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"Er spiegelt den Menschen in der Natur"

Der wichtigste Literaturpreis in der spanischsprachigen Welt, der Cervantes-Preis, geht in diesem Jahr an José Emilio Pacheco, der als der bedeutendste lebende Dichter Mexikos gilt. Hierzulande ist er allerdings wenig bekannt.

Literaturkritiker Paul Ingendaay im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Die Dotierung der renommierten Literaturpreise ist ja sehr unterschiedlich. Für den Literaturnobelpreis gibt es zum Beispiel umgerechnet 970.000 Euro. Wer den Booker Prize für den besten englischsprachigen Roman erhält, darf sich über etwa 54.000 Euro freuen, doch das französischsprachige Pendant, der Prix Goncourt, bringt dem Preisträger gerade einmal zehn Euro ein. Dieser Preis lässt allerdings die Verkaufszahlen zuverlässig in die Höhe schnellen. Der wichtigste Literaturpreis in der spanischsprachigen Welt, der Cervantes-Preis, ist mit 125.000 Euro einer der höchstdotierten und in diesem Jahr geht er wie gesagt an José Emilio Pacheco, der als der bedeutendste lebende Dichter Mexikos gilt. Aber Paul Ingendaay, man hört von Pacheco, er sei ein ungewöhnlich bescheidener Mensch!

    Paul Ingendaay: Ja, das ist eigentlich ein sehr schöner Zug an diesem Autor, dem man mal sagte, er sei doch der berühmteste Dichter seines Landes, in Mexiko eben, und er darauf antwortete, er sei noch nicht mal der berühmteste Dichter seines Stadtviertels, denn dort wohnt auch der Argentinier Juan Gelman, der vor ihm den Cervantes-Preis erhalten hat. Also eine sehr bescheidene Art des Auftretens bei diesem Mann.

    Schäfer-Noske: Bekannt geworden ist Pacheco vor allem mit Naturlyrik. Was ist es denn für eine Natur, die er in seinen Gedichten beschreibt?

    Ingendaay: Zuerst mal wird man sagen, dass er ein modernistischer Lyriker ist, der auch amerikanische Lyrik ins Spanische übertragen hat, der die Tradition rauf und runter kennt. Sehr lakonisch, sehr klar, sehr intellektuell, introspektiv und ich würde sagen absolut nicht verträumt oder nicht ökoverträumt oder irgendwie sehnsüchtig, wie man sich das vorstellt bei Naturlyrik, sondern eigentlich, er spiegelt den Menschen in der Natur, wie das auch der große Ire ... tut, aber eben jetzt auf ganz andere, viel noch mal knappere Weise.

    Schäfer-Noske: Aber es ist keine Idylle, die er darstellt?

    Ingendaay: Überhaupt nicht, er ist sogar ein Pessimist und er sieht den Menschen eher sehr klein, und das drückt sich in seiner Lyrik aus. Die Ameise ist eines seiner zentralen Bilder, und er glaubt sogar – zumindest kann man das seinen Schriften entnehmen –, dass bei der Evolution des Menschen irgendetwas schiefgegangen ist.

    Schäfer-Noske: Pacheco hat auch Prosa geschrieben, zum Beispiel den Erzählband "Kämpfe in der Wüste" oder den Roman "Der Tod in der Ferne". Worum geht es denn in diesen Prosawerken?

    Ingendaay: Das sind sehr unterschiedliche Bücher. "Der Tod in der Ferne" ist eine Anlehnung an den Novo Romane wenn man so will, mit einem sehr ernsten, sehr deutschen Thema, nämlich dem Holocaust, das er verschränkt mit einem anderen, mit zwei anderen Erzählsträngen. Das wurde 1993 in Deutschland sehr enthusiastisch besprochen, aber weil es ein nicht ganz leichtes Buch ist, hat es wirklich wenig Leser gefunden. "Kämpfe in der Wüste" ist ein Kürzest-Prosaband, der sehr schön verdichtet etwas von dieser Lyrik wieder aufnimmt, dieser Skepsis des Dichters. Auch er wurde sehr gut besprochen, auch er hat sich naturgemäß, weil bei einem kleinen Verlag erschienen, nicht sehr verkauft.

    Schäfer-Noske: Was macht denn den Stil von Pacheco aus?

    Ingendaay: Ich glaube, es ist die Abbildung einer Denkbewegung, aber dabei so, also ich sag mal lyrisch, so klar und auch so evokativ, dass man sich fast ins Träumen begeben kann, wenn man ihn liest. Ich lese ihn wirklich sehr, sehr gern. In Mexiko, wir dürfen das nicht vergessen, gibt es viel mehr Lyrikleser als bei uns. Ich habe mal in einer alten Ausgabe, die ich habe, nachgeschaut, da war eine Auflage von 16.000 Stück, das ist ja für so was sensationell, das gäbe es bei uns gar nicht. Von daher, die große lyrische Tradition in Mexiko hat eben nach Octavio Paz auch diesen Dichter hervorgebracht.

    Schäfer-Noske: Wie kommt es denn, dass ein Autor, der jetzt den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt bekommt, bei uns so wenig bekannt ist?

    Ingendaay: Man muss seinen Übersetzer Tobias Burghardt loben, der viel für ihn getan hat, aber es bleibt dabei: Dichtung aus fremden Sprachen ist ja doch schwer zu konsumieren und auch noch schwerer zu verkaufen, deswegen wissen wir doch von vieler großartiger Lyrik überhaupt nichts. Einen Dank also an nicht nur den Nobelpreis, sondern an die anderen großen Preise, die es schaffen, uns aufmerksam zu machen auf das, was in anderen Weltgegenden geschrieben wird.

    Schäfer-Noske: Inwieweit lässt sich denn José Emilio Pacheco einer literarischen Strömung zuordnen?

    Ingendaay: Ich unterscheide eigentlich bei den Lateinamerikanern gern zwischen den Fabulisten, Romantikern, den Magiern und den kargen, spröden, in der Tradition von Juan Rulfo, dem großen mexikanischen Erzähler, der auch sehr kurz schrieb. Also gehört Pacheco wirklich zu den Kurzschreibenden, Knappen, auch zu den Bescheidenen, denn er sagt, nicht die Dichterpose ist das Entscheidende, sondern wir sind nichts, wir gehören in den Schatten, wir sind ein Kollektiv, wir sind murmelnde Stimmen – das ist die Lyrik. Und das könnte sie auch sein, wenn wir nur diesem Murmeln zuhören.

    Schäfer-Noske: Der Cervantes-Preis geht dieses Jahr an den mexikanischen Autor José Emilio Pacheco. Paul Ingendaay berichtete.