Der Friedhof am Meer
Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden,
scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden.
Gerechter Mittag überflammt es nun.
Das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
O, die Belohnung, nach dem langen Denken
ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!
Dies ist der Beginn eines der berühmtesten Gedichte von Paul Valéry, übersetzt von Rainer Maria Rilke, und hier ist alles enthalten, was diesen repräsentativen Schriftsteller ausmacht: die Verbindung von Gefühl und Verstand, von Traum und Wissenschaft. Darum hat dieser Dichter zeit seines Lebens gerungen, aber es gehört zu den großen Geheimnissen seines 74-jährigen Lebens, dass er nur in zwei kurzen Phasen überhaupt Gedichte geschrieben hat: einmal als knapp Zwanzigjähriger, das andere Mal während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem rauschhaften Schub nach einer fast zwanzigjährigen Pause. Geheimnisse gibt es viele im Leben von Paul Valéry - es sind vor allem innere Geheimnisse, denen man kaum auf die Spur kommt. Denis Bertholet hat in seiner umfangreichen Biografie nun sämtliche Zeugnisse zusammengetragen, die es über das äußere und das innere Leben von Valéry gibt. 1871 als Sohn eines Zollbeamten in der südfranzösischen Küstenstadt Sète geboren, begeistert sich Valéry als Gymnasiast für die Romane Victor Hugos und für nächtlich-leuchtende Vorstellungen vom Mittelalter, er selbst nennt es "gotische Ekstase". Doch gleichzeitig beschäftigt er sich mit Architektur und Malerei und will wissen, wie etwas gemacht ist. Es sind verschiedenste Tätigkeiten, denen er nachgeht, und nach dem Abitur steht er vor der Frage, was er damit anfangen soll. Hier taucht eines der Leitmotive in Denis Bertholets Biografie auf, das auch in späteren Schilderungen immer wieder aufgenommen werden wird:
Was ihm fehlt, was er sucht und vielleicht in seinen Konturen erahnt, ist eine Denkweise, die imstande wäre, alle anderen zu umfassen, zu erklären und zu legitimieren und den auseinanderstrebenden Disziplinen, in denen er sich umtut, den inneren Zusammenhalt zu geben, der ihnen abgeht. Seine innere Anspannung ist enorm. Sein Leben zerfällt in unvereinbare Pole, die weder gesellschaftlich noch geistig zusammenpassen. Das außerordentliche Kapital an Sensibilität und Intelligenz, das er erworben hat, bleibt zur Stunde ohne klare Zweckbindung. Zwar fühlt er sich nicht gezwungen, es einer sozial anerkannten Verwendung zuzuführen: Sein Bruder kommt für seinen Lebensunterhalt auf, und er selbst verspürt keinerlei Wunsch nach Erfolg und Prestige. Aber es fehlt ihm eine Mitte, ein innerer Ort, an dem alle seine Tätigkeiten sich verbinden, sich ergänzen, sich gegenseitig erhellen. Statt dessen zerreißen ihn unkoordinierte Regungen und versetzen ihn in einen Zustand ständiger nervöser Spannung.
Valéry schreibt Gedichte, die sich von ungestüm romantischen Tönen herleiten, aber gleichzeitig betreibt er architektonische Studien und interessiert sich für die "reine Konstruktion". Das Methodisch-Wissenschaftliche und das Lyrisch-Überschwängliche stehen nebeneinander. Während er seinen einjährigen Militärdienst ableisten muss, schreibt er:
Offen gestanden, ich glaube mehr denn je, dass ich mehrere bin!
In Montpellier zieht er sich sehr gern in den Botanischen Garten zurück und stößt dort in einer halb unter Buschwerk vergrabenen Vertiefung auf eine Marmorplatte mit der Aufschrift "Placandis Narcissae Manibus", "Den zu besänftigenden Manen Narcissas". Dieser Name, Narcissa, elektrisiert ihn, es wird ein Thema, das er in einem seiner ersten großen Gedichte, "Narziss spricht", bearbeitet und damit seine eigene, spezifische Narziss-Problematik aufgreift. An dieser Stelle im Botanischen Garten soll der englische Dichter Edward Young in einer Vollmondnacht 150 Jahre vorher seine sechzehnjährig verstorbene Tochter Narcissa bestattet haben, und das leere Grab, das dunkel Romantische des Geschehens lässt Valéry immer wieder diese Nähe suchen. Mit derselben Inbrunst widmet er sich aber auch den exakten Wissenschaften, vor allem der Mathematik, er gewöhnt sich an, allem scheinbar Offensichtlichen zu misstrauen. An der Wand seines Zimmer steht auf Griechisch zu lesen: "Misstraue unaufhörlich." Valéry stößt auf den Symbolisten Joris-Karl Huysmans und dessen Roman "Gegen den Strich" mit dem Helden des Esseintes, er identifiziert sich mit den Künstlerneurosen dieser Figur, versucht sich, wie diese an subtilen Reizen zu berauschen. Er ist überreizt, er ist jung, und urplötzlich kommt es in einer Straße Montpelliers zu einer Schlüsselszene: Er begegnet einer Dame in einem bestimmten Kleid, und das blendet ihn.
Vielleicht besaß sie die Silhouette, ging von ihr das Licht aus, die der junge Soldat mit einem Wunschtraum in Verbindung brachte? Das flüchtige Bild kehrt wieder, setzt sich fest. Es wird ihn schließlich überallhin begleiten und sein Leben erschüttern.
Valéry wird mit dieser Dame noch mehrfach begegnen und nach ihr Ausschau halten, aber nie ein Wort mit ihr sprechen. Sie ist nur als "Madame R." bekannt und wurde von Valéry als großes Symbol immer wieder aufgerufen. Und als er dann auf die Musik Richard Wagners stößt, ist es endgültig um ihn geschehen. Wagner verkörpert das Ideal, er setzt alles in Eins, ein unendlicher Rausch, der die Welt der Korrespondenzen, von der Baudelaire und Mallarmé träumten und die Valéry begonnen hat, mitzuträumen, zur formalen Perfektion führt. Valéry fürchtet, dass ihn diese Musik dahin bringen werde, nicht mehr zu schreiben - und diesem Motiv, mit dem Schreiben aufzuhören aus maßloser Liebe zur Literatur, gewinnt er in der Folge immer neue Gedankenbilder ab. Er befindet sich, so schreibt er in dieser Zeit, in einer "grausamen Ungeduld des Nichts", und einmal wünscht er sich, das Leben solle nur eine Stunde währen - und zwar deshalb, um es schneller hinter sich gebracht zu haben, ohne etwas davon zu verlieren. Bertholet erklärt diesen Wunsch einprägsam:
Besser, das Konzentrat, die Quintessenz eines Lebens nur einen kurzen Augenblick zu erreichen und dann zu sterben, als sich jahrzehntelang in unheilbarer Bedeutungslosigkeit dahinzuschleppen. Schreiben, ohne auf die Höhe des Traums der Literatur zu gelangen, ist nicht mehr wert, als leben, ohne das Mark des Lebens zu erfassen. Das Bild des Diamanten, das in der Korrespondenz dieser Epoche häufig auftaucht, veranschaulicht den universellen und absoluten Anspruch Valérys. Ein Vers, ein Objekt, ein Werk müssen selten, konzentriert, kristallin sein. Sie müssen in sich das Abbild der Totalität des Bewusstseins und der Welt bergen.
Auf einem Bankett der Universität Montpellier lernt Valéry zufällig Pierre Louis kennen, einen fast gleichaltrigen Literaten aus reicher Familie, der in Paris wohnt und ihn bald mit André Gide zusammenbringen wird. Die beiden werden seine Lebensfreunde, und durch sie bekommt er Kontakt zur Pariser Literatenwelt, zu der damals in vollster Blüte stehenden Zeitschriftenszene. Louis stellt die Verbindung zum von Valéry maßlos bewunderten Lyriker Stéphane Mallarmé her, zeigt diesem Valérys Gedichte und gründet sogar eine eigene edel und kostbar aufgemachte Literaturzeitschrift, die in elf Nummern erscheint und durch die der Name Valérys in engeren Kreisen in Paris bereits wahrgenommen werden wird: La Conque, "Das Muschelhorn". Valéry fühlt sich immer noch "unruhig wie Quecksilber", wie er einmal schreibt, er ist dauererhitzt und dauererregt, von künstlerischen Räuschen, von starker exakter Wissbegier und von der Vision jener Dame im Kleid. Die künstlerische Entgrenzung und die Suche nach der exakten Formel, nach dem Wissen um die Konstruktion, die Gier nach Erkenntnis laufen parallel. Bevor er nach Paris abreist, kommt es zu einer charakteristischen Konfrontation seiner verschiedenen Ichs:
Als er durch die Straße geht, in der er nur allzu oft einem bestimmten Sonnenschirm und einem bestimmten Kleid auflauerte, erblickt er sie plötzlich. In dem Augenblick, da ihn der Zauber von Neuem packt, tritt auch schon das Gegenmittel in Aktion: Er sieht sich selbst, wie er die Erscheinung sieht; er blickt auf seinen Blick, dringt in seine Wunde ein. Das Experiment ist grausam, aber er weiß jetzt, dass es durchführbar ist und erfolgreich sein kann. Indem er die Struktur des Ereignisses wahrnahm, hat er das Ereignis aufgehoben. Er ist verwirrt, bestürzt. Doch was in ihm arbeitet, das ist nicht mehr das Bild von Madame R. Es ist das Bewusstsein von diesem Bild und die Grausamkeit des Akts der Klarsicht, die er sich aufzwingt. Der Schrecken ist vorüber.
Doch nicht für immer. Das Bild der Unerreichbarkeit, das Bild jener Madame R. in ihrem Kleid taucht noch ein paar Mal auf und wird umgewandelt zu einem privaten Mythos. Die entscheidende Umkehr findet aber statt durch ein Ereignis, das in die Literaturgeschichte als die "Nacht von Genua" eingegangen ist. Valéry ist zu seiner Familie mütterlicherseits nach Genua gereist, und in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1892 erlebt er in seinem Zimmer, das einer Mönchszelle ähnelt und ein kleines Fenster hat, durch das man nur den Himmel sehen kann, ein starkes Gewitter. Und dieses Gewitter aktualisiert seinen inneren Zustand, er hat dieses Erlebnis danach mehrfach beschrieben. Seine Liebespassion, seine exaltierte Religiosität, seine Ambitionen und seine Leiden - alles befindet sich in demselben Sturm. Und alles zerbirst plötzlich in einer großen Explosion.
Er ermisst die Macht des Absurden und der Einbildungskraft, vergegenwärtigt sich das Ausmaß an Unheil, das sie seinen Empfindungen und seinen Nerven zugefügt haben. Literatur, Gott, Frau: Die Vorstellungen, die er sich selbst schuf, haben ihn verschlungen. Seine Idole haben ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Die geistige Klarheit, die er stets in vollem Umfang zu bewahren suchte, hätte sich fast überwältigen, samt Verstand und Zukunft in die Tiefe reißen lassen. Valéry ist sich bewusst, dass er komplex, widersprüchlich ist; um zu überleben, muss er zu einer Einheit zurückfinden, die Teile, aus denen er besteht, einer einzigen Kontrollinstanz unterordnen. "Dies alles brachte mich dazu, alle Idole zu ächten. Ich opferte sie alle jenem einen, das es zu erschaffen galt, um ihm die anderen zu unterwerfen: dem Idol des Intellekts.
Dieses Erlebnis führt tatsächlich zu einem Wendepunkt in Valérys Leben. Er beginnt, jeden Morgen seine Gedanken in ein Heft zu schreiben, keine Gedichte mehr, sondern Gedanken - es ist der Beginn jener später berühmt gewordenen "Cahiers", der "Hefte", die in vielen einzelnen Bänden erst lange nach seinem Tod ediert wurden, nach einem großen Denk- und Weltmodell suchen und programmatisch unabgeschlossen bleiben müssen. Jahrzehntelang arbeitet Valéry jeden Morgen diszipliniert an diesen philosophisch-literarischen Gedankensplittern, die sich erst allmählich zu konzentrischen Kreisen ordnen. Als er nach Paris übersiedelt, sucht er zwar den Kontakt zu literarischen Kreisen und schließt auch Freundschaft mit dem bewunderten Stéphane Mallarmé - doch er verstummt als Dichter. Abseits der Öffentlichkeit entstehen dafür die frühmorgendlichen Eintragungen in die Cahiers. Nach langer Unsicherheit - sein Bruder, der es in Montpellier bis zum hoch angesehen Jura-Ordinarius bringt, unterstützt ihn dabei immer finanziell - gelingt es ihm, eine Bürokratenstelle im Kriegsministerium zu bekommen und unabhängig zu werden. Einige Zeit später bekommt er einen idealen Posten als Privatsekretär bei einem Finanzmagnaten, und er heiratet durch Vermittlung Mallarmés Jeannie, eine Nichte der Malerin Berthe Morisot aus dem Clan der Künstlerfamilie Manet. Fast zwanzig Jahre lang schreibt Valéry keine Gedichte mehr, aber er bleibt präsent in den literarischen Zirkeln und ist einer der engsten Freunde von André Gide. Im Jahr 1912 wird das Flaggschiff der französischen Moderne, die Zeitschrift "Nouvelle Revue Française" gegründet und der Verleger Gallimard tritt auf den Plan. André Gide ist Mitherausgeber und bearbeitet Valéry, seine frühen Gedichte hier neu herauszubringen. Als dann der Erste Weltkrieg beginnt, forciert das in einem merkwürdig affektiven Vorgang Valérys erneute Beschäftigung mit Gedichten: Er überarbeitet nicht nur seine alten, sondern er beginnt neue zu schreiben. Daraus wird langsam der Zyklus "Die junge Parze", der eine antike Schicksalsgöttin in den Mittelpunkt stellt.
Valéry ist zweiundvierzig Jahre alt. Seit er aufhörte, Verse zu schreiben, hat er gearbeitet und sich geändert. Die ungeheure Mühsal der Cahiers war keine Parenthese, die sich jetzt schließen ließe. Im Gegenteil: Aus diesem Kapital nähren sich die jetzt entstehenden Verse. Sie sollen fühlbar machen, was der Geist aus sich heraus begriffen hat; ihre Musik, ihre emotionale Substanz, die klangvolle Sinnlichkeit der Wörter und Bilder werden der von Valéry geschaffenen weiblichen Gestalt Stimme und Körper geben, der geheimnisvollen Arbeit seines auf sich selbst zurückwendenden Bewusstseins Gegenwart verleihen. Das Gedicht muss sich seinem paradoxen Befehl beugen: Abstraktionen durch Bilder aufzusprechen, geistige Mechanismen in Musik und Rhythmus zu übersetzen.
"Die junge Parze" hat einen längst verschüttet geglaubten Quell wieder freigelegt, und nach dem Ersten Weltkrieg erlebt Valéry eine unvergleichliche, rauschhafte, lyrische Schaffensphase, in der nicht nur der berühmte "Friedhof am Meer" entsteht, sondern etliche weitere zwischen Wissenschaft und Poesie changierende "Zaubergedichte", wie der Zyklus "Charmes" auf deutsch heißt. Bald aber bricht diese lyrische Hochphase wieder ab, denn parallel dazu macht Valéry eine fulminante Karriere als Essayist und Kulturpolitiker. Er ist dabei vor allem ein ungewöhnlicher Vorläufer des Europagedankens, wird zu einem kulturellen Repräsentanten des Völkerbundes und zu einem gefeierten Vortragsredner in ganz Europa. Denis Bertholet arbeitet dabei sehr nachvollziehbar heraus, wie widersprüchlich Valérys politische Haltung ist: er verbindet ein aufklärerisches, rationales Engagement mit einem äußerst konservativen Habitus, steht der "Masse" und demzufolge auch der Demokratie als Staatsform äußerst skeptisch gegenüber, ist aber beileibe kein Nationalist. Mussolini, dem er persönlich mehrfach begegnet, ist ihm ein Gräuel. Valéry bewährt sich in der Zeit des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit den deutschen Besatzern als unbestechlicher Vertreter des Freiheitsgedankens. Einer seiner zentralen Begriffe ist der der "Antipolitik". Manche wollten in ihm sogar einen Vorläufer Sartres sehen, als Pionier des "engagierten Intellektuellen" - in gewisser Weise ist das richtig, aber letztlich bildet Valérys Grundlage immer die Ästhetik. Denis Bertholet zeigt, dass Valéry nur aus seinen Prägungen und seiner Zeit heraus verstanden werden kann, er ist, bei aller Gedankenklarheit, im Grunde ein Vollender des neunzehnten Jahrhunderts. Diese flüssig geschriebene Biografie zitiert viel, greift auf alle verfügbaren Quellen zurück und behält, bei aller Empathie, doch eine kritische Distanz zu seinem Gegenstand. Valérys Familienleben und seine außerehelichen Beziehungen treten genauso plastisch ins Bild wie seine Gedankenwelten. Am schönsten zeigt sich Valéry für Denis Bertholet im Bild der Muschel:
Seit je schmiegt sich sein Denken gleichsam mit Wonne den Dingen an, deren es sich bemächtigt. Einem geistigen Gegenstand gegenüber bemüht es sich in der Regel, ihn aufzusprengen, ihn von den an ihm haftenden vorgefertigten Ideen zu reinigen, ihn auf seine wesentlichen Bestandteile zurückzuführen. Einem materiellen Gegenstand gegenüber zieht es sich zusammen, konzentriert es sich, um sich dann nach und nach in einer Bewegung zu entfalten, die das Ganze der ihm anhaftenden, von ihm gewissermaßen freigesetzten Bedeutungen umhüllt, umgreift, entwickelt. Valéry entzieht der Muschel ihren Gehalt und wirft sie dann weg.
Denis Bertholet
Paul Valéry. Die Biographie
Insel Verlag, Berlin 2011. 660 Seiten, 39,90 Euro
Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden,
scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden.
Gerechter Mittag überflammt es nun.
Das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
O, die Belohnung, nach dem langen Denken
ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!
Dies ist der Beginn eines der berühmtesten Gedichte von Paul Valéry, übersetzt von Rainer Maria Rilke, und hier ist alles enthalten, was diesen repräsentativen Schriftsteller ausmacht: die Verbindung von Gefühl und Verstand, von Traum und Wissenschaft. Darum hat dieser Dichter zeit seines Lebens gerungen, aber es gehört zu den großen Geheimnissen seines 74-jährigen Lebens, dass er nur in zwei kurzen Phasen überhaupt Gedichte geschrieben hat: einmal als knapp Zwanzigjähriger, das andere Mal während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem rauschhaften Schub nach einer fast zwanzigjährigen Pause. Geheimnisse gibt es viele im Leben von Paul Valéry - es sind vor allem innere Geheimnisse, denen man kaum auf die Spur kommt. Denis Bertholet hat in seiner umfangreichen Biografie nun sämtliche Zeugnisse zusammengetragen, die es über das äußere und das innere Leben von Valéry gibt. 1871 als Sohn eines Zollbeamten in der südfranzösischen Küstenstadt Sète geboren, begeistert sich Valéry als Gymnasiast für die Romane Victor Hugos und für nächtlich-leuchtende Vorstellungen vom Mittelalter, er selbst nennt es "gotische Ekstase". Doch gleichzeitig beschäftigt er sich mit Architektur und Malerei und will wissen, wie etwas gemacht ist. Es sind verschiedenste Tätigkeiten, denen er nachgeht, und nach dem Abitur steht er vor der Frage, was er damit anfangen soll. Hier taucht eines der Leitmotive in Denis Bertholets Biografie auf, das auch in späteren Schilderungen immer wieder aufgenommen werden wird:
Was ihm fehlt, was er sucht und vielleicht in seinen Konturen erahnt, ist eine Denkweise, die imstande wäre, alle anderen zu umfassen, zu erklären und zu legitimieren und den auseinanderstrebenden Disziplinen, in denen er sich umtut, den inneren Zusammenhalt zu geben, der ihnen abgeht. Seine innere Anspannung ist enorm. Sein Leben zerfällt in unvereinbare Pole, die weder gesellschaftlich noch geistig zusammenpassen. Das außerordentliche Kapital an Sensibilität und Intelligenz, das er erworben hat, bleibt zur Stunde ohne klare Zweckbindung. Zwar fühlt er sich nicht gezwungen, es einer sozial anerkannten Verwendung zuzuführen: Sein Bruder kommt für seinen Lebensunterhalt auf, und er selbst verspürt keinerlei Wunsch nach Erfolg und Prestige. Aber es fehlt ihm eine Mitte, ein innerer Ort, an dem alle seine Tätigkeiten sich verbinden, sich ergänzen, sich gegenseitig erhellen. Statt dessen zerreißen ihn unkoordinierte Regungen und versetzen ihn in einen Zustand ständiger nervöser Spannung.
Valéry schreibt Gedichte, die sich von ungestüm romantischen Tönen herleiten, aber gleichzeitig betreibt er architektonische Studien und interessiert sich für die "reine Konstruktion". Das Methodisch-Wissenschaftliche und das Lyrisch-Überschwängliche stehen nebeneinander. Während er seinen einjährigen Militärdienst ableisten muss, schreibt er:
Offen gestanden, ich glaube mehr denn je, dass ich mehrere bin!
In Montpellier zieht er sich sehr gern in den Botanischen Garten zurück und stößt dort in einer halb unter Buschwerk vergrabenen Vertiefung auf eine Marmorplatte mit der Aufschrift "Placandis Narcissae Manibus", "Den zu besänftigenden Manen Narcissas". Dieser Name, Narcissa, elektrisiert ihn, es wird ein Thema, das er in einem seiner ersten großen Gedichte, "Narziss spricht", bearbeitet und damit seine eigene, spezifische Narziss-Problematik aufgreift. An dieser Stelle im Botanischen Garten soll der englische Dichter Edward Young in einer Vollmondnacht 150 Jahre vorher seine sechzehnjährig verstorbene Tochter Narcissa bestattet haben, und das leere Grab, das dunkel Romantische des Geschehens lässt Valéry immer wieder diese Nähe suchen. Mit derselben Inbrunst widmet er sich aber auch den exakten Wissenschaften, vor allem der Mathematik, er gewöhnt sich an, allem scheinbar Offensichtlichen zu misstrauen. An der Wand seines Zimmer steht auf Griechisch zu lesen: "Misstraue unaufhörlich." Valéry stößt auf den Symbolisten Joris-Karl Huysmans und dessen Roman "Gegen den Strich" mit dem Helden des Esseintes, er identifiziert sich mit den Künstlerneurosen dieser Figur, versucht sich, wie diese an subtilen Reizen zu berauschen. Er ist überreizt, er ist jung, und urplötzlich kommt es in einer Straße Montpelliers zu einer Schlüsselszene: Er begegnet einer Dame in einem bestimmten Kleid, und das blendet ihn.
Vielleicht besaß sie die Silhouette, ging von ihr das Licht aus, die der junge Soldat mit einem Wunschtraum in Verbindung brachte? Das flüchtige Bild kehrt wieder, setzt sich fest. Es wird ihn schließlich überallhin begleiten und sein Leben erschüttern.
Valéry wird mit dieser Dame noch mehrfach begegnen und nach ihr Ausschau halten, aber nie ein Wort mit ihr sprechen. Sie ist nur als "Madame R." bekannt und wurde von Valéry als großes Symbol immer wieder aufgerufen. Und als er dann auf die Musik Richard Wagners stößt, ist es endgültig um ihn geschehen. Wagner verkörpert das Ideal, er setzt alles in Eins, ein unendlicher Rausch, der die Welt der Korrespondenzen, von der Baudelaire und Mallarmé träumten und die Valéry begonnen hat, mitzuträumen, zur formalen Perfektion führt. Valéry fürchtet, dass ihn diese Musik dahin bringen werde, nicht mehr zu schreiben - und diesem Motiv, mit dem Schreiben aufzuhören aus maßloser Liebe zur Literatur, gewinnt er in der Folge immer neue Gedankenbilder ab. Er befindet sich, so schreibt er in dieser Zeit, in einer "grausamen Ungeduld des Nichts", und einmal wünscht er sich, das Leben solle nur eine Stunde währen - und zwar deshalb, um es schneller hinter sich gebracht zu haben, ohne etwas davon zu verlieren. Bertholet erklärt diesen Wunsch einprägsam:
Besser, das Konzentrat, die Quintessenz eines Lebens nur einen kurzen Augenblick zu erreichen und dann zu sterben, als sich jahrzehntelang in unheilbarer Bedeutungslosigkeit dahinzuschleppen. Schreiben, ohne auf die Höhe des Traums der Literatur zu gelangen, ist nicht mehr wert, als leben, ohne das Mark des Lebens zu erfassen. Das Bild des Diamanten, das in der Korrespondenz dieser Epoche häufig auftaucht, veranschaulicht den universellen und absoluten Anspruch Valérys. Ein Vers, ein Objekt, ein Werk müssen selten, konzentriert, kristallin sein. Sie müssen in sich das Abbild der Totalität des Bewusstseins und der Welt bergen.
Auf einem Bankett der Universität Montpellier lernt Valéry zufällig Pierre Louis kennen, einen fast gleichaltrigen Literaten aus reicher Familie, der in Paris wohnt und ihn bald mit André Gide zusammenbringen wird. Die beiden werden seine Lebensfreunde, und durch sie bekommt er Kontakt zur Pariser Literatenwelt, zu der damals in vollster Blüte stehenden Zeitschriftenszene. Louis stellt die Verbindung zum von Valéry maßlos bewunderten Lyriker Stéphane Mallarmé her, zeigt diesem Valérys Gedichte und gründet sogar eine eigene edel und kostbar aufgemachte Literaturzeitschrift, die in elf Nummern erscheint und durch die der Name Valérys in engeren Kreisen in Paris bereits wahrgenommen werden wird: La Conque, "Das Muschelhorn". Valéry fühlt sich immer noch "unruhig wie Quecksilber", wie er einmal schreibt, er ist dauererhitzt und dauererregt, von künstlerischen Räuschen, von starker exakter Wissbegier und von der Vision jener Dame im Kleid. Die künstlerische Entgrenzung und die Suche nach der exakten Formel, nach dem Wissen um die Konstruktion, die Gier nach Erkenntnis laufen parallel. Bevor er nach Paris abreist, kommt es zu einer charakteristischen Konfrontation seiner verschiedenen Ichs:
Als er durch die Straße geht, in der er nur allzu oft einem bestimmten Sonnenschirm und einem bestimmten Kleid auflauerte, erblickt er sie plötzlich. In dem Augenblick, da ihn der Zauber von Neuem packt, tritt auch schon das Gegenmittel in Aktion: Er sieht sich selbst, wie er die Erscheinung sieht; er blickt auf seinen Blick, dringt in seine Wunde ein. Das Experiment ist grausam, aber er weiß jetzt, dass es durchführbar ist und erfolgreich sein kann. Indem er die Struktur des Ereignisses wahrnahm, hat er das Ereignis aufgehoben. Er ist verwirrt, bestürzt. Doch was in ihm arbeitet, das ist nicht mehr das Bild von Madame R. Es ist das Bewusstsein von diesem Bild und die Grausamkeit des Akts der Klarsicht, die er sich aufzwingt. Der Schrecken ist vorüber.
Doch nicht für immer. Das Bild der Unerreichbarkeit, das Bild jener Madame R. in ihrem Kleid taucht noch ein paar Mal auf und wird umgewandelt zu einem privaten Mythos. Die entscheidende Umkehr findet aber statt durch ein Ereignis, das in die Literaturgeschichte als die "Nacht von Genua" eingegangen ist. Valéry ist zu seiner Familie mütterlicherseits nach Genua gereist, und in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1892 erlebt er in seinem Zimmer, das einer Mönchszelle ähnelt und ein kleines Fenster hat, durch das man nur den Himmel sehen kann, ein starkes Gewitter. Und dieses Gewitter aktualisiert seinen inneren Zustand, er hat dieses Erlebnis danach mehrfach beschrieben. Seine Liebespassion, seine exaltierte Religiosität, seine Ambitionen und seine Leiden - alles befindet sich in demselben Sturm. Und alles zerbirst plötzlich in einer großen Explosion.
Er ermisst die Macht des Absurden und der Einbildungskraft, vergegenwärtigt sich das Ausmaß an Unheil, das sie seinen Empfindungen und seinen Nerven zugefügt haben. Literatur, Gott, Frau: Die Vorstellungen, die er sich selbst schuf, haben ihn verschlungen. Seine Idole haben ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Die geistige Klarheit, die er stets in vollem Umfang zu bewahren suchte, hätte sich fast überwältigen, samt Verstand und Zukunft in die Tiefe reißen lassen. Valéry ist sich bewusst, dass er komplex, widersprüchlich ist; um zu überleben, muss er zu einer Einheit zurückfinden, die Teile, aus denen er besteht, einer einzigen Kontrollinstanz unterordnen. "Dies alles brachte mich dazu, alle Idole zu ächten. Ich opferte sie alle jenem einen, das es zu erschaffen galt, um ihm die anderen zu unterwerfen: dem Idol des Intellekts.
Dieses Erlebnis führt tatsächlich zu einem Wendepunkt in Valérys Leben. Er beginnt, jeden Morgen seine Gedanken in ein Heft zu schreiben, keine Gedichte mehr, sondern Gedanken - es ist der Beginn jener später berühmt gewordenen "Cahiers", der "Hefte", die in vielen einzelnen Bänden erst lange nach seinem Tod ediert wurden, nach einem großen Denk- und Weltmodell suchen und programmatisch unabgeschlossen bleiben müssen. Jahrzehntelang arbeitet Valéry jeden Morgen diszipliniert an diesen philosophisch-literarischen Gedankensplittern, die sich erst allmählich zu konzentrischen Kreisen ordnen. Als er nach Paris übersiedelt, sucht er zwar den Kontakt zu literarischen Kreisen und schließt auch Freundschaft mit dem bewunderten Stéphane Mallarmé - doch er verstummt als Dichter. Abseits der Öffentlichkeit entstehen dafür die frühmorgendlichen Eintragungen in die Cahiers. Nach langer Unsicherheit - sein Bruder, der es in Montpellier bis zum hoch angesehen Jura-Ordinarius bringt, unterstützt ihn dabei immer finanziell - gelingt es ihm, eine Bürokratenstelle im Kriegsministerium zu bekommen und unabhängig zu werden. Einige Zeit später bekommt er einen idealen Posten als Privatsekretär bei einem Finanzmagnaten, und er heiratet durch Vermittlung Mallarmés Jeannie, eine Nichte der Malerin Berthe Morisot aus dem Clan der Künstlerfamilie Manet. Fast zwanzig Jahre lang schreibt Valéry keine Gedichte mehr, aber er bleibt präsent in den literarischen Zirkeln und ist einer der engsten Freunde von André Gide. Im Jahr 1912 wird das Flaggschiff der französischen Moderne, die Zeitschrift "Nouvelle Revue Française" gegründet und der Verleger Gallimard tritt auf den Plan. André Gide ist Mitherausgeber und bearbeitet Valéry, seine frühen Gedichte hier neu herauszubringen. Als dann der Erste Weltkrieg beginnt, forciert das in einem merkwürdig affektiven Vorgang Valérys erneute Beschäftigung mit Gedichten: Er überarbeitet nicht nur seine alten, sondern er beginnt neue zu schreiben. Daraus wird langsam der Zyklus "Die junge Parze", der eine antike Schicksalsgöttin in den Mittelpunkt stellt.
Valéry ist zweiundvierzig Jahre alt. Seit er aufhörte, Verse zu schreiben, hat er gearbeitet und sich geändert. Die ungeheure Mühsal der Cahiers war keine Parenthese, die sich jetzt schließen ließe. Im Gegenteil: Aus diesem Kapital nähren sich die jetzt entstehenden Verse. Sie sollen fühlbar machen, was der Geist aus sich heraus begriffen hat; ihre Musik, ihre emotionale Substanz, die klangvolle Sinnlichkeit der Wörter und Bilder werden der von Valéry geschaffenen weiblichen Gestalt Stimme und Körper geben, der geheimnisvollen Arbeit seines auf sich selbst zurückwendenden Bewusstseins Gegenwart verleihen. Das Gedicht muss sich seinem paradoxen Befehl beugen: Abstraktionen durch Bilder aufzusprechen, geistige Mechanismen in Musik und Rhythmus zu übersetzen.
"Die junge Parze" hat einen längst verschüttet geglaubten Quell wieder freigelegt, und nach dem Ersten Weltkrieg erlebt Valéry eine unvergleichliche, rauschhafte, lyrische Schaffensphase, in der nicht nur der berühmte "Friedhof am Meer" entsteht, sondern etliche weitere zwischen Wissenschaft und Poesie changierende "Zaubergedichte", wie der Zyklus "Charmes" auf deutsch heißt. Bald aber bricht diese lyrische Hochphase wieder ab, denn parallel dazu macht Valéry eine fulminante Karriere als Essayist und Kulturpolitiker. Er ist dabei vor allem ein ungewöhnlicher Vorläufer des Europagedankens, wird zu einem kulturellen Repräsentanten des Völkerbundes und zu einem gefeierten Vortragsredner in ganz Europa. Denis Bertholet arbeitet dabei sehr nachvollziehbar heraus, wie widersprüchlich Valérys politische Haltung ist: er verbindet ein aufklärerisches, rationales Engagement mit einem äußerst konservativen Habitus, steht der "Masse" und demzufolge auch der Demokratie als Staatsform äußerst skeptisch gegenüber, ist aber beileibe kein Nationalist. Mussolini, dem er persönlich mehrfach begegnet, ist ihm ein Gräuel. Valéry bewährt sich in der Zeit des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit den deutschen Besatzern als unbestechlicher Vertreter des Freiheitsgedankens. Einer seiner zentralen Begriffe ist der der "Antipolitik". Manche wollten in ihm sogar einen Vorläufer Sartres sehen, als Pionier des "engagierten Intellektuellen" - in gewisser Weise ist das richtig, aber letztlich bildet Valérys Grundlage immer die Ästhetik. Denis Bertholet zeigt, dass Valéry nur aus seinen Prägungen und seiner Zeit heraus verstanden werden kann, er ist, bei aller Gedankenklarheit, im Grunde ein Vollender des neunzehnten Jahrhunderts. Diese flüssig geschriebene Biografie zitiert viel, greift auf alle verfügbaren Quellen zurück und behält, bei aller Empathie, doch eine kritische Distanz zu seinem Gegenstand. Valérys Familienleben und seine außerehelichen Beziehungen treten genauso plastisch ins Bild wie seine Gedankenwelten. Am schönsten zeigt sich Valéry für Denis Bertholet im Bild der Muschel:
Seit je schmiegt sich sein Denken gleichsam mit Wonne den Dingen an, deren es sich bemächtigt. Einem geistigen Gegenstand gegenüber bemüht es sich in der Regel, ihn aufzusprengen, ihn von den an ihm haftenden vorgefertigten Ideen zu reinigen, ihn auf seine wesentlichen Bestandteile zurückzuführen. Einem materiellen Gegenstand gegenüber zieht es sich zusammen, konzentriert es sich, um sich dann nach und nach in einer Bewegung zu entfalten, die das Ganze der ihm anhaftenden, von ihm gewissermaßen freigesetzten Bedeutungen umhüllt, umgreift, entwickelt. Valéry entzieht der Muschel ihren Gehalt und wirft sie dann weg.
Denis Bertholet
Paul Valéry. Die Biographie
Insel Verlag, Berlin 2011. 660 Seiten, 39,90 Euro