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Epidemiologe zu Corona-Maßnahmen
"Es ist nicht klar, welche Strategie die Regierung verfolgt"

Wie die Corona-Maßnahmen sich auswirken, versucht Michael Meyer-Hermann in Computermodellen nachzuspielen. Das könne helfen, das richtige Maß für Lockerungen zu finden, sagte er im Dlf. Doch die Frage sei: Wollen wir die Koexistenz mit dem Virus - oder es eindämmen, um dann wieder aufatmen zu können?

Michael Meyer-Hermann im Gespräch mit Christiane Knoll |
Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, zu Gast bei Anne Will im Ersten Deutschen Fernsehen.
Tracking-Daten des Coronavirus: Meyer-Hermann bevorzugt Computermodelle mit digitalen Agenten (imago-images/Jürgen Heinrich)
Wer bei strahlendem Wetter am vergangenen Wochenende durch einen beliebigen Stadtpark lief, der sah junge Leute in Gruppen beieinander sitzen, Kinder mit ihren Großeltern, Küsschen und Umarmungen. Was denkt sich der Epidemiologe Michael Meyer-Hermann, wenn er diese Szenen sieht?
"Die Leute haben das Gefühl, die Krise sei bewältigt"
"Ich glaube, dass das Signal, das mit den Lockerungen von der Pressekonferenz letzte Woche ausging, dazu geführt hat, dass die Leute das Gefühl haben, die Krise sei bewältigt. Doch die Krise ist nicht bewältigt", so Meyer-Hermann, "sondern die Lockerungen sind ein Versuch, ob wir in der Lage sind, mit etwas mehr Wirtschaftsaktivität die Kontrolle des Virus trotzdem zu behalten."
Der Physiker, Philosoph und Professor für Systemimmunologie entwickelt am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig Computermodelle, mit denen er die Pandemie abbildet. Das Geschehen ist durchaus komplex. Es wird bestimmt von vielen Variablen und Effekte zeigen sich zeitverzögert. Meyer-Hermann arbeitet mit digitalen Agenten, die stellvertretend für Bürger und Bürgerinnen in Familien leben, die Schule besuchen oder abends in die Kneipe gehen. Noch müsse dieses System aber genau auf Deutschland angepasst werden, Ergebnisse seien frühestens in wenigen Wochen zu erwarten.
Digitale Agenten, die abends in die Kneipe gehen
Ziel der Modellierung ist, einzelne Maßnahmen und die Wirkung von Verhaltensweisen in der Gesellschaft besser zu verstehen. Was bringen Masken, welche Konsequenzen hat es, wenn wir Schulen schließen oder die Wirtschaft wiederbeleben? Verlässliches Wissen kann helfen, das richtige Maß zu finden bei den Lockerungen, die sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft herbeisehnen.
"Einen ersten Hinweis könnte es schon in wenigen Tagen geben. Was sich an den Ostertagen im Verhalten der Menschen geändert hat, wird sich dann in den Statistiken niederschlagen. Das werden wir in den nächsten zwei Tagen wissen. Das ist ungefähr der Abstand, bei dem die zusätzlichen Kontakte wirksam und sichtbar werden. Dann haben wir vielleicht ein gutes Gefühl dafür, welche Auswirkung die leichte Erhöhung der Kontaktzahlen zu Ostern hatte. Und es zeigt uns, welchen Spielraum wir haben mit den Maßnahmen und Lockerungen."
Grafik zeigt Infektionskurve wenn das öffentliche Leben ohne Schutzmaßnahmen wieder hochgefahren wird.
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Aktuell stecken zehn Infizierte in Deutschland neun weitere Personen an. Damit liegt die sogenannte Reproduktionszahl knapp unter der wichtigen Schwelle von eins, etwas höher als noch vor einer Woche. Bei R größer eins würde die Epidemie Raum gewinnen, bei eins würde sie ein stabiles Niveau halten. Doch Lockerungen sind immer mit höheren Infektionsraten verbunden. Um das zu verstehen, brauche man keine Modelle, so Meyer-Hermann. Deshalb seien die Spielräume für Experimente aktuell nicht sehr groß.
Koexistenz oder Kontrolle?
Der Epidemiologe hat in der Talkshow "Anne Will" und an anderer Stelle betont, dass der Rückgang der Infektionszahlen mit etwas Durchhaltevermögen eine Containment-Strategie in erreichbar Nähe rückten. Dafür müsse man die Einschränkungen in Deutschland aufrechterhalten, bis eine Reproduktionszahl von 0,2 erreicht sei, um dann jedem Infektionsfall nachgehen zu können. Alternativ kann man versuchen, mit dem Virus zu koexistieren bei einer Reproduktionsrate um die eins, was allerdings mit Blick auf den nächsten Herbst das Risiko einer zweiten Welle berge, die wesentlich schwerer zu stoppen sein könnte.
"Da ist vielleicht eine Entscheidung zu treffen grundsätzlich auf der politischen Seite. Ich halte es auch für ratsam, dass man den Weg klar formuliert. Damit man die Menschen mitnimmt und die Bürger und Bürgerinnen wissen, was sie gerade tun. Wofür durchleben sie die Einschränkungen? Um diese Koexistenz zu haben oder um wirklich das Virus auf niedrige Zahlen runterzukriegen und dann wieder aufatmen zu können? Die beiden Strategien liegen auf dem Tisch. Aber es ist nicht wirklich klar, welche Strategie die Regierung eigentlich verfolgt."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)