute da überhaupt reinbestellt werden. Das kann man nicht so hopplahopp machen. Unsere Empfehlung war auch immer gewesen, dass diese Kommission für alle Fälle schon als Schattenkabinett vorhanden ist, bevor überhaupt die Pandemie ausbricht.
Meurer: Haben Sie in der Vergangenheit den Eindruck gehabt, der Auswahlprozess war nicht offen?
Kekulé: Nein, das ist überhaupt nicht so gewesen. Die Regierung hat dann immer nach Bedarf irgendwelche Leute sich herangezogen, die vielleicht gerade vorher in der letzten Talkshow gesessen haben. Das ist ein völlig erratischer Prozess gewesen, abgesehen vom Robert-Koch-Institut, das ja als Behörde automatisch dafür zuständig ist. Aber beispielsweise gab es die Schutzkommission, die sich für Bevölkerungsschutz und dort auch insbesondere für biologische Gefahren seit Jahrzehnten damit beschäftigt hatte, und die Leute, die vorher diese Pandemie-Pläne gemacht hatten, das war eine ganze Reihe von Leuten. Da ist niemand anfangs gefragt worden, auch niemand anfangs in die Planungen einbezogen worden. Das war sicherlich ein Fehler, weil man damit Fehler gemacht hat, die schon vorher in den Plänen antizipiert waren.
Meurer: Ist das der Eile geschuldet gewesen oder war das Absicht?
Kekulé: Oh, jetzt fragen Sie mich was. – Das ist schwierig zu sagen. Natürlich einerseits der Eile; andererseits: Eine Kommission, das ist von den Politikern immer mutig, sich so eine Wissenschaftlerkommission zu nehmen. Die ist nicht demokratisch legitimiert. Aber wenn die öffentlich ihre Meinung sagt, das ist für einen Politiker relativ schwer, dann dem zu widersprechen. Das wissen Politiker und deshalb ist es wahrscheinlich so eine Mischung. Man muss sich als Politiker gut überlegen, ob man sich so ein Ei ins Nest legen will, weil wenn der Kommissionsvorsitzende plötzlich was anderes sagt als der Ressortchef, dann wird es für den Politiker eng.

Empfehlungen kamen zu spät

Meurer: Aber es kann ja auch sein, dass die Kommission sich nicht einig ist. Nehmen wir mal an, Sie wären Mitglied – Sie waren ja mal stellvertretender Vorsitzender einer Schutzkommission, lange Zeit sogar, für Bevölkerungsschutz -, dann ist überhaupt nicht gesagt, dass dann alle Experten einer Meinung sind, oder?
Kekulé: Nee, aber es ist erstaunlicherweise so, dass es fast immer einen Minimalkonsens gibt. Aber das ist ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Es kommt ja auf die Zeitachse an. Wissenschaftliche Prozesse dauern eine Weile. Das wird auch bei dieser neuen Kommission so sein. Wir haben ja auch sehr gute Stellungnahmen zum Beispiel des Ethikrats oder auch sehr gute Stellungnahmen der Leopoldina gehabt. Die kamen nur immer zu spät.
Wenn Sie jetzt daran denken: Die Empfehlung des Ethikrats, berufsbezogen zu impfen für Pflegepersonal, die kam einige Wochen später, nachdem ich das öffentlich gefordert hatte – nicht, weil ich so viel schneller denke, sondern weil eine ganze Kommission einen Prozess hat. Die muss das abstimmen und das muss ja dann auch Hand und Fuß haben, wenn die so was empfehlen. Deshalb möchte ich davor warnen, das jetzt als Instrument zu sehen, unsere akute Lage zu beherrschen.
Meurer: Die akute Lage! Sie sagten eben, 2G hilft nicht ausreichend, weil es zu viele Impfdurchbrüche gibt.
Kekulé: Das ist ein Teil des Problems! Wir haben Menschen mit 2G feiern lassen.

"Wir werden Kontaktbeschränkungen brauchen"

Meurer: Das heißt, Sie sind jetzt für Lockdown für alle? Auch für die geimpften?
Kekulé: Wir haben drei Dinge, die wir jetzt leider machen müssen. Das erste ist – und das ist schon beschlossen, um mal was Positives zu sagen. Es ist beschlossen, jeden Tag die Leute zu testen, die in den Altenheimen sind und in den Pflegeheimen. Das müssen wir sofort konsequent umsetzen.
Zweitens hat die Ständige Impfkommission spät, aber doch jetzt endlich gesagt, dass auch unter 70-Jährige geboostert werden sollen. Das ist die zweite wichtige Maßnahme, wirklich erst mal jetzt alle über 60-Jjährigen konsequent zu boostern. Das ist etwas, was sofort hilft, weil Sie damit die Sterblichkeit reduzieren. Wenn man die durch hat, kann man die über 50-Jährigen boostern. Priorisierte Boosterung statt irgendwie mit der Gießkanne.
Das dritte, muss man traurig sagen: Ja, wir beobachten das seit einigen Wochen. Wir sind jetzt in der Phase mit Inzidenzen über 400. Wir werden diese Inzidenz nicht in den Griff bekommen ohne lockdownähnliche Maßnahmen. Wir werden Kontaktbeschränkungen brauchen, weil für alle anderen Optionen, die vorher möglich gewesen wären, da ist jeweils das Zeitfenster zugefallen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.