Am 5. September 2009 wurde von mehreren TV-Sendern die Dokumentation "24h Berlin" ausgestrahlt. Fernsehhistorisch betrachtet ein ziemlich imposantes Ereignis. Mehrere Teams hatten verschiedene Berliner Bürger durch ihren Alltag begleitet – von der Zugführerin bis zum Regierenden Bürgermeister –, die Reportagen wurden episodenhaft zusammengeschnitten und über 24 Stunden hinweg gesendet, auf dass sich ein Porträt der Stadt und ihrer Menschen 20 Jahre nach dem Mauerfall ergeben sollte.
Ein bisschen ähnelt der neue literarische Wurf der Wahlberlinerin Annett Gröschner dieser Versuchsanordnung, nur war ihre Idee schon ein bisschen früher entstanden – und nicht vom öffentlich-rechtlichen Ehrgeiz getrieben, ein politisch ausgewogenes Gesellschaftsbild zu malen. Vor knapp zehn Jahren rief Gröschner in einer Radiosendung Berliner dazu auf, ihr zu schreiben, was sie am 30. April erlebt haben. Aus den zugeschickten Berichten entstand nach und nach ein Episodenroman mit fast zwei Dutzend sehr kuriosen Figuren, die einen turbulenten "Walpurgistag" im Jahr 2002 zu überstehen haben. Und weil eben acht Stunden noch kein Tag sind, 24 Stunden aber schon, trägt sich der Geschichtenreigen zeitlich genau markiert von 0 Uhr bis 24 Uhr zu.
Annett Gröschner hat damit einen sprachlich fulminanten Großstadtroman vorgelegt, der – natürlich mit Seitenblick auf den wichtigsten aller Hauptstadt-Romane, "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin – mit einem Prolog am Alex beginnt.
"Der Alexanderplatz ist ein Kältepol. Nur Herumlaufen wärmt. Schon zehnmal habe ich den Weg vom Brunnen bis zur Weltzeituhr zurückgelegt. Ich weiß jetzt, wie spät es in Phnom Pen ist und welche Zeit die Armbanduhren der Moskauer anzeigen. Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen. Mit großer Geste die Planeten anzuhalten oder die Uhren um einen Tag vorzustellen. Vielleicht würde ich mich daran aufwärmen können. Den ganzen Winter über habe ich nicht so gefroren wie heute Nacht. Also wieder von vorn. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist ein Spiel."
Der da spricht ist ein Herumstreicher mit dem passenden Namen Alex. Ein Mann mit Ostvergangenheit, zudem wandelndes Lexikon und guter Geist, der fast zauberische Kräfte besitzt. Dieser Alex ist ein sanftmütiger Mephistopheles, der alle möglichen Fäden in Händen zu halten scheint und stets ausreichend informiert ist, zumindest weiß, wie er an Informationen kommen kann. Immer wieder wird er im Lauf des Buches geheimnisvoll auf- und abtauchen.
Vom Alexanderplatz führen nach diesem Vorspiel alle möglichen Schleichwege weiter hinein ins Dickicht der Stadt, in das wenig repräsentative Berlin, wo die Prekären und Hartzer ihr Dasein fristen. Jedes Kapitel wird, wieder eine Reverenz an Döblin, mit einer kurzen Zusammenfassung des Folgenden eröffnet:
"Gerda Schweickert kann nicht schlafen und beschriftet ihre Umzugskisten, in denen sich die Geister ihrer Nachbarn aufhalten."
So lautet einer dieser Erzähler-Wegweiser. Neben Alex und Gerda Schweickert lernen wir des weiteren zwei gelangweilte Ehemänner kennen, die sich mit außerehelichen Blind Dates bei Laune halten wollen und damit in einer Schwulenbar ein wenig anecken. Oder eine Dramaturgin, die sich mal unters einfache Volk mischt und plötzlich in einer RTL-2-Familie landet, die so ziemlich jegliche Sozial- und Schulpolitik mit Hohn straft. Annja Kobe und ihr tiefgekühlter Vater – man kennt sie bereits aus Gröschners erstem Roman "Moskauer Eis" – haben ebenfalls ihren Auftritt. Genauso drei junge Mädchen, die wie ein upgedatetes Hexentrio eine Bande gründen wollen, dann aber doch fortwährend tatenlos auseinanderdriften. Deren schon etwas angeknittertes Pendant besteht aus ein paar alten Damen, die herrlich berlinernd und mit ihrem Hund Stalin umherziehen und für ihre Umgebung ein ähnliches Irritationspotenzial darstellen wie die Chaoten am 1. Mai.
"Hier wird nicht schlappgemacht. Ick würd vorschlagen, wir kippen den (Likör) runter und machen noch ’kleenen Spaziergang mit Stalin um den Kollwitzplatz zum Verdauen. - Von mir aus. Hoffentlich sind nicht so viele Chaoten unterwegs. - Wir werden die größten Chaoten sein. Diese Jugend ist so was von schlapp. Die können nichts, die wollen nichts außer Spaß, die sind satt bis zum Erbrechen und selbst zum Sexmachen zu träge. Wenn uns jemand blöd kommt, schicken wir Stalin vor, der geht mit großer Lust an die jungen Waden. Na sdorowije, auf gute Nachbarschaft. Und Ex. - Alles in Ordnung, oder soll ick oben noch einen Kaffee in die Maschine hauen? - Wir können aber auch unterwegs noch in ein Café einkehren. Irgendwie bin ick heute sehr unternehmungslustig. - Das ist weiß Gott nicht zu übersehen."
Die Damen möchten gerne was erleben. Erlebt wird in diesem Buch viel, zu viel, um es auch nur ansatzweise nachzuerzählen. Was zunächst noch unverbunden nebeneinander steht, erweist sich schließlich als komplex miteinander verstrickt. Beim Tanz in den Mai lösen sich einige der Rätsel auf, und fast alle Figuren finden zueinander, als hätte der Teufel seinen Pferdefuß im Spiel. Statt des Brockens muss für die Berliner allerdings der Mauerpark für die Hexennacht herhalten. Übers Feuer wird immerhin gesprungen, und ein paar Geister der (DDR-)Vergangenheit werden auch ausgetrieben, und wenn nicht vertrieben, so doch in der Gegenwart aufgenommen. "Was ich besitze, seh ich wie im Weiten", heißt es im "Faust", "und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten."
Ein bisschen beschreibt Goethe damit auch Annett Gröschners literarisches Prinzip – Gewissheiten werden hinters Licht geführt und lassen so ein unwirkliches Schattenspiel entstehen. Längst Verlorenes taucht plötzlich wieder auf. Gröschner changiert elegant zwischen magischem und hartem Realismus hin und her – manches scheint traumhaft, surreal, grotesk, anderes hingegen beim Gehen über den Boden der Tatsachen detailgenau notiert. Sie verleiht den verschiedenen Protagonisten und Kapiteln unterschiedliche Stimmungen; kann zwischen Tonarten wechseln und vor allem die Kaltschnäuzigkeit des Berliners und seiner Sprache wunderbar einfangen. Sie schlüpft in die leicht miefigen Ecken dieser Stadt, dahin, wo die Grenze zwischen verschiedenen Welten verläuft, wo man auch leicht einmal abstürzen kann, um dann in einer Spelunke zu landen, die gerade überfallen wird. Ihren urbanen Helden wird zugemutet, sich immer von Neuem aus ihren diversen Lebensverstrickungen zu befreien, um wenigstens ein bisschen Berliner Luft zu schnappen. Durchwurschteln, nannte man das einmal. Fast wünschte man sich, Gröschner hätte sich von ihren vielen Ideen nicht so treiben lassen, sondern wäre tiefer in bestimmte Situationen und Konstellationen eingestiegen. Dann aber wäre "Walpurgistag" ein anderes Buch geworden. Oder ein noch dickeres. 450 Seiten Episodenroman liefern nämlich schon ein ziemlich gewaltiges, leicht schmuddeliges Panorama einer Stadt, die auch nur in Imagefilmen wirklich sexy ist, ansonsten halt ein Moloch wie jede andere Metropole auch.
Annett Gröschner: "Walpurgistag" Roman DVA. München 2011. 445 Seiten. 21,99 Euro
Ein bisschen ähnelt der neue literarische Wurf der Wahlberlinerin Annett Gröschner dieser Versuchsanordnung, nur war ihre Idee schon ein bisschen früher entstanden – und nicht vom öffentlich-rechtlichen Ehrgeiz getrieben, ein politisch ausgewogenes Gesellschaftsbild zu malen. Vor knapp zehn Jahren rief Gröschner in einer Radiosendung Berliner dazu auf, ihr zu schreiben, was sie am 30. April erlebt haben. Aus den zugeschickten Berichten entstand nach und nach ein Episodenroman mit fast zwei Dutzend sehr kuriosen Figuren, die einen turbulenten "Walpurgistag" im Jahr 2002 zu überstehen haben. Und weil eben acht Stunden noch kein Tag sind, 24 Stunden aber schon, trägt sich der Geschichtenreigen zeitlich genau markiert von 0 Uhr bis 24 Uhr zu.
Annett Gröschner hat damit einen sprachlich fulminanten Großstadtroman vorgelegt, der – natürlich mit Seitenblick auf den wichtigsten aller Hauptstadt-Romane, "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin – mit einem Prolog am Alex beginnt.
"Der Alexanderplatz ist ein Kältepol. Nur Herumlaufen wärmt. Schon zehnmal habe ich den Weg vom Brunnen bis zur Weltzeituhr zurückgelegt. Ich weiß jetzt, wie spät es in Phnom Pen ist und welche Zeit die Armbanduhren der Moskauer anzeigen. Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen. Mit großer Geste die Planeten anzuhalten oder die Uhren um einen Tag vorzustellen. Vielleicht würde ich mich daran aufwärmen können. Den ganzen Winter über habe ich nicht so gefroren wie heute Nacht. Also wieder von vorn. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist ein Spiel."
Der da spricht ist ein Herumstreicher mit dem passenden Namen Alex. Ein Mann mit Ostvergangenheit, zudem wandelndes Lexikon und guter Geist, der fast zauberische Kräfte besitzt. Dieser Alex ist ein sanftmütiger Mephistopheles, der alle möglichen Fäden in Händen zu halten scheint und stets ausreichend informiert ist, zumindest weiß, wie er an Informationen kommen kann. Immer wieder wird er im Lauf des Buches geheimnisvoll auf- und abtauchen.
Vom Alexanderplatz führen nach diesem Vorspiel alle möglichen Schleichwege weiter hinein ins Dickicht der Stadt, in das wenig repräsentative Berlin, wo die Prekären und Hartzer ihr Dasein fristen. Jedes Kapitel wird, wieder eine Reverenz an Döblin, mit einer kurzen Zusammenfassung des Folgenden eröffnet:
"Gerda Schweickert kann nicht schlafen und beschriftet ihre Umzugskisten, in denen sich die Geister ihrer Nachbarn aufhalten."
So lautet einer dieser Erzähler-Wegweiser. Neben Alex und Gerda Schweickert lernen wir des weiteren zwei gelangweilte Ehemänner kennen, die sich mit außerehelichen Blind Dates bei Laune halten wollen und damit in einer Schwulenbar ein wenig anecken. Oder eine Dramaturgin, die sich mal unters einfache Volk mischt und plötzlich in einer RTL-2-Familie landet, die so ziemlich jegliche Sozial- und Schulpolitik mit Hohn straft. Annja Kobe und ihr tiefgekühlter Vater – man kennt sie bereits aus Gröschners erstem Roman "Moskauer Eis" – haben ebenfalls ihren Auftritt. Genauso drei junge Mädchen, die wie ein upgedatetes Hexentrio eine Bande gründen wollen, dann aber doch fortwährend tatenlos auseinanderdriften. Deren schon etwas angeknittertes Pendant besteht aus ein paar alten Damen, die herrlich berlinernd und mit ihrem Hund Stalin umherziehen und für ihre Umgebung ein ähnliches Irritationspotenzial darstellen wie die Chaoten am 1. Mai.
"Hier wird nicht schlappgemacht. Ick würd vorschlagen, wir kippen den (Likör) runter und machen noch ’kleenen Spaziergang mit Stalin um den Kollwitzplatz zum Verdauen. - Von mir aus. Hoffentlich sind nicht so viele Chaoten unterwegs. - Wir werden die größten Chaoten sein. Diese Jugend ist so was von schlapp. Die können nichts, die wollen nichts außer Spaß, die sind satt bis zum Erbrechen und selbst zum Sexmachen zu träge. Wenn uns jemand blöd kommt, schicken wir Stalin vor, der geht mit großer Lust an die jungen Waden. Na sdorowije, auf gute Nachbarschaft. Und Ex. - Alles in Ordnung, oder soll ick oben noch einen Kaffee in die Maschine hauen? - Wir können aber auch unterwegs noch in ein Café einkehren. Irgendwie bin ick heute sehr unternehmungslustig. - Das ist weiß Gott nicht zu übersehen."
Die Damen möchten gerne was erleben. Erlebt wird in diesem Buch viel, zu viel, um es auch nur ansatzweise nachzuerzählen. Was zunächst noch unverbunden nebeneinander steht, erweist sich schließlich als komplex miteinander verstrickt. Beim Tanz in den Mai lösen sich einige der Rätsel auf, und fast alle Figuren finden zueinander, als hätte der Teufel seinen Pferdefuß im Spiel. Statt des Brockens muss für die Berliner allerdings der Mauerpark für die Hexennacht herhalten. Übers Feuer wird immerhin gesprungen, und ein paar Geister der (DDR-)Vergangenheit werden auch ausgetrieben, und wenn nicht vertrieben, so doch in der Gegenwart aufgenommen. "Was ich besitze, seh ich wie im Weiten", heißt es im "Faust", "und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten."
Ein bisschen beschreibt Goethe damit auch Annett Gröschners literarisches Prinzip – Gewissheiten werden hinters Licht geführt und lassen so ein unwirkliches Schattenspiel entstehen. Längst Verlorenes taucht plötzlich wieder auf. Gröschner changiert elegant zwischen magischem und hartem Realismus hin und her – manches scheint traumhaft, surreal, grotesk, anderes hingegen beim Gehen über den Boden der Tatsachen detailgenau notiert. Sie verleiht den verschiedenen Protagonisten und Kapiteln unterschiedliche Stimmungen; kann zwischen Tonarten wechseln und vor allem die Kaltschnäuzigkeit des Berliners und seiner Sprache wunderbar einfangen. Sie schlüpft in die leicht miefigen Ecken dieser Stadt, dahin, wo die Grenze zwischen verschiedenen Welten verläuft, wo man auch leicht einmal abstürzen kann, um dann in einer Spelunke zu landen, die gerade überfallen wird. Ihren urbanen Helden wird zugemutet, sich immer von Neuem aus ihren diversen Lebensverstrickungen zu befreien, um wenigstens ein bisschen Berliner Luft zu schnappen. Durchwurschteln, nannte man das einmal. Fast wünschte man sich, Gröschner hätte sich von ihren vielen Ideen nicht so treiben lassen, sondern wäre tiefer in bestimmte Situationen und Konstellationen eingestiegen. Dann aber wäre "Walpurgistag" ein anderes Buch geworden. Oder ein noch dickeres. 450 Seiten Episodenroman liefern nämlich schon ein ziemlich gewaltiges, leicht schmuddeliges Panorama einer Stadt, die auch nur in Imagefilmen wirklich sexy ist, ansonsten halt ein Moloch wie jede andere Metropole auch.
Annett Gröschner: "Walpurgistag" Roman DVA. München 2011. 445 Seiten. 21,99 Euro