Die Impfquote von 95 Prozent, die eine ausreichende gesellschaftliche Immunität gegen Masern sicherstellen soll, beruht auf epidemiologischen Modellen, erklärt Anette Siedler vom Robert-Koch-Institut für Infektionsepidemiologie/Impfprävention in Berlin. Eine wichtige Rolle spiele dabei die vergleichsweise große Ansteckungsfähigkeit der Masern. Die sogenannte Basis-Reproduktionszahl - die Zahl der Ansteckungen die ein Infizierter in einer komplett nicht-immunen Bevölkerung generieren kann - sei bei Masern mit bis zu 18 Fällen sehr hoch. Daraus lasse sich die sogenannte Netto-Reproduktionszahl ableiten, die kleiner als eins sein muss, um eine Epidemie zu stoppen. Für Masern entspreche dies einem Wert von 95 Prozent der Bevölkerung, die gegen die Krankheit immun sein müsse.
Das gesellschaftliche Anliegen sei es aber grundsätzlich, so viele Menschen wie möglich mit einer Impfung zu erreichen. Untersuchungen hätten gezeigt, dass die totalen Impfverweigerer in Deutschland etwa einen Anteil von drei Prozent ausmachten. Damit könne man gut leben, aber vom Ziel die Masern auszurotten, sei man noch ein Stück weit entfernt.
"Eher kein Akzeptanzproblem" bei Masern-Impfung
In den letzten Jahren sei zumindest bei den Impfquoten zum Schuleingang schon einiges erreicht worden. Aber es hapere noch an der rechtzeitigen Impfung, berichtet die Infektionsepidemiologin. 97 Prozent der Kinder hätten bei der Einschulung mindestens eine Masern-Impfung erhalten. Dies deute eher nicht auf ein Akzeptanzproblem hin, das Problem seien vielmehr die verpassten Zweitimpfungen, die mit knapp 93 Prozent nach wie vor zu niedrig seien.
Außerdem werde bei vielen Kindern nach wie vor zu spät geimpft, sehr viele Ein- bis Vierjährige seien ungeschützt und könnten bei Ausbrüchen erkranken. Ein besonderes Problem gebe es auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in ihrer Kindheit wesentlich schlechter durchgeimpft worden seien. Dadurch könnten Immunitätslücken auftreten.
Neue Wege und neue Strukturen zur Impfung
Diese Gruppen müssten jetzt nachgeimpft werden. Da Jugendliche selten von sich aus zum Arzt gehen, weil sie überwiegend gesund sind, müssten in der Gesellschaft andere Wege gefunden werden: etwa das aufsuchende Impfen, an Schulen, weiterbildenden Schulen, Universitäten oder in Sportvereinen. Dazu sei es notwendig, entsprechende Kapazitäten im öffentlichen Gesundheitssystem zu schaffen und strukturelle Hindernisse abzubauen. Ärzten müsste es ermöglicht werden, medizinische Leistungen auch außerhalb ihrer Praxen zu erbringen und abzurechnen.
Das Erlassen einer Impfpflicht wäre ein starkes Signal dafür, wie ernst die Gesellschaft das Problem nimmt. Offen bliebe allerdings die Frage, wie man die Zielgruppen erreicht, die man impfen möchte, wen man impfen möchte und ob man selektiv impfen möchte, also nur gegen Masern. Es gebe bei Einschulungsuntersuchungen einen leicht rückgängigen Trend bei anderen Krankheiten. Eine Verpflichtung könnte bei Skeptikern auch den Widerstand verstärken.